Anfänge
Nach der Enttäuschung, die die Bewegungen um den schließlich zum Islam übergetretenen "Pseudomessias" Shabtai Zvi (1626–1676)[] (Sabbatianismus) im 17. Jahrhundert und um seinen zum römischen Katholizismus übergetretenen Nachfolger Jakob Frank (1726–1791) im 18. Jahrhundert im Judentum hervorgerufen hatten, lassen sich nach Gershom Scholem (1897–1982) drei Wege unterscheiden, auf denen das mystische Gedankengut der Kabbala im Judentum weitergetragen werden konnte. Man konnte mit einigen orthodoxen Kabbalisten so tun, "als ob eigentlich gar nichts geschehen sei", man konnte versuchen, die Kabbala "wieder vom Markt in die stillen, halb klösterlichen Zellen einzelner Auserwählter zurückzuführen"1 oder man konnte – dies war der chassidische Weg – die kabbalistische Lehre transformieren und in den Dienst einer für das ganze jüdische Volk bestimmten Erweckungsbewegung stellen.
Der Chassidismus begann mit dem in Polen wirkenden Amulettschreiber (hebräisch: "Ba'al Schem", eine Bezeichnung für einen mit der magischen Kraft des Gottesnamens arbeitenden Wunderheiler) und visionären Prediger Israel ben Eliezer (ca. 1700–1760), dem schon früh von Legenden umwobenen sogenannten "Ba'al Schem Tov" (wörtlich "Herrn des guten Namens"), der in der jüdischen Welt unter dem Akronym "Bescht" bekannt geworden ist.2 Da die wichtigste biographische Quelle, die sogenannten "Lobpreisungen des Bescht" ("Schivche ha-Bescht"), erst seit 1815 gedruckt vorliegt, ist über sein Leben und die Anfänge der Bewegung wenig Gesichertes bekannt. Berichtet wird, dass Israel ben Eliezer schon als Kind seine Eltern verloren habe und von seinem Gemeindevorsteher in Obhut genommen worden sei; so sei er zunächst Helfer des Lehrers und dann Synagogendiener geworden und habe sich nachts mit dem Studium kabbalistischer Schriften beschäftigt. Offenbar ist Israel ben Eliezer von Jugend auf eine charismatische Persönlichkeit gewesen; seine magischen und wundertätigen Fähigkeiten praktizierte der "Bescht" freilich erst ab seiner Lebensmitte auch in der Öffentlichkeit.3 Nach einer Zeit der Wanderschaft, während der er sich u.a. als Arbeiter in einem Steinbruch in den Karpaten und als Inhaber einer Schenke verdingte und Galizien, Podolien und Wolhynien bereiste, ließ der "Bescht" sich 1740 in Miedžybož nieder, einer Ortschaft in Podolien (Südwestukraine), die zu seiner wichtigsten Wirkungsstätte und zum ersten Zentrum des Chassidismus wurde.
