Von "Protestrabbinern" und anderen Anti-Zionisten
Als im Frühling 1897 die Öffentlichkeit die Absicht Theodor Herzls (1860–1904)[] erfuhr, in München einen zionistischen Kongress abzuhalten, formierte sich eine breite Ablehnungsfront in der jüdischen Bevölkerung. Am 5. Juni 1897 wurde in den Münchner Neuesten Nachrichten eine kurze Notiz veröffentlicht, in der das zionistische Projekt als Gefährdung der Integration der Juden in die Mehrheitsgesellschaft bezeichnet und daher die Abhaltung eines Kongresses in der bayerischen Hauptstadt entschieden abgelehnt wurde.1
Wie sehr die Angst mitspielte, dass die Abhaltung des ersten zionistischen Kongresses als Demonstration einer separatistischen, nationaljüdischen Identität aufgefasst und somit die Errungenschaften der Emanzipation und Integration in Frage stellen würde, zeigte nicht nur die Äußerung eines führenden Mitglieds der jüdischen Gemeinde, der eine Verhinderung des geplanten Zionistenkongresses verlangte und die zionistische Bewegung bezichtigte, "Wasser auf antisemitische Mühlen zu liefern",2 sondern auch die Ausführungen eines unbekannten Münchener Juden, der in der Vorstandssitzung der Münchener Jüdischen Gemeinde im Juni 1897 davor warnte, "dass die antisemitische Bewegung durch diesen schlecht vorbereiteten, unzeitgemässen Kongress, der Elemente vereinigen soll, die sich unmöglich auf die Dauer vereinigen lassen … neue Nahrung bekommt".3
Interessant an dieser Haltung, die sicherlich typisch für einen Großteil der akkulturierten Juden der Zeit gewesen sein dürfte, war der Verweis auf einen externen Faktor – den Antisemitismus –, der als Argument gegen den Kongress und die zionistische Bewegung insgesamt ins Feld geführt wurde. Auch wenn man "manchen Bestrebungen der Zionisten zustimmen"4 konnte, so wollte man doch keinesfalls die eigene Existenz und die schwer errungene Stellung in der Gesellschaft gefährden. Was dem einen als Pragmatismus galt, musste dem anderen als Opportunismus erscheinen.
Nachdem der Vorstand der Münchener Israelitischen Kultusgemeinde Mitte Juni Herzl schriftlich unmissverständlich klar gemacht hatte, dass er die Abhaltung des Kongresses in München ablehne und verhindern wolle,5 sah sich der "Vater" des politischen Zionismus noch einer weiteren Ablehnungsfront gegenüber. Am 6. Juli 1897 veröffentlichte der Vorstand des Allgemeinen Rabbiner-Verbands in Deutschland eine Protestresolution gegen die zionistische Bewegung. Dabei wurde nicht nur auf die von den Juden religionsgesetzlich geforderte Loyalität gegenüber dem Staat, in dem sie wohnen, verwiesen, sondern auch der religiöse Messianismus angeführt, der im Widerspruch zum säkularen Konzept des politischen Zionismus stehe.6
Von nun an sollte der theologisch begründete Vorwurf, der politische Zionismus würde versuchen, mit dem Aufbau einer jüdischen Heimstätte der Ankunft des Messias und der damit verbundenen Wiedererrichtung eines jüdischen Gemeinwesens vorzugreifen, vor allem von den religiösen Gegnern des Zionismus als Grund für ihre kategorische Ablehnung angeführt werden. Ihrer Meinung nach schickten sich die Zionisten an, den Lauf der jüdischen Geschichte umzukehren. Anstelle der Erlösung durch göttliche Hand sollte eine durch den Mensch vermittelte treten. Die Diaspora mit all ihren negativen Folgen für die Juden war ein Werk Gottes. Wer, wie die Zionisten, versuchte, diesen Umstand zu beseitigen, handelte gegen den göttlichen Willen und beging somit Blasphemie.
Wenn sich die nationaljüdische Bewegung im internationalen Kontext durch die aktive Beteiligung von Juden aus aller Welt etablierte – am 1. Kongress, der schließlich in Basel stattfand, nahmen Delegierte aus immerhin 14 verschiedenen Staaten teil –, so galt dies nicht minder für ihre Gegner. Schon kurz nach der Resolution der deutschen "Protestrabbiner", wie Herzl sie bezeichnen sollte, schloss sich beispielsweise auch der orthodoxe britische Chief Rabbi, der in Deutschland geborene Hermann Adler (1839–1911), der grundsätzlich ablehnenden Haltung seiner Amtsbrüder in Deutschland an. Herzls Absicht, einen jüdischen Staat zu gründen, war für Adler "völlig unheilbringend". Dies verstoße nicht nur "gegen die jüdischen Grundsätze, gegen die Lehren der Propheten und die Traditionen des Judenthums", sondern könne auch "unermeßliches Unheil erzeugen", da bei den Nichtjuden der Gedanke aufkommen könne, die Juden stünden dem Land, in dem sie wohnen, nicht loyal gegenüber.7
Bereits zwei Jahre zuvor hatte Eugen Fuchs (1856–1923), stellvertretender Vorsitzender des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der sich laut Satzung die Wahrung der staatsbürgerlichen und gesellschaftlichen Gleichstellung der deutschen Juden sowie die Pflege ihrer deutschen Gesinnung auf die Fahnen geschrieben hatte, die Haltung seiner Organisation zum Zionismus in ähnlicher Weise begründet. Fuchs warf dem Zionismus als nationaljüdische Bewegung vor, eine Entnationalisierung des deutschen Judentums zu betreiben und damit das Bekenntnis deutscher Juden zur deutschen Nation zu verraten.8 So konnte nur jemand argumentieren, der das Judentum allein als Konfession betrachtete, ihm aber jeden nationalen Charakter absprach. Aus nationaljüdischer Perspektive war dies die höchste und schlimmste Form der Assimilation.9
Juden verschiedener religiöser Strömungen lehnten den politischen Zionismus zum Teil aus unterschiedlichen Gründen ab. Dabei ist zu betonen, dass dem Zionismus als "internationalem Nationalismus"10 auch eine inter- und transnationale Ablehnungsfront gegenüberstand.11
Antizionistische Organisationen liberaler bzw. reformorientierter Juden in Deutschland und England
Zunächst soll es um die wichtigsten antizionistischen jüdischen Organisationen gehen, die aus den Reihen des liberalen bzw. reformorientierten Judentums hervorgegangen sind. Vor allem Deutschland und Österreich waren nicht nur die "Geburtsstätte des modernen Zionismus", sondern eben auch die "Geburtsstätte des liberalen Antizionismus".12 Erst gegen Ende des Ersten Weltkriegs sollte sich der Schwerpunkt zionistischer wie antizionistischer Tätigkeit nach England und schließlich in die USA verlagern.
Das Antizionistische Komitee im Deutschen Reich
Im Oktober 1912 wurde im Büro der Vereinigung für das liberale Judentum ein Reichsverband zur Bekämpfung des Zionismus gegründet, der sich jedoch schon kurze Zeit später in Antizionistisches Komitee (AZK) umbenannte.13 Dieser lose Zusammenschluss verfügte schon bald über eine beträchtliche Anhängerschaft, die sich zum Teil aus der liberal orientierten jüdischen Öffentlichkeit rekrutierte.14 Die Gründung des AZK war vermutlich eine Reaktion auf den ersten zionistischen Wahlsieg in der jüdischen Gemeinde zu Königsberg vom Februar 1912,15 womit das von Herzl auf dem 2. Zionistenkongress von 1898 ausgegebene Motto von der "Eroberung der Gemeinden" wieder in der Luft lag.
Die Aktivitäten des AZK sollten zwei Haupttätigkeiten umfassen. Zum einen wollte man durch die Publikation von antizionistischen Schriften und Erklärungen die breite jüdische wie nichtjüdische Öffentlichkeit über die vermeintlichen Gefahren des Zionismus aufklären. Zum anderen sollten propagandistische Multiplikatoren im Sinne der Ziele des AZK geschult werden. So war es erklärte Absicht, eine "Spezial-Kommission, bestehend aus jüdischen Oberlehrern und Religionslehrern," zu bilden, "deren Aufgabe es sein soll, die Jugend über die Gefahren des Zionismus aufzuklären und das Eindringen der Zionisten in die Schule zu verhüten". Darüber hinaus sollten zum "Zwecke der Ausbildung von Propagandisten ... jüngere Akademiker, insbesondere auch Anwälte und Aerzte", zu einer Besprechung mit einem führenden Repräsentanten des AZK eingeladen werden.16 Eine ganz ähnliche Zielsetzung dürfte zudem der von Rabbiner Dr. Siegfried Galliner (1875–1960) eingerichtete "Discussionskursus" verfolgt haben, an dem sechs junge Herren teilnahmen.17
Bezüglich der Kooperation mit anderen Gegnern des Zionismus hatte sich das AZK darauf geeinigt, zwar mit "anderen Organisationen, die auf antizionistischem Boden stehen, in Verbindung treten ... jedoch von einem gemeinsamen Vorgehen" absehen zu wollen.18 Demgegenüber beabsichtigte das AZK, die eigene Mitgliederbasis in religiöser Beziehung durch "Heranziehung mehr konservativer Kreise"19 zu erweitern. Hintergrund dieser Absicht dürfte die Furcht gewesen sein, von den Zionisten als Organisation des assimilationswilligen Judentums, dem alles Jüdische fern stehe, gebrandmarkt und damit delegitimiert zu werden.