Israel ben Eliezer begann nun, einen Kreis von Schülern um sich zu sammeln, von denen freilich nicht alle später in jeder Hinsicht seine Lehre teilten. Seine Anhängerschaft bestand aus denjenigen, die mit der "herrschenden rabbinischen Religionsauffassung und Religionspraxis" unzufrieden waren, weil sie "von der sabbatianischen Frömmigkeit her den zu der Zeit wenig attraktiven und oft in Formalismus und Pilpulistik4 verfangenen Rabbinismus für steril" hielten oder "weil sich die Einzelnen in den großen und daher unübersichtlichen Gemeinden nicht mehr genügend geborgen fühlten."5
Nach dem Tod des "Bescht" waren es zwei seiner Schüler, die den weiteren Weg der chassidischen Bewegung bestimmten: Zum einen war das Jakob Josef Kohen von Polnoy/Polonoye (Ukraine, gest. 1782), der etwa zwanzig Jahre nach dem Tod des "Bescht" mit dem "Sefer Toledot Jakob Josef" die erste theoretische Schrift des Chassidismus vorlegte. Darin fasste er die mündlich vorgetragenen Lehren des verstorbenen Meisters zusammen – dieses Buch musste in der Erstedition 1780 bezeichnenderweise ohne die übliche Haskama, das rabbinische nihil obstat erscheinen. Zum anderen war es Dov Ber von Meseritz (1710–1773), der als "der große Maggid" bekannt geworden ist.6 Während Jakob Josef von Polnoy eher zurückgezogen lebte, übernahm "der große Maggid" die Führung der Bewegung, indem er einen Kreis von Schülern um sich sammelte, die als seine Sendlinge (schelikhim) die weit verstreut wohnenden Anhänger zu betreuen hatten. Aus der Schülerschaft Dov Bers rekrutierte sich schließlich die dritte Generation der chassidischen Lehrer, die jeweils ihre eigenen Dynastien begründeten, die für das gesamte 19. und 20. Jahrhundert im Chassidismus bestimmend blieben. Die Schüler des "großen Maggid" wandten sich in nördlicher Richtung nach Weißrussland und Litauen (Aaron der Große von Karlin (1736–1772) und sein Nachfolger Salomo von Karlin (1738–1792)), westlich nach Galizien (Elimelech von Lisensk, gest. 1786) sowie nach Zentralpolen und später in das mährische Nikolsburg, heute Mikulov in Tschechien (Samuel Horowitz (1726–1778)). Eine chassidische Gruppe unter Menachem Mendel von Witebsk (1730–1788) gelangte in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts auch nach Palästina.7 Diese Phase der Entwicklung des Chassidismus ist geprägt von einer raschen geographischen und auch numerischen Expansion, die sich bis in das 19. Jahrhundert hinein fortsetzte: häufig waren es ganze Gemeinden, die sich von den Abgesandten des "großen Maggid" überzeugen ließen und sich der chassidischen Bewegung anschlossen. Shmuel Ettinger hat auf die paradoxen Elemente in dieser Entwicklung aufmerksam gemacht: Einerseits vertrat Dov Ber von Meseritz einen eher autoritären Führungsstil, andererseits führte die von ihm ausgehende Dynamik zu einer Dezentralisierung und schließlich zur Aufsplitterung des Chassidismus in unterschiedliche miteinander konkurrierende Gruppen.8
Gemeinsam war allen chassidischen Gruppen ein Lebens- und Frömmigkeitsstil, der von Ausgelassenheit, ekstatischen Gebetspraktiken und anderen eigenen Bräuchen geprägt war. Während für die frühere Forschung die Gründe für das Entstehen des Chassidismus im Mittelpunkt standen, gilt das Interesse im Gefolge der Arbeiten Gershom Scholems denjenigen Wesenszügen des Chassidismus, die diese Erneuerungsbewegung mit früheren Erscheinungsformen der jüdischen Mystik verbindet. In diesem Sinne hat Moshe Idel gefordert, die historische und sozioökonomische Analyse der chassidischen Bewegung durch einen "panoramic approach" zu ersetzen, der die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Chassidismus (und der anderen mystischen Richtungen im Judentum) vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Spektrums von Quellen zu verstehen sucht. Nach Idel sind die chassidischen Lehren so als Neukonfigurationen älterer Texte deutbar, die von der mittelalterlichen Philosophie und der kabbalistischen Literatur im Kastilien des 13. Jahrhunderts über die Mystik des Rabbi Löw von Prag (1525–1609) (Maharal) bis zur Renaissance-Kabbala reichen:9 "Hasidism can be understood not so much as a reaction or solution to, but rather as a synthesis of diverse mystical elements and paradigms present in earlier types of Jewish mysticism."10 Diesem "holistischen" Ansatz stehen freilich Untersuchungen entgegen, die die unterschiedlichen Ausprägungen des Chassidismus in engen Zusammenhang mit ihrer jeweiligen lokalen Umwelt in Ost- und Südosteuropa stellen.
Die Ausbreitung der chassidischen Bewegung
Bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts war der Chassidismus von einer kleinen Sekte zu einer Hauptströmung des Judentums geworden, der die Mehrheit der Juden in der Ukraine, Galizien und Zentralpolen sowie große jüdische Gemeinschaften in Weißrußland, Litauen und Ungarn angehörten. Die Ausbreitung und Ausdifferenzierung der chassidischen Bewegung läßt sich einerseits vor dem Hintergrund der ökonomischen und politisch-sozialen Krise im polnischen Judentum der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts verstehen, das nach den aufeinanderfolgenden Teilungen Polens in unterschiedlichen Herrschaftsbereichen lebte und demnach unterschiedlichen – russischen, österreichisch-ungarischen und preußischen – Einflüssen ausgesetzt war.11
Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Russlandfeldzug Napoleons (1769–1821), der von einigen Chassidim als endzeitlicher Krieg von "Gog und Magog" interpretiert wurde, mit dem sie messianische Hoffnungen verbanden.12 Aufgrund der unterschiedlichen politischen Verhältnisse in den Siedlungsgebieten Osteuropas traten die Chassidim teilweise für, teilweise aber auch gegen Napoleon ein. Die hieraus resultierende Unsicherheit steht in Zusammenhang mit dem von Jacob Katz bereits im Hinblick auf die Jahrzehnte zuvor konstatierten Verfall der althergebrachten rabbinischen Autorität. Der sich aus diesem Verfall ergebende Niedergang der traditionellen Institutionen der jüdischen Gemeinde (Kehilla) führte dazu, dass die Kohäsionskräfte der alten hierarchisch gegliederten sozialen Ordnung schwächer wurden und ein sowohl für den Einzelnen wie für die Gemeinde fühlbares Vakuum entstand, in das die chassidischen Gruppen mit ihren Gebetsgemeinschaften (minjanim) und Lernkonventikeln eindringen konnten.13
Bereits nach dem Tod des "großen Maggid" im Jahre 1773 war in der dritten Generation der chassidischen Lehrer eine neue Sozialstruktur entstanden, die sich um die Beziehung zwischen dem "Rebben", dem "Zaddik", und seinen Nachfolgern kristallisierte. Aufgrund ihres persönlichen Charismas, das sie auf den "Bescht" zurückführten, beanspruchten die chassidischen Führungsgestalten nun Gefolgschaft und Loyalität. Es waren Jakob Josef Kohen von Polnoy14 und dann Elimelech von Lisensk, die die Lehre vom Zaddik als erste ausformulierten und den Zaddikismus sozial wie religiös verankerten.15 Nach der Lehre des "Bescht" war jeder Jude dazu aufgerufen, sich darum zu bemühen, in seinem spirituellen Leben die höchste Stufe zu erreichen. Diese Bemühung wurde nun auf das Verhältnis des Rebben (d.h. des Lehrers) zu seinen Anhängern übertragen, das schon terminologisch als paradox gelten kann. Galt nach traditionellem hebräischem Sprachgebrauch als "chassid", wer sich durch seine überdurchschnittliche Frömmigkeit aus der Masse hervorhob und als "zaddik" (d.h. "gerecht"), wer den für alle geltenden religionsgesetzlichen Regeln entsprach, so kehrte sich dieses Verhältnis nun um: Der Zaddik wurde zum überragenden "homo religiosus, der den Zugang zur göttlichen Gnade hat und