Anfang 1913, nur wenige Monate nach Gründung des AZK, erschien bereits die erste vom Komitee herausgegebene Schrift zur Aufklärung über den Zionismus, die sich mit der zionistischen Taktik auseinandersetzte. Diese Schrift, von der bis Juli 1913 ca. 45.000 Exemplare verteilt wurden,20 hatte der Schriftsteller und Theaterkritiker Julius Bab (1880–1955) verfasst, der allerdings als Autor namentlich nicht genannt wurde. Bab erklärte das zionistische Projekt als in jeder Hinsicht unrealistisch und logisch inkonsistent.21
Kurz nach der ersten antizionistischen Schrift erschien die zweite und damit letzte selbständige Publikation des AZK, die Rabbiner Felix Goldmann (1882–1934)22 verfasste, allerdings ebenfalls anonym veröffentlichte.23 Wohl in erster Linie der Mangel an finanziellen Mitteln verhinderte eine Fortsetzung der Reihe Schriften zur Aufklärung über den Zionismus. Von nun an beschränkte sich das AZK darauf, in Zeitungen antizionistische Erklärungen zu publizieren. 1913 veröffentlichte das Komitee beispielsweise einen Aufruf, in dem es die Zugehörigkeit der deutschen Juden zu deutscher Kultur, deutscher Gesellschaft, ja zum deutschen Vaterlande betonte und gleichzeitig vor der zionistischen Bewegung warnte, die die bisherigen emanzipatorischen Errungenschaften des deutschen Judentums ernsthaft gefährde, indem sie, ähnlich wie die Antisemiten, die deutschen Juden als "Fremdlinge" des Vaterlandes betrachtete. In Wahrheit seien die deutschen Juden "deutsche Bürger … nach Sprache Kultur, Bildung und Heimatgefühl".24
Der ebenfalls im Aufruf erhobene Vorwurf, den Zionisten mangle es an Patriotismus für das deutsche Vaterland, wog schwer. Ende Juli 1913 sah sich das Organ der zionistischen Bewegung im Deutschen Reich, die Jüdische Rundschau, dazu gezwungen, in einer Stellungnahme die Liebe zur deutschen Kultur und zu Deutschland zu betonen.25
Aber nicht nur deutsche Zionisten hatten offensichtlich den Aufruf des AZK gelesen. Auch ein englischer Zionist, ein gewisser Henry Samuel aus London, setzte sich mit der "Erklärung" des Komitees in einem Brief an Leo Wolff (1870–1958) auseinander, einer der führenden Persönlichkeiten des AZK.26 Zunächst stellte Samuel fest, dass Wolff den Aufruf des AZK kaum unterschrieben hätte, wenn er mit den Bestrebungen der zionistischen Bewegung besser vertraut gewesen wäre und sich mit den in der Erklärung des AZK angeführten Angriffen näher auseinandergesetzt hätte. Wie Samuel erklärte, komme er soeben vom Zionistenkongress in Wien, den er "als erst kürzlich zum Zionismus gelangter englischer Jude und Kolonisationsmann und als Delegierter des Order of Ancient Maccabeans besucht habe".27 Zwar sei er "nüchtern und sachlich genug veranlagt", um sich sein "kritisches Gefühl für zahlreiche Haupt- und Nebensachen des Kongresses sowohl wie der zionistischen Taktik und Praxis zu wahren", jedoch könne kein Jude ernsthaft abstreiten, "dass die von den Zionisten proponierte Lösung der Frage eine grosse und durchführbare, hilfreiche Sache ist, der kein edler Jude seine Mitarbeit und Sympathie versagen sollte, und die andererseits keinen einzigen Juden in seinen sozialen, wirtschaftlichen und staatsbürgerlichen Beziehungen zu beeinträchtigen vermag". Um seiner prozionistischen Argumentation Gewicht zu verleihen, wies Samuel im Weiteren darauf hin, dass das Judentum ein transnationales Volk sei und sich damit auch deutlich von anderen Konfessionen und Völkern abhebe:
Wir sind jüdischen Blutes und jüdischen Stammes! Diese Tatsache, auf die wir so stolz sein dürfen wie irgend eine andere Gemeinschaft auf ihre Herkunft, lässt sich nicht verwischen, wie heftig auch der antizionistische Aufruf die deutschen Juden nach Kultur und Sprache und Nationalgefühl für das Deutschtum (fast für das Cheruskertum) reklamieren möchte. Ein einfaches Beispiel, das mir besonders naheliegt: Sind nicht die deutschen und englischen Juden in einem ganz anderen Sinne Brüder, als die deutschen und englischen Christen? Darüber hilft kein Jonglieren mit so strittigen Begriffen wie Volk, Nation oder dergleichen hinweg.
Im Anschluss daran erklärte Samuel, dass die zionistischen Bestrebungen durchaus realisierbar und zumindest in ihren Anfängen bereits verwirklicht worden seien. Besonders geschickt zeigte sich Samuel, als er den in der Erklärung des AZK enthaltenen Passus, wonach die "Berechtigung kolonisatorischer Bestrebungen im Interesse der östlichen Juden … nicht in Abrede gestellt" werde, sondern "von den Juden aller Richtungen anerkannt" werde, erwähnte. Diesbezüglich bat Henry Samuel Leo Wolff darum, seine "eigene Unterschrift [zu] respektieren", wobei er ihm auch anbot, seine eigene "nicht unbeträchtliche kolonisatorische Erfahrung … in gemeinsamer Arbeit zu Gunsten unserer verfolgten und zurückgesetzten Brüder" zur Verfügung zu stellen, wodurch Wolff "vielleicht auch vieles andere schätzen lernen" werde, was ihm "bisher an der zionistischen Bewegung missfallen haben mag".28 Dass dieses Argument bzw. dieser Vorschlag tatsächlich zu einem Umdenken bei Wolff und anderen Repräsentanten des AZK führte, muss stark bezweifelt werden. Denn schon früher hatten beispielsweise James Simon (1851–1932) und Paul Nathan (1857–1927), die ebenfalls die Aufrufe des AZK unterzeichnet hatten, mit dem von ihnen 1901 gegründeten Hilfsverein der deutschen Juden nicht nur die osteuropäischen Juden unterstützt, sondern auch ein Netz von pädagogischen Institutionen in Palästina unterhalten. Freilich war diese Art von Engagement in erster Linie philanthropischer und keineswegs politischer Natur. Die Unterstützung von kolonisatorischen Bestrebungen osteuropäischer Juden musste also keineswegs dem politischen Zionismus verpflichtet sein.
Am 29. Januar 1914 schrieben führende Persönlichkeiten des AZK, darunter Bernhard Breslauer (1851–1928), Hermann Cohen (1842–1918), Eugen Katz, James Simon und Hermann Veit Simon (1856–1914), verschiedene jüdische Honoratioren mit dem Vermerk "streng vertraulich" an und baten sie, eine Erklärung, die in den angesehensten Zeitungen veröffentlicht werden sollte, zu unterzeichnen. Diese sollte die Öffentlichkeit vor der "Gefahr des zionistischen Treibens in Deutschland" warnen.29 Am 5. Februar 1914 wurde schließlich in Rudolf Mosses (1843–1920) Berliner Tageblatt eine sogenannte "Erklärung" des Antizionistischen Komitees veröffentlicht, ohne dass diese allerdings unter dem Namen der Organisation firmierte. Es wurden nur die Namen der einzelnen Mitglieder nachstehend angeführt – darunter Persönlichkeiten wie Rudolf Mosse, Hermann Cohen, James Simon, Paul Nathan und Ludwig Geiger (1848–1919) – sowie "Zustimmungserklärungen" an Rechtsanwalt Dr. M. Galliner, dessen Adresse der Sitz des Komitees war, erbeten. In der "Erklärung" wurde den Zionisten vor allem vorgeworfen, "innerhalb des Judentums einen 'national-jüdischen' Chauvinismus … entfachen [zu wollen], der uns in schroffen Gegensatz zu unseren christlichen deutschen Mitbürgern bringen müsste, von denen uns doch nichts unterscheidet als unser Glaube". Dies habe zur Folge, dass eine Zusammenarbeit mit den Zionisten bezüglich der Wahrung der Interessen des Judentums nicht mehr möglich sei. Das deutsche Judentum sei zutiefst gespalten, die Verantwortung hierfür trügen die Zionisten.30
Diese Zeitungsannonce löste im Zentralorgan der zionistischen Bewegung, der Jüdischen Rundschau, größten Unmut aus. Besonders empört war man darüber, dass sich das AZK an die nichtjüdische Öffentlichkeit gewandt hatte, um den Zionismus dort zu diskreditieren.31 Damit hatte das AZK offensichtlich einen empfindlichen Nerv der zionistischen Vereinigung getroffen. Hektisch wurden Protesterklärungen an jüdische wie nichtjüdische Printmedien verschickt sowie vom zionistisch orientierten Jüdischen Echo in München eiligst eine Umfrage unter prominenten Nichtjuden über ihre Haltung zum Zionismus und der "Erklärung" des AZK eingeleitet.32 Äußerst ernst nahmen die Zionisten vor allem den Vorwurf mangelnder Loyalität gegenüber dem deutschen Vaterland und der deutschen Gesellschaft, den sie ebenfalls durch propagandistische Gegenmaßnahmen zu entkräften versuchten.33
Von nun an war der Kampf des AZK in erster Linie von dem Vorwurf bestimmt, den Zionisten mangele es an Staatstreue. Zwar äußerte Bernhard Breslauer in einer Ausschuss-Sitzung des AZK Anfang Mai 1914 die Meinung, dass anscheinend nun die "ruhigeren Elemente im Zionismus ihren Einfluss geltend machen" wollen und auch die zionistische Presse gemäßigter geworden sei. Allerdings werde das AZK, "mit dem man unter keinen Umständen Frieden machen wolle", weiterhin heftig angegriffen; dies nahm Breslauer zum Anlass, über die Fertigstellung einer neuen Broschüre des Komitees zu diskutieren, die unter anderem einen Artikel über "Die jüdische Jugend und der Zionismus" enthalten sollte. Darin, so ein gewisser Holzmann, müsse "an Tatsachen gezeigt werden, in welcher Weise das zionistische Gift in die Seelen der Kinder geträufelt werde".34
Zur selben Zeit – im Mai 1914 – bereitete das Komitee der antizionistischen Organisation die Herausgabe einer Schrift vor, die den Titel Die zionistische Utopie tragen sollte. Darin wurde vor allem mit dem Emanzipationsvertrag argumentiert. Vor 100 Jahren hätten die Juden in Deutschland das Bürgerrecht erworben und sich in der Folgezeit "der Gleichberechtigung würdig erwiesen". Jedoch seien noch nicht "alle unsere Hoffnungen und Wünsche erfüllt", so dass man weiterhin hierfür kämpfen müsse, was alle großen jüdischen Organisationen täten, mit einer Ausnahme: In letzter Zeit hätte eine Gruppe innerhalb des Judentums – gemeint waren die Zionisten – "diesen Kampf um die volle Gleichberechtigung aufgegeben und ihre Ziele ausserhalb des deutschen Vaterlandes gesucht". Diese Organisation versuche nun, die Juden der deutschen Gesellschaft zu entfremden und plädiere sogar für eine Übersiedlung nach Palästina. Derartige Bestrebungen der "jüdischnationalen Gruppe" mögen, so der Entwurf zu der Broschüre, "für die Ostjuden vielleicht in gewissem Umfange ihre Berechtigung haben", bedeuten aber "für die deutschen [sic!] Juden eine Gefahr, der mit aller Energie entgegengetreten werden muss".35
Am 24. August 1914, also ca. drei Wochen nach Kriegsausbruch, verwies der bekannte Künstler und religiöse Zionist Hermann Struck (1876–1944) gegenüber seinem Vetter Leo Wolff, einem der führenden Mitglieder des AZK, vertraulich auf die bemerkenswerte Beteiligung von Zionisten an den deutschen Kriegsanstrengungen, die Anlass zur Vermutung geben, "dass die höchsten Regierungsbehörden die Zionisten als durchaus vollwertige, wenn nicht sogar als besonders wertvolle Staatsbürger ansehen". Da somit, wie Struck implizit andeutete, der vom AZK erhobene Vorwurf, den deutschen Zionisten mangele es an Patriotismus, entkräftet werde, könne man nun das gegen die zionistische Bewegung gerichtete Komitee auflösen.36 Seinem Schreiben fügte Struck einen Entwurf bei, der die Auflösungserklärung beinhaltete.37