diese den Seinen weitervermittelt".16 Die Eigenschaft, "chassid" zu sein, kam nun der Masse der einfachen "Gläubigen" zu, deren Selbstdefinition und Legitimation sowohl als Einzelne als auch als Gruppe sich aus der Beziehung zu "ihrem" Rebben ergab.17 "The Hasidic sect served as a framework for direct contact between the leader and his followers, and the communion with God inherent in the Zaddik's enthusiasm was transmitted to his followers and, in any case, was nourished by the group's being together."18 Der Zaddik wurde zum Kanal der göttlichen Segenszuwendungen, und der Chassid konnte der göttlichen Gaben in dem Maße teilhaftig werden, in dem er sich innerlich und äußerlich seinem Lehrer anschloss.19 Dabei beruhte die Beziehung zwischen dem Rebben und seinem Anhänger insofern auf Gegenseitigkeit, als der Meister von den Beiträgen seiner Chassiden lebte, von seinen Einkünften aber wiederum an Bedürftige weitergab. In diesem System kam den Begegnungen zwischen dem Rebben und seinen Chassidim – etwa anlässlich eines Besuchs an seinem "Hof" zu den jüdischen Feiertagen oder durch Reisen des Zaddik – besondere Bedeutung zu. Die religiöse Mittlerschaft blieb auch erhalten, als die Würde des Rebben erblich wurde und einige der dynastischen Höfe sich nach dem Vorbild des nach den Teilungen Polens verschwundenen polnischen Adels prunkvoll ausstatteten und ein zeremonielles Gepränge entwickelten. Allmählich nahmen die meisten chassidischen Dynastien die Namen der Heimatorte ihrer Gründer an: Es entstanden der "Gerer Chassidismus" nach dem in der Nähe von Warschau liegenden Städtchen Góra Kalwari (hebr. Gur, jidd. Ger), dem Heimatort von Rabbi Jizchak Meir Rothenberg Alter (ca. 1798–1866), der "Belzer Chassidismus" nach der galizischen Kleinstadt Belz, dem Heimatort von Rabbi Schalom Rokeach (1779–1855), der Wiznitzer Chassidismus nach dem westukrainischen Städtchen Wiznitz (Wyschnyzja) usw.
Eine besondere Rolle spielte der Chassidismus des Rabbi Nachman von Bratzlaw (1771–1810), eines Urenkels des "Bescht", der der asketischen Richtung des Chassidismus anhing und angesichts des immer stärker werdenden Zaddikismus angab, den ursprünglichen Chassidismus wiederherstellen zu wollen. Rabbi Nachman wurde vor allem durch seine Erzählungen und allegorischen Märchen bekannt, die Martin Buber (1878–1965) 1906 in einer freien, von der späteren Forschung freilich scharf kritisierten Nachdichtung veröffentlichte.20 Eine geheimnisumwitterte Palästinareise des Charismatikers soll aufgrund von Verwicklungen mit dem Orientfeldzug Napoleons abenteuerlich verlaufen sein. Martin Cunz deutet die Reise aufgrund einer Analyse der Reiseberichte als "hermeneutische Pantomime", bei der die einzelnen Fakten (oder gar die Faktizität der Reise selbst?) weniger Bedeutung gehabt hätten als die Verwandlung der Lehre.21 1802 ließ Rabbi Nachman sich in dem ukrainischen Städtchen Bratzlaw nieder. Acht Jahre später starb Nachman in Uman (Ukraine), ohne einen Erben zu hinterlassen – er wird seitdem von seinen Anhängern als einziger Zaddik verehrt, dessen baldige Wiederkunft man erhofft.