Offenbar war Leo Wolff angesichts des Briefs von Hermann Struck schwankend geworden und hatte tatsächlich erwogen, das AZK aufzulösen. Jedenfalls scheint er dies Bernhard Breslauer Anfang September vorgeschlagen zu haben, der sich jedoch wenig begeistert zeigte. Nach seiner Meinung waren die Aussagen Strucks alles andere als wahr. Die Zionisten hielten, so Breslauer, auch weiterhin "mit eiserner Consequenz die Scheidung zwischen Judentum und Deutschtum aufrecht".38 Trotzdem hätte das AZK von sich aus mit Kriegsbeginn zunächst seine Tätigkeit eingestellt. Dies hätte aber nichts genutzt. Weiterhin werde man von Zionisten angegriffen und alles in falscher Weise ausgelegt. Zudem erinnerte Breslauer daran, dass man selbst nicht attackiert, sondern sich nur gegen Angriffe zur Wehr gesetzt habe. Breslauer war der Meinung, dass die Abgabe einer öffentlichen "Friedenserklärung" momentan nur schaden würde und plädierte daher dafür, diesen Vorschlag zu ignorieren. Allerdings stellte er es dem Ermessen von Wolff anheim, ob er die Mitglieder des Komitees zu einer Besprechung einladen wolle, da man momentan, auf Grund des Todes von Hermann Veit Simon, keinen Vorsitzenden habe.39
Auch wenn sich das AZK zu keiner offiziellen "Friedenserklärung" durchringen konnte, so ruhten die Auseinandersetzungen seit Beginn des Krieges nun dennoch weitgehend, hatten sich doch führende Zionisten ebenfalls die Wahrung der Interessen des Deutschen Reichs auf ihre Fahnen geschrieben und wirkten in diesem Sinne. Da, wie Breslauer einmal bemerkte, "eine feste Organisation, die dem Einzelnen Rechte und Pflichten erteilt, nicht besteht",40 zerfiel dieser lose Zusammenschluss schon bald. Ein Hauptgrund hierfür dürfte auch der chronische Mangel an finanziellen Mitteln gewesen sein, der offenbar eine entsprechende Propagandaarbeit durch die Publikation weiterer antizionistischer Schriften nicht mehr zuließ.41 Zwar konnte das AZK wenige Monate vor Kriegsausbruch mehr als 1.000 Mitglieder verzeichnen, wobei viele unter ihnen durchaus als wohlhabend gelten konnten, allerdings waren offenbar nur wenige bereit, sich an der Finanzierung der Aktivitäten des AZK maßgeblich zu beteiligen.42
Nach dem Krieg übernahm der Verband nationaldeutscher Juden (VnJ) die "Vorreiterrolle als Wortführer des Antizionismus".43 Auch wenn zweifellos eine gewisse personelle Kontinuität zwischen den beiden Vereinigungen bestand, so war der VnJ doch keineswegs die Nachfolgeorganisation des AZK. Während für das AZK, wie schon sein Name augenfällig machte, der Antizionismus das wesentliche Movens war, spielte dieser in der Agenda des VnJ keineswegs mehr die alleinige Hauptrolle.44 Trotzdem ließ sich noch in Zeiten größter Bedrohung für das deutsche Judentum – nach der Machtübernahme durch Adolf Hitler (1889–1945) – ein tiefgreifender Antizionismus im VnJ feststellen. Am 18. Juli 1933 protestierte der Vorsitzende des VnJ, Dr. Max Naumann (1875–1939), in einem Brief an die sich konstituierende Reichsvertretung der deutschen Juden gegen deren Bezeichnung, da dies den Anschein erwecke, dass die Reichsvertretung, ein Organ, "in dem vorwiegend und massgebend Zionisten vertreten sind, … berechtigt sei[en], für die Gesamtheit der deutschen Juden Erklärungen abzugeben".45
Zwischen Anti- und Nichtzionismus: Die League of British Jews
Dass sich gegen Ende des Ersten Weltkriegs der Schwerpunkt zionistischer wie antizionistischer Tätigkeit nach England verlagerte, ist zweifellos der Balfour-Deklaration (wie auch der Eroberung Palästinas durch britische Truppen) geschuldet. Am 2. November 1917 hatte der britischer Außenminister Lord Arthur James Balfour (1848–1930)[] in einem Brief an Baron Lionel Walter Rothschild (1868–1937), den Ehrenpräsidenten der Zionist Federation, mitgeteilt, dass die Regierung Seiner Majestät die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina mit Wohlwollen betrachte und größte Anstrengungen zur Erreichung dieses Zieles unternehmen werde.46 Gleichzeitig wurde aber, um Juden nicht dem Vorwurf doppelter Loyalität auszusetzen, der Zusatz in die Balfour-Erklärung aufgenommen, wonach nichts geschehen solle, was die Rechte und den politischen Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könne. Zudem enthielt die Erklärung den Zusatz, dass die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nicht-jüdischen Gemeinschaften in Palästina nicht angetastet werden dürften, ein Einwand, der mit Rücksicht auf die im Heiligen Land lebende arabische Bevölkerung aufgenommen worden war.
Die in der Balfour-Deklaration enthaltenen Schutzklauseln konnten aber die Gegner des Zionismus keineswegs besänftigen. In ihren Stellungnahmen machten die Nicht- bzw. Anti-Zionisten deutlich, dass sie den vorgeschlagenen Entwurf, der dann im Großen und Ganzen übernommen wurde, zurückwiesen, insbesondere, weil sie die Errichtung einer sogenannten "nationalen Heimstätte in Palästina" grundsätzlich ablehnten.47 Angesichts der Tatsache, dass nun das zionistische Projekt nicht mehr gänzlich der Utopie anzugehören schien, waren die liberal orientierten jüdischen Antizionisten mehr als alarmiert. Nur zwölf Tage nach Verkündung der prozionistischen Erklärung der Regierung formierte sich unter Führung von Lionel de Rothschild,48 Sir Philip Magnus (1842–1933) und Louis Samuel Montagu, 2nd Baron Swaythling (1869–1927) die League of British Jews (LBJ), die sich der Bekämpfung des jüdischen Nationalismus verschrieb. Ähnlich wie die treibenden Kräfte des Antizionistischen Komitees im Deutschen Reich kamen die meisten der führenden Repräsentanten des LBJ aus den höchsten gesellschaftlichen Kreisen und waren Anhänger eines liberalen Judentums. Trotz ihrer äußerst vermögenden und einflussreichen Führungsriege blieb die Zahl der Mitglieder verhältnismäßig gering. Zu Beginn hatte die Liga ungefähr 400, in ihrer Hochphase nach eigener Aussage nie mehr als 1.300 aktive Unterstützer.
Das Programm der LBJ enthielt das Bekenntnis der Organisation zum rein konfessionellen Standpunkt wie auch zum Kampf gegen die Schaffung einer separaten jüdischen Nationalität auf politischer Grundlage. Gleichzeitig wurde aber darauf hingewiesen, dass all die Juden Unterstützung finden sollten, die sich in Palästina dauerhaft ansiedeln wollen.49 Die Mitsvat Jischuv Erets Israel50 wurde demnach nicht in Frage gestellt, die Gründung eines eigenen jüdischen Staates aber kategorisch abgelehnt.
Der Passus bezüglich der Förderung des Jischuvs deutet schon darauf hin, dass die Leaguers, wie sie sich selbst nannten, die Balfour-Deklaration nicht unbedingt bedingungslos ablehnten. Aber statt der Phrase "eine nationale Heimstätte für das jüdische Volk" hätte man lieber den Passus "eine Heimstätte für jüdische Menschen" gesehen, was ein deutlicher Unterschied war, wurde doch alles, was den Ruch von jüdischem Nationalismus trug, abgelehnt. Dementsprechend bemühte man sich darum, die Balfour-Deklaration im Einklang mit der eigenen Emanzipationsideologie zu interpretieren, die selbstverständlich nationaljüdische Bestrebungen ausschloss.
Wie liberale Juden in anderen Ländern definierte auch die LBJ das Judentum als reine Religionsgemeinschaft, der keine jüdisch-nationalen Attribute mehr anhafteten. Und doch nahm die LBJ eine nicht eindeutig zu bestimmende Haltung zwischen Anti- und Nichtzionismus ein, wobei die Leaguers noch nicht einmal die Schaffung eines Staates in Palästina ablehnten, sondern nur einen solchen mit dezidiert jüdischem Charakter.51 Daher wurde es mit großem Enthusiasmus begrüßt, dass sich die britische Regierung seit 1918 sukzessive von ihrer ursprünglichen prozionistischen Haltung entfernte. Diese Entwicklung kulminierte 1922 im Churchill White Paper, das zwar das Versprechen der Balfour-Deklaration bestätigte, dieses allerdings in einer deutlich abgemilderten Form interpretierte. Da gleichzeitig mit der sich wandelnden Haltung der britischen Regierung auch die zionistische Führung einen sehr gemäßigten Standpunkt einnahm, indem sie die neue Politik der Regierung akzeptierte, bahnte sich eine gewisse Aussöhnung und sogar Kooperation zwischen beiden Lagern an. Dies ging so weit, dass Sir Philip Magnus seinen Entschluss mitteilte, für den Balfour-Wald des Jüdischen Nationalfonds in Palästina zu spenden.52 Dies war kein Einzelfall, sondern stand paradigmatisch für zahlreiche Beteiligungen von Mitgliedern der LBJ bzw. ihr nahestehender Persönlichkeiten bei der wirtschaftlichen Entwicklung des Mandatsgebietes. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte die Aussöhnung zwischen Zionisten und Nichtzionisten, als Chaim Weizmann (1874–1952)[] Letzteren in England wie auch in anderen Ländern anbot, sich an einer erweiterten Jewish Agency – einer von Zionisten dominierten Organisation, die die jüdischen Interessen bezüglich Palästinas vor der britischen Regierung vertrat53 – zu beteiligen. Nachdem der 15. Zionisten-Kongress dieses Angebot im September 1927 angenommen hatte, stimmte auch das Board of Deputies of British Jews – das Hauptvertretungsorgan der britischen Juden bzw. der britisch-jüdischen Gemeinden und Organisationen –, das personell und ideologisch viele Überschneidungen mit der LBJ aufwies, eineinhalb Jahre später dem Vorschlag zu. Zwar wurde das LBJ offiziell nicht aufgelöst, de facto stellte es jedoch spätestens mit dem Kompromiss bezüglich der Jewish Agency im Jahre 1929 seine Aktivitäten ein und bestand im Grunde genommen nur noch auf dem Papier fort.54
Freilich waren mit der Erweiterung der Jewish Agency um eine gleiche Anzahl nichtzionistischer Mitglieder grundlegende Differenzen keineswegs ausgeräumt, sondern allenfalls vertagt. Während für Zionisten der Auf- und Ausbau Palästinas einen politischen Charakter trug, der letztendlich in die Schaffung eines jüdischen Staates münden würde, war für die meisten Nichtzionisten, die auch weiterhin die Definition der Juden als einer Konfessionsgemeinschaft vertraten und demgemäß ein künftiges jüdisches Staatswesen ablehnten, das Engagement in Palästina rein philanthropischer Natur.55 Die wirkliche Bedeutung der Beteiligung von Nichtzionisten an der Jewish Agency ist daher weniger auf funktionaler als auf symbolischer Ebene zu sehen: "It demonstrated to the British government and public a degree of Jewish solidarity over the question of Palestine which had hitherto not existed."56 So waren nicht nur Zionisten, sondern gleichermaßen auch Nichtzionisten über die im Mandatsgebiet ausgebrochenen arabischen Unruhen und die damit verbundenen jüdischen Opfer im August 1929 empört. Ebenso ablehnend wurde das ein Jahr später veröffentlichte Passfield White Paper aufgenommen, dem zufolge die jüdische Einwanderung in das Mandatsgebiet und der Landkauf arabischen und somit auch britischen Interessen zuwiderlaufe und dementsprechend begrenzt werden müsse.
Ungefähr seit Mitte der 1930er Jahre verschlechterte sich jedoch das Verhältnis zwischen Zionisten und Nichtzionisten in der erweiterten Jewish Agency zunehmend. Zum einen stellte insbesondere David Ben-Gurion (1886–1973), seit 1935 Präsident der Jewish Agency, den Kompromiss der paritätischen Vertretung von Zionisten und Nichtzionisten in der von ihm geführten Organisation massiv in Frage, so dass die führenden Nichtzionisten bereits von "Gleichschaltung" und "Totalitarismus" sprachen.57 Zum anderen entzündete sich eine heftige Kontroverse an dem 1936 gegründeten World Jewish Congress (WJC), der von Anbeginn eine deutlich zionistische Orientierung aufwies. Während die zionistische Organisation als Repräsentantin des jüdischen Volkes in Bezug auf Palästina auftrat, buhlte der WJC um internationale Anerkennung als "repräsentative Körperschaft der jüdischen Gesamtheit in Angelegenheiten, die sich auf das jüdische Leben in der Diaspora"58 bezogen. Damit wurde wieder die grundlegende Frage berührt, ob die Juden eine Nation seien oder nur eine Gemeinschaft von Glaubensgenossen mit unterschiedlichen Staatsbürgerschaften bildeten. Konsequenterweise lehnten führende Nichtzionisten, allen voran Neville Jonas Laski (1892–1969), der kurz zuvor in umstrittener Weise als Vorsitzender des Verwaltungskomitees der Jewish Agency abgelöst worden war, die Beteiligung an einer jüdischen Organisation wie dem WJC, der das gesamte Judentum weltweit zu vertreten beanspruchte, vehement ab.59 Im folgenden Jahr wurde schließlich die Zusammenarbeit zwischen Zionisten und Nichtzionisten ernsthaft in Frage gestellt. Anlass war der Bericht der Königlichen Palästina-Kommission, die unter Vorsitz von Earl William Robert Wellesley Peel (1867–1937) im Juli 1937 den Vorschlag gemacht hatte, angesichts der nicht zu überbrückenden Differenzen zwischen Juden und Arabern Palästina zu teilen und einen jüdischen sowie einen (mit Transjordanien verbundenen) arabischen Staat zu errichten.60 Während für Nichtzionisten die Teilung Palästinas und die Gründung eines jüdischen Staates keinesfalls in Frage kamen, war für die Zionisten der vorgeschlagene Plan der Peel-Kommission zumindest Basis für weitere Verhandlungen. Die zionistische Organisation änderte nun ihre Strategie und richtete ihre Bestrebungen wieder verstärkt auf die Erlangung jüdischer Staatlichkeit aus. Nicht zuletzt, um die innerjüdische Opposition in dieser Hinsicht auszuschalten, bemühte sie sich gleichzeitig darum, eine dominierende Stellung im Board of Deputies of British Jews, zu erlangen.61 Herzls Schlagwort von der "Eroberung der Gemeinden" lag damit wieder in der Luft.
Eine zionistische "Eroberung der Gemeinden" war alles andere als unrealistisch. Ähnlich wie in den USA hatte auch in der englischen Judenschaft seit den 1920er und insbesondere seit den 1930er Jahren – mit der nationalsozialistischen Machtübernahme – der Zionismus immer mehr an Boden gewonnen. Besonders attraktiv wirkte – und auch hier sind deutliche Parallelen zu den USA zu erkennen – die zionistische Bewegung auf eine jüngere Generation von Juden, deren Eltern nach Großbritannien emigriert waren. Gleichzeitig hatte sich, wie bereits im Zusammenhang mit der Gründung und der Geschichte der LBJ dargestellt, die Haltung vieler ehemaliger Antizionisten zu einer nichtzionistischen Einstellung abgeschwächt, die eine Kooperation mit Zionisten in bestimmten Fragen nicht ausschloss.
Dass es nach dem von der Peel-Kommission vorgelegten Teilungsplan für Palästina zu keinem Bruch zwischen Zionisten und Nichtzionisten in der erweiterten Jewish Agency kam, lag vor allem an der britischen Regierung, die ihren Vorschlag rasch wieder zurückzog und schließlich 1939 ihre Politik bezüglich des Mandatsgebietes in Palästina im sogenannten White Paper neu formulierte. Zionisten wie Nichtzionisten waren gleichermaßen darüber empört, dass die Regierung nun die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates innerhalb der nächsten zehn Jahre vorsah, jüdischen Landerwerb erschwerte sowie die Immigration von Juden in den nächsten fünf Jahren auf höchstens 75.000 Personen beschränkte und danach jede weitere Einwanderung von arabischer Zustimmung abhängig machte.62
Doch nur wenige Monate später erhielt die Kooperation zwischen Zionisten und Nichtzionisten einen weiteren schweren Schlag. Vor allem aus Furcht über den nicht unerheblichen Einfluss führender Nichtzionisten auf britische Politiker in der Palästina-Frage wurde unter der Führung von Lavy Bakstansky, des Generalsekretärs der Zionist Federation of Great Britain and Ireland, der erste Schritt bei der zionistischen Eroberung der britischen Gemeinden getan: Mit Selig Brodetsky (1888–1954) wurde im Dezember 1939 erstmals ein erklärter Zionist und osteuropäischer Jude zum Präsidenten des Board of Deputies gewählt.63 Dreieinhalb Jahre später – im Juli 1943 – war die Übernahme einer ehemaligen Hochburg des Nichtzionismus schließlich abgeschlossen. Mit einem hauchdünnen Vorsprung von sechs Stimmen wurde die seit 65 Jahren währende Kooperation mit der Anglo-Jewish Association, die im sogenannten Conjoint Foreign Committee zum Ausdruck kam, aufgelöst und drei Wochen darauf in alle Ausschüsse des Board of Deputies eine zionistische Mehrheit gewählt.64 Damit wollte die britische Zionist Federation, insbesondere ihr umtriebiger Generalsekretär Bakstansky, sicherstellen, dass sich die offizielle Stimme der britischen Juden in Zukunft einmütig für die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina aussprechen und die Politik der britischen Regierung in diesem Sinn beeinflussen würde.65 Im November 1944 erließ das Board ein Statement on Post-War Policy, in dem es sich in aller Deutlichkeit für die Aufhebung des White Paper von 1939 aussprach und forderte, dass nach einer gewissen Übergangsphase das Mandatsgebiet Territorium eines jüdischen Staats bzw. Commonwealth werde.66 Die noch im Board of Deputies verbliebene Opposition verlangte, das Statement zu ändern und jegliche Erwähnung von Staat oder Commonwealth zu streichen. Diesem Antrag schlossen sich allerdings nur zehn Prozent der Delegierten an.67 Spätestens an diesem Punkt war für die Minderheit dezidierter Antizionisten in Großbritannien der Punkt erreicht, sich zu organisieren und den Zionismus bzw. die Gründung eines jüdischen Staates aktiv zu bekämpfen.
Das letzte antizionistische Aufgebot: Das Jewish Fellowship in Großbritannien
Wenn auch das Jewish Fellowship (JF) in der League of British Jews (LBJ) einen unmittelbaren Vorläufer hatte, so dürfte es dennoch keinem Zweifel unterliegen, dass das JF vor allem in gewisser Nachahmung zum strikt antizionistischen, von liberalen US-Juden getragenen American Council for Judaism68 (ACJ) gegründet wurde. Nicht nur hatten die Anhänger dieser Organisation den gleichen Hintergrund und die gleichen Auffassungen, sondern ebenfalls die gleichen Ziele und Vorgehensweise.69 Gerade auch hier tritt der transnationale Aspekt des organisierten Antizionismus in aller Deutlichkeit zu Tage. Während aber der ACJ tatsächlich eine Verbindung zu den Anti- und Nichtzionisten in England suchte, war das britische JF sehr darauf bedacht, nicht mit den sogenannten Bitter-Enders in den USA assoziiert zu werden, ebenso wie es auch den Vorwurf abzuwehren versuchte, das JF wolle nur die LBJ wieder beleben.70 Gerade Letzteres dürfte aber äußerst schwer gefallen sein, waren doch die Begründer und Ratsmitglieder des JF hauptsächlich die Söhne und Verwandten derjenigen Persönlichkeiten, die die LBJ gegründet und unterstützt hatten.71
Im September 1944 hatten zwei führende Vertreter des sich konstituierenden JF an die Times geschrieben und ihre ablehnende Haltung gegenüber der Formierung einer Jüdischen Brigade deutlich gemacht. Dies war nicht nur der erste Versuch der Organisation, sich nichtjüdischer Medien zu bedienen, um den Zionismus zu bekämpfen,72 sondern zeigt auch, dass die Formierung jüdischer Kampfverbände gegen die Achsenmächte ähnlich wie beim ACJ in den USA ebenfalls beim JF eine gewichtige Rolle hinsichtlich der Gründung einer antizionistischen Organisation spielte.
Etwas mehr als ein Monat später, am 7. November 1944, dem selben Tag, an dem der britische Minister Lord Walter Edward Guinness Moyne (1880–1944) in Kairo von zionistischen Extremisten (Lechi) ermordet wurde,73 hielt das JF eine Pressekonferenz ab, in der es seine Existenz öffentlich bekannt gab. Die Ermordung Lord Moynes durch Juden im Namen des Zionismus war nach Ansicht der Vertreter des JF paradigmatisch für die in den staatlichen Bestrebungen des Zionismus zum Ausdruck kommende Pervertierung und den geistigen Verfall des Judentums.74 In ganz ähnlicher Weise wie das ACJ lehnte auch das JF den politischen Zionismus und die Gründung eines jüdischen Staates ab, da dieser bei den in der Diaspora lebenden Juden eine Doppelloyalität erzeuge, die nicht nur die Erfolge des Emanzipations- und Integrationsprozesses in Frage stelle, sondern auch zu einer Zunahme des Antisemitismus führen werde.
Wie das ACJ im US-amerikanischen Judentum blieb aber auch das JF, das zunächst ebenfalls in erster Linie für eine Erneuerung des liberalen Judentums eintrat, im englischen Judentum trotz massiver Propaganda weitgehend isoliert und ohne Einfluss. Dies hatte mehrere Gründe: Zum einen gelang es den Zionisten, die in der jüdischen Bevölkerung stark an Sympathie gewonnen hatten, bei den meisten Juden den Eindruck zu erwecken, die gegen sie gerichtete Organisation ziele nicht auf eine Regeneration jüdischen Lebens, sondern vielmehr auf dessen Zerstörung ab. Zum anderen stieß es auf größte Ablehnung, dass das JF angesichts des Weißbuches von 1939 und den Ausmaßen des Holocaust in der nichtjüdischen Welt offen gegen die zionistischen Bestrebungen opponierte und damit, so die Wahrnehmung, Verrat am Judentum beging.75
Die überwältigende Mehrheit der englischen Juden identifizierte sich mit der traditionellen Form der Orthodoxie. Daher konzentrierte sich die zionistische Polemik darauf, die offensichtlich enge personelle Verbindung zwischen dem progressiven bzw. liberalen Judentum und dem JF herauszustellen, um damit die antizionistische Organisation zu delegitimieren.76 Zwar betonte das JF zu Recht immer wieder, dass nicht nur liberale Juden an der Organisation beteiligt waren, sondern durchaus auch traditionsorientierte.77 Derartige Anstrengungen blieben jedoch ohne Erfolg: "[T]he overriding impression within Jewry throughout these years was that the Fellowship was an anti-Zionist body motivated in part by its relationship with Liberal Judaism."78 Damit war die Taktik der zionistischen Presse, das JF als eine Organisation des progressiven Judentums darzustellen und damit die weitverbreiteten Vorurteile gegenüber dieser religiösen Strömung im englischen Judentum auszunutzen, aufgegangen.79
Auch wenn das JF behauptete, sich nicht auf politischem, sondern nur auf religiösem Gebiet engagieren zu wollen, so wurde es doch der mächtigste Gegner der zionistischen Organisation in Großbritannien.80 Führende Zionisten hatten jedoch nicht so sehr Angst davor, dass das JF Juden gegen den Zionismus in Stellung bringen würde als vielmehr, dass das nichtjüdische Establishment in der entscheidenden Phase, die über das Schicksal Palästinas und eines jüdischen Staates entscheiden würde, gegen die zionistischen Bestrebungen beeinflusst würde. Die Vorgänge im Vorfeld der Balfour-Deklaration, als angeblich antizionistische britische Juden eine "Verwässerung" der Deklaration erreichen konnten, war für manchen Zionisten ein Schreckgespenst.81
Während das JF innerhalb des britischen Judentums ähnlich wie das ACJ innerhalb des US-Judentums völlig isoliert war – zu keinem Zeitpunkt gehörten dem JF mehr als 2.000 Mitglieder an82 –, war es in der nichtjüdischen Umwelt keineswegs bedeutungslos. Zwischen 1936 und 1948, als sich eine endgültige Entscheidung über das Schicksal des britischen Mandatsgebietes in Palästina immer deutlicher abzeichnete, existierten in London nicht weniger als sieben verschiedene politische Organisationen, die sich im Sinne der Wahrung arabischer Interessen die Bekämpfung des Zionismus auf die Fahnen geschrieben hatten.83 Eine Kooperation zwischen dem JF und einer oder mehrerer dieser durchaus einflussreichen Vereinigungen konnte unter Umständen den Zielen der Zionisten einen schweren Schaden zufügen.