Als ähnlich herausragend kann der Lubawitscher Chassidismus gelten. Diese Dynastie trägt ihren Namen nach dem Wohnort des zweiten Rebben der Dynastie, der sich 1813 in der gleichnamigen westrussischen Stadt niederließ. Begründet wurde die Bewegung von Rabbi Schneur Zalman von Ljady (1745-1813), einem in den Norden entsandten Schüler des "großen Maggid". In der Auseinandersetzung mit seinen in der Nachbarschaft lebenden litauischen Gegnern entwickelte Rabbi Schneur Zalman in seiner 1797 erschienenen Schrift Tanja (aramäisch: "wir haben gelernt") ein philosophisch-esoterisches System, das die rationalen Elemente des traditionellen rabbinischen Judentums auf kabbalistischer Grundlage mit der Mystik des Chassidismus zu einer Synthese zusammenführte.22 Mit Blick auf diese Grundlagen und die Hochschätzung der Toragelehrsamkeit ist dieser Zweig des Chassidismus – nach dem Akronym der hebräischen Begriffe "Chochma" (Weisheit), "Bina" (Einsicht) und "Da'at" (Wissen) – auch als "Chabad"-Chassidismus bekannt geworden. In der klassischen Chabad-Frömmigkeit, die bereits am Ende des 19. Jahrhunderts eine Renaissance erlebte, gilt der Zaddik zwar als Autorität, dies allerdings "ohne die messianisch-mittlermäßigen Akzente und ohne den daraus sich ergebenden Personenkult."23 Es war dieser "rationale Chassidismus", der es den Lubawitscher Chassiden in ihrer Anfangszeit erlaubte, den Anschuldigungen und Verdächtigungen ihrer litauischen Opponenten entgegenzutreten.24
Die Gegner des Chassidismus (Mitnaggedim und Maskilim)
Die Repräsentanten des traditionellen Rabbinismus standen der chassidischen Bewegung von Anfang an kritisch gegenüber – dies vor allem, weil sie in ihr ein Fortwirken der sabbatianischen Theologie befürchteten und antinomistische Momente wahrnahmen. Auf der einen Seite stellten die Chassidim die überkommenen religionsgesetzlichen Normen und Rituale grundsätzlich nicht in Frage – auf der anderen Seite war es aber zu bestimmten Veränderungen der religiösen Praxis gekommen, vor allem im Hinblick auf die Gebetszeiten und den Wortlaut bestimmter Gebete. Die weitest reichende Modifikation der Halacha (der moralischen und religiösen Gebote und Verbote der jüdischen Tradition) betraf die Forderung, beim Schächten ein besonders geschärftes Messer zu verwenden.25 Bei diesen Veränderungen, die sich in soziologischer Betrachtung wohl auf das Bedürfnis der Chassidim zurückführen lassen, sich als distinkte soziale Gruppe zu etablieren, handelte es sich bei weitem nicht um revolutionäre Neuerungen noch um Verletzungen des religiösen Rechts im eigentlichen Sinne. Dennoch wurden diese Änderungen von den nicht-chassidischen Autoritäten als Gefahr für den jüdischen Zusammenhalt und die traditionsbestimmte jüdische Lebensweise empfunden.26 Die chassidische Lehre, dass der Zaddik die religiösen Pflichten stellvertretend für seine Anhänger erfüllen sollte, konnte daneben als Moment eines gefährlichen Antinomismus verstanden werden – eine Deutung, die durch die Beobachtung ergänzt wurde, dass manche Chassidim in halachischen und rituellen Belangen eine gewisse Unernsthaftigkeit an den Tag legten und den Branntwein zur Stimulierung ihrer religiösen Gefühle nicht verschmähten.27 Das Wahrheitsmoment dieser Kritik lag darin, dass die chassidische Lehre die Vorstellung kannte, man solle Gott nicht nur mit dem "guten Trieb", sondern auch mit dem "bösen Trieb" dienen.28 Was die Funktion des Rebben selbst anbelangt, so hatte bereits Jakob Josef von Polnoy die Lehre entwickelt, der Zaddik könne oder solle durch Introspektion oder gar durch eine gezielte soteriologische Gebotsübertretung ein Partikel Schuld in sich selbst finden, um dadurch dazu beizutragen, die Schuld der anderen zu entfernen und die Erlösung der Welt herbeizuführen.29 Vor diesem Hintergrund wurde manchen Zeitgenossen das durch Tanz und Gesang charakterisierte Gemeinschaftsleben der Chassidim verdächtig. Kritiker merkten auch an, dass die charismatischen Übungen in der chassidischen Männergesellschaft nur möglich waren, weil die Frauen für den materiellen Erhalt sorgten und dass der Chassidismus im Übrigen "nicht wenig zur Zementierung der schon längst unhaltbar gewordenen sozialen Verhältnisse in Osteuropa" beitrug.30 Zum bekanntesten zeitgenössischen Kritiker von Seiten der jüdischen Aufklärung (Haskalah) wurde Joseph Perl (1773–1839)[], der 1816 in deutscher Sprache ein satirisches Pamphlet unter dem Titel "Über das Wesen der Sekte Chassidim" veröffentlichte.31 Harsche Kritik am Chassidismus übte auch der jüdische Historiker Simon Dubnow (1860–1941)[], der in den Erzählungen des Rabbi Nachman von Brazlaw "nur Hervorbringungen einer Phantasie im Fieberwahn sehen konnte".32