Seit Anfang Januar 1946 tagte das Anglo-American Committee of Inquiry, eine von den Regierungen der USA und Großbritannien ins Leben gerufene Kommission, die aus je sechs Vertretern der beiden Staaten bestand und die Aufgabe hatte, die Bedingungen in Palästina hinsichtlich der Einwanderung und Niederlassung von Juden sowie die Situation der jüdischen Displaced Persons (DPs) in Europa zu untersuchen. In diesem Zusammenhang wurden unter anderem auch die beiden antizionistischen Organisationen – das ACJ sowie das JF – angehört. Die Vertreter beider Vereinigungen bekräftigten dabei ihre grundsätzliche Ablehnung gegenüber der Gründung eines jüdischen Staates, da es die Juden der Diaspora im Verhältnis zu ihren nichtjüdischen Landsleuten nur in eine unhaltbare Situation manövrieren und dem Antisemitismus neuen Auftrieb geben würde. Stattdessen wurde empfohlen, denjenigen Juden, die, aus welchen Gründen auch immer, ihre momentane Heimat verlassen wollten, die Möglichkeit zu geben, sich in anderen Ländern, Palästina eingeschlossen, niederzulassen.84 Insofern sei es, wie Lessing Rosenwald (1891–1979) im Namen des ACJ erklärte, wünschenswert, wenn die Vereinten Nationen eine Konferenz über die jüdische Flüchtlingsfrage abhielten. Im Kern ging es ihm wohl darum, dass eine möglichst geringe Zahl von jüdischen DPs nach Palästina emigrieren sollte. Dem Vorschlag, sofort 100.000 Juden die Einwanderung in das Mandatsgebiet zu erlauben, stand Rosenwald äußerst reserviert gegenüber, da dies seiner Meinung nach kaum friedlich bewerkstelligt werden konnte.
Die Empfehlungen des ACJ und des JF, wie das Problem der jüdischen DPs gelöst werden könne, deckte sich zumindest der Sache nach im Wesentlichen mit der Haltung der von der Kommission befragten arabischen Repräsentanten.85 Die dabei zu Tage tretende informelle Allianz der antizionistischen jüdischen Organisationen und arabischer Repräsentanten sollte allerdings keine Wirkung entfalten. Im Widerspruch zum White Paper von 1939 empfahl das Anglo-American Committee of Inquiry in seinem Bericht vom 20. April 1946, sofort 100.000 Juden, die den Holocaust bzw. den Krieg überlebt hatten, die Emigration nach Palästina zu erlauben. Damit hatte die Kommission die Forderungen der Zionisten in den USA, Großbritannien und Palästina übernommen und letztlich eine Rücknahme der Restriktionen des White Paper von 1939 vorgeschlagen.86
Ähnlich wie bei den Vertretern des JF kam nun auch bei den Aktivisten der proarabischen Organisationen der Gedanke auf, ob man nicht einer bestimmten Zahl von jüdischen DPs die Einwanderung nach England erlauben solle, um auf diese Weise die Emigration von Juden nach Palästina – wie im Bericht des Anglo-American Committee of Inquiry vorgeschlagen – zu verhindern. So einigten sich die Vertreter des Committee for Arab Affairs, eine öffentliche Erklärung abgeben zu wollen, in der zwar die Öffnung Palästinas für 100.000 Juden als humanitäre Geste abgelehnt, jedoch stattdessen die Regierung aufgefordert werde, mit gutem Beispiel voranzugehen und eine angemessene Quote von 100.000 Juden, die nicht in ihrem Herkunftsland bleiben bzw. zurückkehren wollten, aufzunehmen. Allerdings zeigte sich schon bei der Formulierung dieser Erklärung, dass sich das proarabische Establishment alles andere als einig war. Zahlreiche seiner aktiven Repräsentanten, die die Emigration von Juden nach Palästina ablehnten, wollten ebenso wenig eine Einwanderung von jüdischen Flüchtlingen nach England akzeptieren, da sie eine solche auf Grund ihrer teils antisemitischen Einstellung als schädlich ansahen.87 Zudem übersahen sie, dass das Anglo-American Committee of Inquiry die Übersiedlung von 100.000 Juden in das britische Mandatsgebiet nur als Teil einer Gesamtlösung der jüdischen DP-Frage vorgeschlagen hatte, um zumindest für eine gewisse Entspannung zu sorgen.88
Ein weiterer Konsens zwischen JF und den proarabischen antizionistischen Organisationen in Großbritannien bestand in der Überzeugung, man könne jüdisches Leben in Deutschland und Polen wieder aufbauen und auf diese Weise zum Teil die jüdische Flüchtlingsfrage lösen. Auch hier lag die Absicht zugrunde, eine Emigration von Juden nach Palästina durch Alternativen obsolet zu machen. Allerdings stand das JF mit seiner Ansicht innerhalb des englischen Judentums isoliert da. Andere jüdische Organisationen und Repräsentanten der jüdischen Gemeinschaft in England bewerteten die Möglichkeiten für einen solchen Wiederaufbau in den beiden Ländern als äußerst gering.89
Schließlich muss noch eine letzte Übereinstimmung zwischen JF und den proarabischen Vereinigungen in ihrem propagandistischen Kampf gegen den Zionismus und eine jüdische Staatsgründung in Palästina angeführt werden: die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Zionismus. Demnach hätten die Zionisten die Rassenlehre der Nazis in ihren Grundzügen übernommen und würden nun ihrerseits rassistische und faschistische Methoden anwenden. Einerseits mag diese Gleichsetzung zu einer weiteren Annäherung des JF an die nichtjüdischen antizionistischen Organisationen beigetragen haben, zum anderen verstärkte es allerdings die Isolierung des JF innerhalb des englischen Judentums, da auch Nichtzionisten ein solcher Vergleich empörte.90
Trotz weitreichender inhaltlicher Übereinstimmung zwischen dem JF und den proarabischen Organisationen in England kam es zu keiner Kooperation zwischen den beiden antizionistischen Lagern. Obwohl das JF fortwährend für eine Zusammenarbeit warb, wurde dies von den führenden nichtjüdischen Antizionisten der damaligen Zeit abgelehnt.91 Insofern war das JF auf ganzer Linie gescheitert. Nur ein halbes Jahr nach Gründung des Staates Israel bestätigte im November 1948 die vierte Jahresvollversammlung des JF den Mehrheitsbeschluss des Vorstandes, die Organisation aufzulösen.
Antizionistische Organisationen innerhalb des traditionsorientierten Judentums
Als proto-zionistische Ideen erstmals in den 1860er und 1870er Jahren geäußert wurden, gab es kaum Proteste seitens der traditionellen jüdischen Gemeinschaft in Osteuropa. Allenfalls opponierte die Neo-Orthodoxie in Westeuropa gegen die Artikulation einer nationaljüdischen Idee, da man hiervon den Integrationsprozess der Juden in die Mehrheitsgesellschaft bedroht sah. Gleichzeitig fürchtete man angesichts des säkularen Konzepts um die Religiosität und Observanz des Judentums.92
Vor dem Hintergrund zahlreicher Pogrome im Zarenreich zu Beginn der 1880er Jahre, die bei vielen Maskilim, den Anhängern der jüdischen Aufklärungsbewegung, die Ansicht reifen ließen, dass der Emanzipations- bzw. Integrationsprozess gescheitert war, nationalisierte sich ein Teil der Haskalah, der jüdischen Aufklärungsbewegung. Dies rief allerdings keineswegs eine unmittelbare Ablehnung des jüdischen Nationalismus bzw. Proto-Zionismus durch das traditionsorientierte jüdische Lager hervor. Ganz im Gegenteil kamen beide Seiten angesichts der Pogromerfahrungen zu ähnlichen Schlüssen – Rettung durch Auswanderung nach Palästina (oder in ein anderes Land). Erst die Erkenntnis, dass unter den Emigrantengruppen in Palästina – allen voran den Bilu'im93 – religiöse Laxheit bzw. fehlende Observanz weit verbreitet waren, rief ersten Widerstand unter traditionsorientierten Juden im Zarenreich hervor. Allerdings hielt dies beispielsweise den orthodoxen Rabbiner Samuel Mohilever (1824–1898) nicht davon ab, sich 1884 in Kattowitz an der Gründung der ersten proto-zionistischen Organisation im Russländischen Reich, der Chowewe Zion (Zionsfreunde), zu beteiligen. Dass aber die Führung dieser neuen Organisation in die Hände säkularer Juden, wie des Odessaer Arztes und Verfassers der Schrift Autoemancipation, Dr. Leon Pinsker (1821–1891)[], gelegt wurde, konnte nicht ohne Folgen bleiben: "[S]ome rabbis who had been willing to take part in Hovevei Zion activities left the movement en masse."94
Nachdem bei der Konferenz von Druzkieniki 1887 den traditionsorientierten Juden eine überproportionale Repräsentation in der Chowewe-Zion-Bewegung zugestanden worden war, ließen sich einige wichtige religiöse Persönlichkeiten zur Unterstützung der Organisation bewegen. Allerdings blieb ein Problem ungelöst, das während der 1880er Jahre immer wieder die Möglichkeit eines Bruchs zwischen beiden Lagern andeutete: die mangelnde Observanz der ins Heilige Land ausgewanderten Juden. Dieser Umstand wie auch die Frage der Einhaltung der Schmita, des Schabbatjahres, provozierte zunehmend die Opposition traditionsorientierter Führungspersönlichkeiten im Zarenreich.95 Das Problem des Messianismus dagegen, also die Frage, ob nationaljüdische Bestrebungen die göttliche Vorsehung vorwegnahmen, spielte in dieser Zeit bei der ablehnenden Haltung der traditionsorientierten Juden keine entscheidende Rolle.
Während es also zunächst noch Konflikte wegen des konkreten Verhaltens bestimmter Persönlichkeiten und Gruppen innerhalb der Organisation gab, sollte sich Achad Ha'ams (1856–1927) Ansicht, dass die Religion nur eine der nationalen Institutionen des Judentums sei, der Volksgeist jedoch die dominante Kraft bilde, von der sich alles andere ableite, zu einer grundsätzlichen Kontroverse entwickeln. Dass Glaube und Religionsgesetz nicht als übergeordneter Wesenskern des Judentums anerkannt wurden, sondern durch Ha'ams Aussage eine Relativierung erfuhren, konnte nicht ohne Reaktion im traditionsorientierten Lager bleiben.96 Erst das Aufkommen des politischen Zionismus unter Theodor Herzl schien die tiefen Gräben überwinden zu können, war damit doch offenbar ein Übergang von ideologischen Fragen zur praktischen Arbeit in Form von politisch-diplomatischen Bemühungen verbunden.97 Zunächst wurde das Basler Programm enthusiastisch von den traditionellen Juden in Osteuropa begrüßt, so dass innerhalb der zionistischen Bewegung die nicht unbegründete Hoffnung bestand, die Massen der observanten Juden im Osten für die eigenen Ziele gewinnen zu können.
Jüdischer Kulturkampf
Sehr schnell zeigte sich jedoch, dass die neu entstandene zionistische Bewegung nicht bereit war, auf kulturelle Arbeit zu verzichten, ein Umstand, der größte Befürchtungen bei den traditionsorientierten Juden weckte. Um es nicht zu einem Bruch kommen zu lassen, wurde vor und nach dem 2. Zionisten-Kongress der Versuch unternommen, ein Rabbinerkomitee neben dem Zionistischen Actionskomité zu errichten. Dies blieb jedoch ohne Erfolg. Langsam wandten sich russländische Rabbiner, die ursprünglich die zionistische Organisation unterstützt hatten, ab und wurden zu Gegnern des politischen Zionismus. Die Rabbiner, die auch nach dem 2. zionistischen Kongress die Bewegung noch unterstützten, bildeten eine absolute Minderheit, die in einem Dilemma gefangen war. Wenn Herzl auf dem 2. Zionisten-Kongress im Gedenken an den verstorbenen Rabbiner Samuel Mohilever erklärte, dass dieser "zu den strenggläubigen und starren Juden gehörte, … [und] dadurch, dass er sich vorbehaltlos uns anschloss, vollständig den Beweis erbracht [habe], den andere erst für nothwendig halten",98 so war dies eher ein Versuch, sich selbst Mut zu machen und die tiefen Gräben zwischen politischem Zionismus und der Mehrheit des traditionsorientierten Judentums zu überspielen. Denn gleichzeitig schreckte Herzls Aufforderung auf demselben Kongress, die Gemeinden zu erobern, die traditionellen Juden auf und weckte sowohl bei Chassidim als auch bei Mitnaggedim, den Gegnern des Chassidismus, Widerstand gegen die zionistischen Bestrebungen.99 Nur ein Jahr später, auf dem 4. Zionisten-Kongress im Jahre 1900, sollte Nachum Sokolow (1859–1936) den traditionsorientierten Gegnern des Zionismus Folgendes entgegenschleudern: "Die Wunderrabbis wollen den Krieg mit dem Zionismus und so mögen sie ihn haben".100
Die Gründung des Mizrachi
Aber nicht nur zwischen Zionisten und ihren traditionsorientierten Gegnern schienen die Auseinandersetzungen zunehmend zu eskalieren. Auch innerhalb der zionistischen Bewegung verhärteten sich die Fronten zwischen den säkularen und den observanten Anhängern. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stand die Frage, ob die Organisation auch im kulturellen Bereich tätig werden sollte. Die zumeist aus Osteuropa stammenden traditionsorientierten Zionisten lehnten dieses Ansinnen ab, da sie befürchteten, dass dadurch weltliche Kultur Eingang finden würde, die das religiöse Judentum grundlegend bedrohen könnte. Einer der Hauptgründe und Rechtfertigungsbasis für ihre Zusammenarbeit mit den säkularen Zionisten dürfte das Motiv der Pikkuach Nefesch, der Lebensrettung, gewesen sein. Die zionistische Organisation schien, so die Ansicht vieler traditionsorientierter Zionisten, die Möglichkeit zu bieten, die osteuropäischen, vor allem die russischen Juden zu retten und für das Judentum zu erhalten.101 Wenn aber die Vereinigung nun kulturelle Aktivitäten entfalten wollte, so drohte dem observanten osteuropäischen Judentum eine existentielle Gefahr in Form von modernen, säkularen Tendenzen. Herausragende Repräsentanten der zionistischen Organisation reagierten auf diese Befürchtungen allerdings alles andere als verständnisvoll und kompromissbereit. Nicht nur Sokolow, sondern auch Chaim Weizmann, der später der erste Präsident von Israel werden sollte, ließ sich auf dem 4. Zionisten-Kongress zu aggressiver Rhetorik hinreißen und stellte schließlich den bereits von anderer Seite eingebrachten Antrag, "eine regelmässige culturelle Thätigkeit einzuleiten".102
Während Sokolow und Weizmann auf dem 4. Kongress die Forderung nach "Kulturarbeit" aufgestellt hatten, hatte Rabbiner Isaac Jacob Reines (1839–1915) dies mit dem Hinweis abgelehnt, dass die Masse der Juden Essen brauche und keine Kultur. Auf dem 5. Kongress Ende Dezember 1901 war die Frage kultureller Aktivitäten erneut entbrannt, wobei Reines den Delegierten Folgendes entgegengeschleudert hatte: "Die Culturfrage ist ein Unglück für uns. Die Cultur wird alles zerschlagen. Unsere Gegend ist ganz orthodox. Die ist verloren durch die Cultur. Die Culturfragen dürfen im Baseler Programm nicht enthalten sein. Es ist ein Fehler begangen worden, der gut gemacht und beseitigt werden muss."103 Nach heftigen Auseinandersetzungen über die Frage, ob nun endlich das leidige Streitthema der Kulturarbeit ein für alle Mal durch eine Resolution im positiven Sinn beseitigt werden sollte, erklärte schließlich der 5. Kongress "die culturelle Hebung, d.h. die Erziehung des jüdischen Volkes im nationalen Sinne, für eines der wesentlichsten Elemente des zionistischen Programmes und macht es allen Gesinnungsgenossen zur Pflicht, an ihr mitzuarbeiten".104
Herzl hatte mit aller Macht versucht, die Klärung dieser Frage zu verhindern, um die traditionsorientierten Juden nicht vor den Kopf zu stoßen. Nach seiner Niederlage gab Herzl nur wenige Tage oder Wochen später Rabbiner Reines zu verstehen, dass er mit anderen Mitstreitern einen eigenen organisatorischen Weg gehen solle. Bereits Anfang März 1902 konnte Reines in Wilna eine Versammlung mit 72 Delegierten, darunter 24 Rabbinern, einberufen, um über den weiteren Weg observanter und gleichzeitig zionistisch orientierter Juden zu beraten. Man einigte sich darauf, eine Vereinigung, den Merkaz Ruchani (Mizrachi) bzw. das Geistige Zentrum zu gründen, um traditionsorientierten Zionisten eine Vertretung zu bieten, die sich für einen politischen Zionismus ohne fremde Elemente – gemeint waren natürlich die kulturellen Aktivitäten – einsetzen sollte. Das grundsätzliche Ziel des Mizrachi war die Überbrückung der Kluft zwischen den Zionisten auf der einen und den observanten, antizionistischen Juden in Osteuropa auf der anderen Seite. Dass die Gründung des Mizrachi durchaus ein Bedürfnis befriedigte, zeigte der rege Zulauf. Ungefähr ein Viertel der rund 650 zionistischen Vereine im Zarenreich unterstützte die neue religiös-zionistische Organisation.105 Zwar konnte man sich innerhalb der zionistischen Organisation darauf einigen, dass es zwei Komitees – ein national-fortschrittliches und ein national-traditionelles – geben sollte, die sich jeweils über die Umsetzung der Resolution bezüglich der Kultur verständigen sollten, tatsächlich konnte aber das Problem nicht gelöst werden.
Für nichtzionistische, traditionsorientierte Juden war die Gründung des Mizrachi sicherlich ein Alarmsignal, stand doch zu befürchten, dass der Zionismus auf diese Weise seine Anhängerschaft unter orthodoxen Juden, die der Bewegung Herzls bislang fern standen, ausbauen könnte. Daher dürfte es kaum überraschen, dass die Freie Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums, die 1885 vom "Vater" der deutschen Neo-Orthodoxie und Verfechter des Austrittsprinzips,106 Samson Raphael Hirsch (1808–1888)[], ins Leben gerufen worden war, kurz nach Konstituierung des Mizrachi eine Resolution ihrer Rabbinerkommission veröffentlichte, der zufolge die "Prinzipien des Misrachi, als eine Fraktion innerhalb des Zionismus, … mit den Grundsätzen des überlieferten Judentums nicht zu vereinbaren"107 seien.
Nur ein Jahr später sollte einer der herausragenden Vertreter der antizionistisch orientierten deutschen Neo-Orthodoxie Frankfurter Prägung, Raphael Breuer (1881–1932), Enkel von Samson Raphael Hirsch, in seinem Beitrag Nationaljudenthum ein Wahnjudenthum! Ein Wort zur Verständigung Folgendes über den religiösen Zionismus äußern: "So spielt die Religion auch im Zionismus die Rolle der alten Witzblatt-Schwiegermutter, die man achten, ja, liebenswürdig behandeln muß, die man aber in mißmuthigen Augenblicken am liebsten – todtschlagen möchte."108 Für die Anhänger Hirschs war der Mizrachi nur ein Feigenblatt der zionistischen Bewegung, der das säkulare Fundament des Zionismus verschleiern sollte, um auch im traditionsorientierten Judentum Anhänger gewinnen zu können. Für die Vertreter der Freien Vereinigung war dies aber das größte Schreckgespenst. Die Vorstellung, dass der Zionismus über den Mizrachi auch bei traditionellen Juden Anklang finden könnte, musste nahezu zwangsläufig eine scharfe Abwehrhaltung bei den antizionistischen orthodoxen deutschen Juden – deren Mittelpunkt die Austrittsgemeinde in Frankfurt war – nach sich ziehen.109 Dies galt umso mehr, als der Mizrachi nach der Pressburger Konferenz im August 1904 ebenfalls die Mainmetropole zum regionalen Zentrum für Mittel- und Westeuropa erkor. Für die antizionistische Austrittsorthodoxie um den Frankfurter Rechtsanwalt und Religionsphilosophen Isaac Breuer (1883–1946), ebenfalls Enkel Hirschs, war dies nichts anderes als eine offene Provokation.110
Die Gründung der Agudat Israel
Für die deutsche Austrittsorthodoxie galt es nun, das Organisationsprinzip auf eine neue, verbesserte Grundlage zu stellen, um den Gefahren des Zionismus, insbesondere des Mizrachi, wirkungsvoll begegnen zu können. Spätestens seit 1908 hatte die Freie Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums unter Federführung ihres Schriftführers Jacob Rosenheim (1870–1965) die Absicht, eine antizionistische orthodoxe Weltorganisation ins Leben zu rufen. Nach langwierigen Verhandlungen zwischen traditionsorientierten Führern aus West und Ost, die ähnlich wie in der zionistischen Organisation vor allem auch um die Frage der Kulturarbeit kreisten, wurde Ende Mai 1912 in Kattowitz die Agudat Israel als weltweite Vereinigung der toratreuen Juden gegründet. Die Gründung der Agudat Israel war vornehmlich als Gegenmaßnahme zum organisierten religiösen Zionismus, dem Mizrachi, gedacht.111
Unmittelbarer Anlass zur Gründung der Agudat Israel war laut Jacob Rosenheim die "Frage des Austritts [des Mizrachi] aus dem Zionismus".112 Auf dem 10. Zionisten-Kongress in Basel 1911 hatte Hermann Struck als stellvertretender Vorsitzender des Mizrachi einen Brief des Oberrabbiners von Jaffa und den jüdischen Kolonien in Palästina, Abraham Jitzchak Hacohen Kook (Kuck) (1865–1935), verlesen, in dem dieser die mangelnde religiöse Observanz jüdischer Siedler, die auf Ländereien des Jüdischen Nationalfonds lebten, anprangerte.113 Ebenso stand der Vorwurf im Raum, das Schmita-Jahr sei nicht eingehalten worden.114 Damit wurde nicht nur das schon seit den Zeiten von Chowewe Zion bestehende Problem der Religiosität der zionistisch orientierten jüdischen Siedler wieder virulent, sondern ganz allgemein die Frage, ob die zionistische Organisation Kulturarbeit, vor allem in Palästina, betreiben solle. Kurz nach dem Kongress wurde Struck von der Warschauer jüdischen Zeitung Ha-Tsefira bezüglich des Verhältnisses des Mizrachi zur zionistischen Bewegung interviewt. Dabei erklärte er, dass "[j]eder Pfennig, den der Zionismus Institutionen, wie dem Jaffaer Gymnasium, in denen die Heiligtümer des jüdischen Volkes entweiht werden, zuwendet, … dem Misrachi Tausende von Seelen"115 entfremden würde. Wie Struck weiter deutlich machte, war ein Bruch des Mizrachi mit der zionistischen Bewegung auf Grund der Kulturfrage alles andere als unwahrscheinlich: "Kein Kompromiß! Entweder der Zionismus beschäftigt sich nicht mit Kultur, oder der Misrachi wird am Zionismus keinen Anteil haben!"