In religiöser Hinsicht kam es an unterschiedlichen Orten zu halachischen Disputen und gemeindepolitischen Streitigkeiten. In Litauen traf der Chassidismus schließlich auf organisierten Widerstand, der sich um die rabbinische Gestalt des Rabbi Elijahu ben Salomon Zalman, den Wilnaer Gaon ("Talmudgelehrter") (1720–1797)[] kristallisierte. Abgesehen von den rituellen Neuerungen, die die Chassidim eingeführt hatten, stand der Gaon der mystisch-enthusiastischen Gebetspraxis und der Mittlerrolle des Rebben ablehnend gegenüber, da diese Hand in Hand mit der Unwissenheit seiner Anhänger gingen, die das traditionelle Studium des Talmuds und der rabbinischen Literatur aufgegeben hatten. Obwohl er selbst kabbalistische Neigungen hatte und in seiner Jugend einer asketischen Strömung des Chassidismus angehört hatte, wurde Rabbi Elijahu ben Salomon bis zu seinem Lebensende zur Leitfigur der antichassidischen Opposition in Litauen ("Mitnaggedim", wörtlich: "Gegner"). In der Auseinandersetzung mit dem Chabad-Chassidismus veranlasste er 1772 die Wilnaer Gemeinde, die konkurrierende Bewegung mit einem offiziellen Bann zu belegen, 1781 kam es zu einem zweiten Bann und der Verbrennung chassidischer Bücher. In den Jahren nach 1790 erreichte der Konflikt seinen Höhepunkt, als beide Seiten in ihrem erbitterten Kampf die staatliche Obrigkeit um Hilfe baten. Obwohl der Kampf zwischen Chassidim und Mitnaggedim in den folgenden Jahrzehnten und prinzipiell bis in das 20. Jahrhundert hinein fortgesetzt wurde, kam es gleichzeitig doch zu einer Annäherung zwischen beiden Gruppen, die aus zwei Gründen möglich wurde: Zum einen betonten die Chassidim immer wieder die grundsätzliche Geltungskraft des überlieferten Religionsgesetzes; dementsprechend ließen sie die antinomistischen Tendenzen in den Hintergrund treten und nahmen teilweise, allmählich und in unterschiedlichen Formen auch wieder die traditionellen Formen des Talmudlernens an.33 Zum anderen wurden beide religiöse Gruppen durch ihre gemeinsame Gegnerschaft der jüdischen Aufklärung gegenüber zusammengehalten.
Das 19. und 20. Jahrhundert
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts war es die sich auch in Osteuropa ausbreitende jüdische Aufklärung und die fortschreitende Säkularisierung, die der Ausbreitung des Chassidismus in der jüdischen Bevölkerung ein Ende setzte. "The very rise of the Haskalah served as evidence that Hasidism had become outmoded. Rather than a progressive force, it became a stumbling block on the road of development …"34 Nach den Jahren der Expansion nahmen die Chassidim nun eine eher passive Rolle ein und versuchten, ihren Lebensstil zu bewahren, indem sie sich den modernen Ideen der Aufklärung, des jüdischen Nationalismus und Sozialismus entgegenstellten. Das einzige innovative Element im Chassidismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Einführung von Methoden des Toralernens, die denen der litauischen Mitnaggedim ähnelten – ein Versuch, dem Vordringen der Haskalah auf aktive Weise Widerstand zu leisten.35 Die vehemente Ablehnung des säkular dominierten Zionismus, wie er von Theodor Herzl (1860–1904) propagiert worden war, brachte die unterschiedlichen chassidischen Gruppen zu Beginn des 20. Jahrhunderts dazu, die Kooperation mit den vormaligen litauischen Gegnern sowie der deutsch-jüdischen Neoorthodoxie zu suchen. 1912 kam es so im oberschlesischen Kattowitz unter maßgeblicher Beteiligung des Gerer Rebben R. Arjeh Löb ben Abraham Mordechai Alter (1866–1948)[] zur Gründung der antizionistisch-orthodoxen Weltorganisation "Agudat Israel"36 – ein Engagement, das dem Chassidismus Gershom Scholems Verdikt eingetragen hat, er sei "zu einem politischen Instrument reaktionärer Kräfte" abgesunken.37 Für die Gerer Chassidim sollte sich diese Aktivität nach dem Ersten Weltkrieg insofern als bedeutsam erweisen, als sie hier politische Erfahrungen sammeln konnten, die ihnen im wiederhergestellten polnischen Staat und im polnischen Parlament nützlich waren.