Die Möglichkeit eines Austritts des Mizrachi aus der zionistischen Organisation hatte offenbar die Gründung der Agudat Israel beschleunigt, da man im nichtzionistischen orthodoxen Lager befürchten musste, dass damit die Attraktivität des Mizrachi im traditionsorientierten Judentum zunehmen könnte. Zunächst blieb die Aguda, die sich eigentlich als orthodoxe Weltorganisation konstituiert hatte, auf Grund fehlender Landesverbände in Osteuropa eine auf Deutschland beschränkte Rumpforganisation.
Im Zuge des Vormarsches deutscher Truppen nach Osten im Laufe des Ersten Weltkriegs sollte sich dies jedoch ändern. Zusammen mit den Armeekorps gelangten auch deutsche Rabbiner entweder als Feldgeistliche oder als Berater der Besatzungsbehörden in das ehemalige Kongresspolen. Von größter Bedeutung waren dabei die beiden neo-orthodoxen Rabbiner Pinchas Kohn (1867–1941) und Emanuel Carlebach (1874–1927), die Anfang 1916 nach Warschau kamen, um dort die deutsche Zivilverwaltung in jüdischen Angelegenheiten zu beraten. Für Kohn und Carlebach war die Tatsache, dass in Polen keine eigene orthodoxe Organisation existierte, das größte Problem, fehlte doch damit dem traditionsorientierten polnischen Judentum, das die Mehrheit repräsentierte, Stimme und somit politisches Gewicht. Dieser Nachteil wirkte sich umso stärker aus, als alle anderen Strömungen innerhalb des Judentums bereits über gewisse organisatorische Strukturen verfügten. Angesichts dessen stellten sich die beiden deutschen Rabbiner von Beginn an die Aufgabe, das traditionelle Judentum in Polen unter einem Dachverband zu vereinigen. Dafür gründeten sie in Zusammenarbeit mit dem Gerer Rebben R. Arjeh Löb ben Abraham Mordechai Alter (1866–1948)[], dem wohl bedeutendsten chassidischen Führer in Polen, die Agudat Ha-Ortodoksim (Verband der Orthodoxen), eine Organisation toratreuer Juden in Polen, sowie eine jiddischsprachige Tageszeitung, Dos Jiddische Vort.
Neben der Vermittlung des modernen Organisationsprinzips und der Initiierung einer Vergesellschaftung des traditionsorientierten polnischen Judentums hatten diese Maßnahmen noch ein anderes Ziel. Nach dem Vorbild des deutschen Judentums sollte auch die polnische Orthodoxie konfessionalisiert und somit auf einen rein religiösen Charakter beschränkt werden. Was aber zu Samson Raphael Hirschs Zeiten in der deutschen Orthodoxie kaum auf Widerstand gestoßen war, erhielt in Polen im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine ungeheure Brisanz angesichts des inzwischen entstandenen politischen Zionismus und anderer nationaljüdischer Strömungen. Jeder Versuch, den traditionsorientierten jüdischen Massen einen ausschließlich konfessionellen Standpunkt zu vermitteln, musste zwangsläufig die nationalorientierten Juden auf den Plan rufen und zum äußersten Widerstand veranlassen. In der Absicht, jede Gemeinsamkeit mit den als irreligiös angesehenen Zionisten zu negieren, vernachlässigten die beiden Rabbiner dabei sogar die Mitsva (religiöses Gebot) der Ansiedlung in Erets Israel.
Spätestens seit der Balfour-Deklaration im November 1917 konnten die Repräsentanten der polnischen Aguda aber nicht mehr umhin, der Erets-Israel-Sehnsucht der traditionsorientierten Jugend entgegenzukommen, wollte man sie nicht an andere jüdische Gruppierungen – allen voran den Mizrachi – verlieren. Die Agudat Ha-Ortodoksim und die mit ihr verbundenen Organisationen, an deren Gründung Kohn und Carlebach maßgeblich beteiligt waren, sahen sich – gegen den Willen der beiden Rabbiner – zu einer Kurskorrektur veranlasst, die in einer stärkeren Betonung des nationalen Charakters des Judentums und vor allem einer Intensivierung der Erets-Israel-Aktivitäten in Form der Besiedlung des Heiligen Landes zum Ausdruck kam. In der Zwischenkriegszeit näherte sich die polnische Agudat Israel, wie sie nunmehr entsprechend der 1912 gegründeten Mutterorganisation hieß, sukzessive dem politischen Zionismus an, um schließlich ab der zweiten Hälfte der 1930er Jahre mit ihm in allen wichtigen Fragen zusammenzuarbeiten.116
Eine militant antizionistische Antwort des ultraorthodoxen Lagers: Die Gründung der Neturei Karta
Wenn auch die polnische Aguda ursprünglich eine stark antizionistische Stoßrichtung aufwies, so hatte sich diese doch nach Ende des Ersten Weltkriegs deutlich abgeschwächt. Eine derartige Kurskorrektur einer orthodoxen Vereinigung, die sich insbesondere in einem streng religiösen Siedlungswerk in Palästina äußerte, musste allerdings denjenigen Teil des ultra-orthodoxen Judentums in Osteuropa herausfordern, der aus theologischen Gründen jede Art des Kompromisses mit dem Zionismus bedingungslos ablehnte.
Rabbiner Chaim Eleazar Schapira (1872–1937), der Munkáscer Rebbe, einer der herausragendsten Repräsentanten des ungarischen Chassidismus, war nicht nur einer der radikalsten Antizionisten innerhalb des ultra-orthodoxen Judentums, sondern auch ein bedingungsloser Gegner der Agudat Israel. Für den Rebben waren die Anhänger der Aguda nichts anderes als Kollaborateure der Zionisten, in letzter Konsequenz sogar getarnte Zionisten, da sie ebenfalls die Ansiedlung von Juden, wenn auch unter streng religiösen Prinzipien, im Heiligen Land förderten und somit im Widerspruch zum religiösen Messianismus beim Aufbau eines jüdischen Staates mitwirkten. In seinen Augen hatten die Agudisten "mit ihrem Heuchlertum uns mehr Schaden zugefügt als alle Verruchten dieser Erde".117 Denn nach der von der Tradition bestimmten Meinung Schapiras und seiner Gefolgschaft war das Heilige Land allein zum Beten und zum Tora-Studium bestimmt. Demgegenüber trug die Aguda mit ihrer Politik, landwirtschaftliche Kolonien von observanten Juden in Erets Israel durch Einrichtung eines Fonds, des Keren Ha-Jischuv, zu fördern, dazu bei, dass den Jeschivot und anderen Institutionen des religiösen Studiums finanzielle Unterstützungen vorenthalten blieben und stattdessen den neuen Moschavim118 zukamen.119 Noch schwerwiegender war aber der Verstoß von Zionisten wie Agudisten gegen das Gebot der Passivität, wonach nicht der Versuch unternommen werden durfte, den Anbruch des messianischen Zeitalters vorzeitig durch Menschenhand herbeizuzwingen. Zusammen mit dem künftigen Satmarer Rebben, Rabbiner Jo'el Mosche Teitelbaum (1887–1979), der ebenfalls dem ungarischen Chassidismus entstammte, sollte der Munkácser Rebbe zu den geistigen Vätern einer radikal antizionistischen, militant orthodoxen Strömung im Judentum avancieren, die bis heute aktiv ist.
Bereits seit 1920 unterhielt Schapira mit dem Gerer Rebben eine intensive Korrespondenz, in der er diesem seine starken Vorbehalte gegenüber Agudat Israel immer wieder deutlich machte und ihn dazu aufforderte, seine Unterstützung für die orthodoxe Partei zu widerrufen. Nachdem drei Jahre ohne Ergebnis vergangen waren, entschied sich der Munkácser Rebbe für einen anderen Weg. 1922 berief er in das slowakische Csap eine Rabbinerversammlung, die sich aus unterschiedlichen Rebben des ungarischen, rumänischen und slowakischen Chassidismus zusammensetzte. Hauptgegenstand der Zusammenkunft war eine Diskreditierung der Agudat Israel und ihres Rabbinischen Rates.120 Das Treffen endete schließlich damit, dass jegliche Verbindung zur Aguda verboten wurde. Einer der Unterzeichner dieser Erklärung, der die Aussagen des Munkáscer Rebbe vehement unterstützt hatte, war der bereits erwähnte Rabbiner Teitelbaum. Ihm blieb es vorbehalten, Schapiras Weltbild auf eine theoretische Grundlage zu stellen und zum bedeutendsten Gegner des Zionismus und des Staates Israel innerhalb des traditionellen Lagers zu werden. Für den künftigen Satmarer Rebbe sollte sich die traditionelle Angst des streng observanten Judentums, das "Ende der Tage", also die Ankunft des Messias durch Zwang bzw. vorzeitig herbeiführen zu wollen und somit den Glauben in die göttliche Erlösung zu untergraben, zu einem der Grundpfeiler seiner Ideologie entwickeln. In diesem Sinne war das zionistische Projekt das andauernde antimessianische Werk des Satans selbst. In Erets Israel sollten sich daher, so Schapira, das ideologische Vorbild Teitelbaums, nur Juden ansiedeln, die im Sinne der Zeloten dazu bereit waren, sich allein mit dem Studium religiöser Texte zu beschäftigen und sich für ihren Glauben an Gott zu opfern. Wer hingegen im Heiligen Land aus weltlichen Gründen siedelte, war als Frevler zu betrachten, der eine Entweihung des Bodens beging. Dies galt gleichermaßen für die Zionisten wie auch für religiöse Juden, die beispielsweise Ackerbau betreiben wollten.121 Ihnen allen warf der Munkáscer Rebbe vor, den Glauben an die göttliche Erlösung verloren zu haben, da sie von sich aus aktiv wurden. Vor diesem Hintergrund war in den Augen Schapiras die Mitsvat Jischuv Erets Israel keineswegs allgemeingültig, sondern bezog sich nur auf das messianische Zeitalter selbst.