Der Erste Weltkrieg und die neuen geopolitischen Grenzen in den mitteleuropäischen Ländern hatten erhebliche Veränderungen für die unterschiedlichen chassidischen Gruppen zur Folge. Viele Chassidim mussten aus ihren Heimatregionen fliehen und ließen sich in den großen Städten nieder, in denen sie auch nach dem Krieg blieben. Dort waren sie freilich häufig von den Höfen ihrer Rebben abgeschnitten.
In den zwanziger Jahren kam es nach einigen Jahren dynastischer Wirren kleinerer chassidischer Gruppen im östlichen Ungarn unter der Führung von Rabbi Yoel Teitelbaum (1888–1979) zunächst in Satu Mare (jiddisch: Satmar, nördliches Siebenbürgen) zur Neugründung einer chassidischen Bewegung, die aufgrund ihres religiösen Extremismus, ihres organisatorischen Segregationismus (der Satmarer Chassidismus lehnt die Mitarbeit in der Agudat Israel ab) und ihres übersteigerten Antizionismus innerhalb des Chassidismus etwas isoliert dasteht.38
Die einschneidendste Veränderung brachte die russische Revolution mit sich. Rabbi Josef Jizchak Schneerson (1880–1950) von Lubawitsch, ein Gegner des Kommunismus, wurde 1927 verhaftet und wegen konterrevolutionärer Tätigkeit zum Tode verurteilt. Erst nach weltweiten Protesten wurde er freigelassen und durfte aus der Sowjetunion nach Lettland ausreisen. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges gelang es ihm, in die USA zu fliehen, wo er sich im New Yorker Stadtteil Crown Heights niederließ. 1948 gründeten die Lubawitscher Chassidim etwa acht Kilometer südöstlich von Tel Aviv die Ortschaft Kfar Chabad, die zahlreiche Bildungsinstitutionen beherbergt und von der aus die Chabad-Bewegung in Israel geleitet wird.
Während des Holocaust wurden die verbleibenden chassidischen Zentren in Osteuropa zerstört und die dort lebenden Chassidim ermordet.39 Die überlebenden Rebben wanderten nach dem Krieg nach Nordamerika (so die Satmarer und die Lubawitscher Chassidim) oder Palästina (so die Gerer, die Belzer und die Wiznitzer Chassidim) aus und gründeten ihre Höfe neu. Obwohl die meisten Chassidim dem Zionismus weiterhin ablehnend gegenüberstanden, kam es nun zur Gründung neuer chassidischer Zentren und Siedlungen in Bnei Brak (in der Nähe von Tel Aviv) und Kfar Chassidim. Nach der Staatsgründung Israels engagierten sich die chassidischen Höfe von Ger, Belz und Wiznitz, mit freilich immer wieder wechselnder Intensität, in der nun als politische Partei agierenden und parlamentarisch vertretenen Agudat-Israel-Bewegung. Dies hatte zur Folge, dass diese Gruppen teilweise ihre antizionistische Rhetorik abschwächten, während der von seinem neuen New Yorker Zentrum aus gelenkte Satmarer Chassidismus seinen antizionistischen Enthusiasmus beibehielt und im Laufe des 20. Jahrhunderts noch weiter verstärkte.40