Den Zionismus deutete er als Ausgeburt Satans, als die gefährlichste Form eines falschen Messianismus, der keine Parallelen in der jüdischen Geschichte aufweise. In zahlreichen Predigten und Schriften verfluchte Schapira diesen als eine dämonische Macht, die nicht nur für alles Gute und Heilige im jüdischen Leben eine Gefahr berge, sondern auch für den ganzen Kosmos.122 Insofern deutete er die Besiedlung Erets Israels durch Zionisten als äußere Manifestierung der dämonischen und zerstörerischen Kräfte, die schon immer dem innersten Heiligtum anhafteten. Dementsprechend trat jeder gottesfürchtige Jude, der sich im Heiligen Land niederließ, in einen Kampf ein. Durch seine Immigration erklärte er dem Bösen den Krieg oder aber setzte sich im umgekehrten Fall dem schädlichen Einfluss dieser Macht aus. Wer aber wollte sich dieser Gefahr aussetzen?123 Dies konnten zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur Krieger, nur "gottesfürchtige Zeloten" sein, die aufbrachen, "um den gerechten Krieg um die Überreste von Gottes Vermächtnis im heiligen Berg Jerusalems zu führen". Laut Shapira sei es "äußerst gefährlich, im [Heiligen] Land zu siedeln, da die neuen Einwanderer, die vorgeben, ins Land aufzusteigen [entsprechend der zionistischen Terminologie der Alija bzw. der Olim], tatsächlich in die Tiefen der Hölle hinabsteigen. … Es ist nun lebensgefährlich, im Land [Erets Israel] zu siedeln. Angesichts all derer, die das Land schänden, werden die gottesfürchtigen Juden gegen ihren Willen dazu gezwungen, schwere Kämpfe zu führen."124 Damit hatte Schapira die ursprünglich ideologisch bedingte Ablehnung des zionistischen Projektes auf eine neue Ebene gehoben: "The original ideological rejection of the Zionist enterprise was thus transformed into a religious-existential terror, focusing upon the land's awesome power."125
Die sukzessive Herausbildung einer militant antizionistischen Gruppierung innerhalb des streng traditionalistischen Lagers hatte insofern eine stark transnationale Komponente, als Teile des ungarischen und slowakischen Chassidismus eine Allianz mit Splittergruppen der Ultra-Orthodoxie in Jerusalem eingingen. Nachdem 1932 Joseph Chaim Sonnenfeld (1849–1932), Rabbiner der ultra-orthodoxen Jerusalemer Gemeindeorganisation Eda Charedit (gottesfürchtige Gemeinde) gestorben war, drängten radikale Mitglieder darauf, Teitelbaum, der zu dem Zeitpunkt noch nicht der Satmarer Rebbe war, zum Nachfolger zu wählen. Die Gemäßigteren lehnten dies ab, konnten aber damit einen grundlegenden Konflikt innerhalb der Gemeinschaft lediglich aufschieben. Nur drei Jahre später sollte sich eine extreme Gruppe unter Führung der Rabbiner Amram Blau (1894–1974) und Aaron Katzenellenbogen auf Grund schwerer Meinungsverschiedenheiten bezüglich Erziehung und Selbstabsonderung von der Eda Charedit abspalten und damit den Grundstein für die 1938 erfolgte Gründung von Neturei Karta (Wächter der Stadt), einer bis heute aktiven ultra-orthodoxen antizionistischen Vereinigung, legen.126 1945 erlangte Neturei Karta im Gemeinderat der Eda Charedit die Mehrheit und somit die Kontrolle über die Organisation. Acht Jahre später wurde schließlich Joel Teitelbaum, der Satmarer Rebbe, Rabbiner der Gemeinde, womit sich der Kreis schloss. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, muss ergänzt werden, dass Teitelbaum im Grunde genommen nur virtueller Rabbiner der Eda war, da er weiterhin mit seiner Anhängerschaft in Williamsburg, Brooklyn, lebte. Allerdings war seine ganze Weltanschauung, insbesondere seine antizionistische Ideologie, bestimmend für die künftige Ausrichtung von Neturei Karta und Eda Charedit in Jerusalem.
Wie für das übrige Judentum waren auch für die weitere Entwicklung der 1938 gegründeten Neturei Karta zwei Vorgänge von einschneidender Bedeutung. Dies waren zum einen der Holocaust bzw. die industriell durchgeführte Vernichtung von sechs Millionen europäischer Juden und zum anderen die drei Jahre nach Kriegsende erfolgte Gründung des Staates Israel. Beides konnte nicht ohne Auswirkung auf die ideologische Grundlage der Neturei Karta und der mit ihr sympathisierenden ultra-orthodoxen, strikt antizionistischen Juden in Israel und der Diaspora bleiben. Während aber Zionisten und viele säkulare Juden Holocaust und jüdische Staatsgründung in antithetischem Sinn als (versuchte) Vernichtung und Wiederauferstehung bzw. Erlösung des jüdischen Volkes deuteten, wurden diese Ereignisse von den Anhängern der Neturei Karta keineswegs als konträre Entwicklungen wahrgenommen, sondern als ein zusammenhängender Prozess. Für den Satmarer Rebbe stellten die Schoa und die Entstehung Israels die letzten Ausbrüche der Mächte des Bösen dar, die – in Anlehnung an die im Talmud beschriebenen Geburtswehen des Messias – als Auftakt für die Erlösung in Form des messianischen Zeitalters zu werten waren.127 Teitelbaum ging jedoch noch einen Schritt weiter. In seiner zentralen Schrift über die drei Schwüre argumentierte er, dass der Holocaust die göttliche Bestrafung für die Missachtung der drei Schwüre, wie sie im babylonischen Talmud (Traktat, Ketubot, fol. 111a)128 enthalten sind, sei. Nach dieser Deutung habe Gott die Juden in dreifacher Form beschworen und in politischen Fragen während ihres Exils zur Passivität verpflichtet, ein Gebot, das die Zionisten jedoch verletzt hätten. Insofern machte Teitelbaum, der selbst durch die Bemühungen des ungarischen Zionisten Reszö Kasztner (1906–1957) 1944 vor der Vernichtung gerettet worden war, in erster Linie die Zionisten für die Schoa verantwortlich. Die Entgegnung religiöser Zionisten, dass die beiden ersten Schwüre – das Verbot einer Masseneinwanderung der Juden nach Erets Israel sowie das Verbot der Auflehnung gegen die nichtjüdischen Völker – nicht länger bindend seien, da die nichtjüdischen Völker das ihnen geltende Gebot (den "dritten Schwur"), wonach sie die Juden nicht übermäßig unterdrücken sollen, gebrochen hätten, ließ der Satmarer Rebbe nicht gelten. In seinen Augen enthob dies die Juden nicht ihrer Pflicht, die beiden ersten Schwüre weiterhin zu achten.129 Im Gegenteil hätten die Zionisten die nichtjüdischen Völker durch ihre Missachtung der beiden ersten Schwüre dazu veranlasst, auch ihre Verpflichtung zu brechen, was letztlich zur Schoa geführt habe. Der kollektiv begangenen Sünde folgte die kollektive Bestrafung durch Gott.
Vor dem Hintergrund dieser grundlegenden theologischen Deutung dürfte es kaum verwundern, dass im Gegensatz zur Mehrheit der ultra-orthodoxen und antizionistisch orientierten Juden die rabbinischen Führer und Anhänger der Neturei Karta auch nach der Staatsgründung jeglichen Kompromiss ablehnten. Während beispielsweise die Agudat Israel die Entstehung des Staates Israels akzeptierte, sich sogar an der Unabhängigkeitserklärung beteiligte und im Gegenzug bestimmte Garantien bezüglich der religiösen Praxis zugestanden bekam, lehnt die Neturei Karta bis heute die Existenz Israels grundsätzlich ab. Im Kern geht es dabei also nicht darum, ob der Staat säkular orientiert ist und dementsprechend vom religiösen Standpunkt betrachtet fragwürdige Gesetze verabschiedet, sondern darum, dass überhaupt ein jüdischer Staat besteht. Insofern kann auch das Streben nach einem "Tora-Staat" die Neturei Karta nicht befriedigen, da dieser Begriff für sie einen unlösbaren Widerspruch beinhaltet. Dort, wo die religiösen Gebote der Tora volle Beachtung finden, kann es auch keinen (von Menschenhand gegründeten) jüdischen Staat geben. Das sogenannte Israel, so die übliche Bezeichnung der Neturei Karta, sei ein Akt der Perversion und der Blasphemie, der durch nichts gerechtfertigt werden kann. Die einzig konsequente Reaktion kann nur sein, sich von diesem Staat, der die Grundpfeiler des jüdischen Glaubens allein durch seine Existenz missachtet und beschmutzt, vollständig zu lösen. Jedes Gesetz des Staates, selbst wenn es sich auf die religiöse Praxis bezieht, hat eine zionistische Grundlage und ist daher per se illegitim. Allein schon die Verwendung von Personalausweisen oder die Annahme von staatlichen Subventionen für das eigene Schulwesen wird ausgeschlossen, würde dies doch eine implizite Anerkennung Israels beinhalten.
Bis heute formen die Anhänger der Ideologie des Satmarer Rebbe ein transnationales Lager des militanten Antizionismus. So unterhält Neturei Karta nicht nur Synagogen in Jerusalem, sondern auch in den USA und in England, während die Satmarer Chassidim mit Kirjat Jo'el eine eigene abgeschlossene Kleinstadt im US-Bundestaat New York besitzen, in der inzwischen ca. 24.000 Personen leben. Hinzu kommt noch die kleine Gemeinde der Munkáscer Chassidim in den USA. Insgesamt beträgt die Anhängerschaft mehrere Zehntausend weltweit, wobei jedoch hinzuzufügen ist, dass sich inzwischen die Neturei Karta selbst gespalten hat. Ein Kreis von ca. 100 Familien erkannte die Autorität des Rabbinatsgerichtes der Eda Charedit nicht mehr an und suchte Anschluss an die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO),130 was soweit ging, dass die Neturei Karta beispielsweise an der Madrider Friedenskonferenz auf Seiten der palästinensischen Delegation mit drei Beratern vertreten war. Als im September 2007 der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad (*1956) vor den Vereinten Nationen in New York sowie an der Columbia-Universität seine Reden hielt, demonstrierten Vertreter der Neturei Karta für den Präsidenten Irans, wobei sie Plakate hochhielten wie "Das Judentum verurteilt die zionistische Provokation gegen den Iran" oder "Lest den Talmud: Juden im Exil ist es verboten, einen eigenen Staat zu haben".131 Zuvor hatten sich übrigens die Protestierer von Neturei Karta mit Ahmadinedschad, der immer wieder öffentlich Zweifel am Holocaust äußert, in herzlicher Atmosphäre persönlich getroffen. Besonders populär bei den Anhängern der Organisation ist auch die regelmäßig stattfindende öffentliche Verbrennung israelischer Flaggen.132