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Hegemoniale Männlichkeit, Männerbund und männliche Homosexualität
"Nichts ist so unstet wie Männlichkeit", schreibt Wolfgang Schmale in seiner Geschichte der Männlichkeit in Europa.1 Er bringt damit den forschungsstrategischen Bezugspunkt einer Disziplin auf den Punkt, die sich in enger Auseinandersetzung mit der feministischen Theoriebildung – zunächst in den USA, später auch im europäischen Wissenschaftskontext – seit Mitte der 1980er Jahre zunehmend ausgebreitet hat: die Männergeschichte. Männer und Männlichkeiten sind insbesondere seit den späten 1990er Jahren zu "einem prominenten, wenn nicht gar beherrschenden Thema der historischen Forschung" geworden.2 Damit sind auch zwei Facetten des gesellschaftlichen Konstrukts "Männlichkeit" verstärkt in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses gerückt, die das stete und gleichzeitig "unvermeidbare" Doing Gender3 und die performative Herstellung von Geschlechtsidentität im Rahmen der jeweiligen historischen und kontextuellen Bedingungen4 besonders "augenscheinlich" werden lassen: Männerbünde und Schwulenbewegungen. Das Modell der "hegemonialen Männlichkeit" des australischen Soziologen Robert Connell ist dabei zu einem Leitbegriff der sich konstituierenden Forschungsrichtung geworden. Es ist nicht zuletzt auch geeignet, das komplexe Verhältnis zwischen dominierenden Männlichkeitsvorstellungen, männerbündischen Strukturen und männlicher Homosexualität im Europa des 20. Jahrhunderts weiter auszuleuchten. Anhand zentraler Entwicklungslinien des hegemonialen Modells soll dies an einigen markanten Beispielen der europäischen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts gezeigt werden.
Connell definiert hegemoniale Männlichkeit "als jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis …, welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet (oder gewährleisten soll)".5 Er versteht darunter jene männlichen Attribute, die von einer Gesellschaft als erstrebenswert angesehen werden, gleichzeitig aber auch jene Normen und Praktiken von Männlichkeit, die von der dominanten Klasse zur Absicherung ihrer Interessen eingesetzt werden.6 Dieses streng dichotomisch aufgebaute, von der "überlegenen" Männlichkeit markierte und somit asymmetrische Modell war im Europa der Aufklärung entstanden und setzte sich insbesondere im 19. Jahrhundert – eng an Kapitalismus, Nationalismus und Imperialismus gekoppelt – ungebremst fort.7 Das Männlichkeitsbild dieses Modells wurde vor allem von soldatischen Tugenden, bestimmten sozialen und politischen – "staatsbildenden" – Fähigkeiten, durch die Rolle als Familienernährer und die Heterosexualität bestimmt. Homosexualität war damit zum "konstitutiv Anderen" geworden, homosexuelle Männlichkeiten in der Terminologie Connells zu "untergeordneten Männlichkeiten". Diese sind heterosexuellen Männlichkeiten mittels einer Reihe "handfester Praktiken" untergeordnet, die "politischen und kulturellen Ausschluss, kulturellen Mißbrauch …, staatliche Gewalt (beispielsweise Gefängnisstrafen aufgrund von Sodomieparagraphen), Gewalt auf den Straßen (reicht von Einschüchterung bis zum Mord), wirtschaftliche Diskriminierung und Boykottierung der Person" umfassen können.8 Der "Sodomit" des Mittelalters, könnte man mit Michel Foucault (1926–1984) zusammenfassend sagen, wurde im 19. Jahrhundert vom "Gestrauchelten" zur "Spezies", wobei Foucault vor allem die Rolle der Sexualwissenschaft in diesem Prozess der Grenzziehung zwischen Homo- und Heterosexualität akzentuiert.9 Auch wenn das dominante Männlichkeitsmodell in den ersten zwei bis drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts immer wieder Modifikationen und Krisentendenzen aufwies, blieb es in der Folge doch hegemonial und erlebte schließlich eine Radikalisierung, insbesondere im italienischen Faschismus und im Nationalsozialismus.10 Erst die unter dem Schlagwort "68er-Bewegung" zusammengefassten Diskurse um die Enttabuisierung des Geschlechtlichen, die Liberalisierung der Sexualität und die Dekonstruktion des Weiblichen wie Männlichen führten vor dem Hintergrund globaler und nationaler Transformationsprozesse zu weitreichenden Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen. Männerbünden kam und kommt in diesem Prozess der Herausbildung und Entwicklung hegemonialer Männlichkeit eine zentrale Bedeutung zu, insbesondere was deren Funktion zur Absicherung traditioneller Geschlechterbilder und Machtverhältnisse betrifft. Was aber ist nun genau ein Männerbund? Mit Gisela Völger und Karin von Welck lassen sich Männerbünde allgemein definieren als
Zusammenschlüsse von Männern, die freiwillig und bewußt geschlossen wurden. … Mit der Mitgliedschaft in einem Männerbund ist die Anerkennung von Werten und geistigen Zielen verbunden, die häufig eine Überhöhung des in der jeweiligen Gesellschaft geltenden Wertesystems darstellen. Wesentliche Charakteristika sind zudem eine gewisse Esoterik mit der Aura des Geheimnisvollen, ein Aufnahmeritus (Initiation) und eine hierarchische Struktur. Am Anfang eines Männerbundes steht oft eine charismatische Führerpersönlichkeit, der sich die Mitglieder bedingungslos unterordnen.11
Eine erweiterte Definition von Männerbünden gibt Helmut Blazek. In Anlehnung an den Ethnologen Thomas Schweizer (1949–1999) nennt er als Merkmale für sämtliche Männerbünde die "räumliche und gesellschaftliche Absonderung" der Männer sowie die "Überbetonung bzw. 'Dramatisierung der Männerrolle', welche in 'spontane Gewaltakte' einmünden kann". Zusätzlich zu diesen und den bei Völger und von Welck bereits ausgeführten Merkmalen nennt Blazek ein (tatsächliches oder Außenseitern vorgespieltes) Geheimwissen, die Ausgrenzung und/oder Abwertung von Frauen, die zentrale Bedeutung (homoerotischer) Äußerungen verdrängter Sexualität, die Förderung des Zusammenhalts durch rauschhafte, irrationale Gruppenerlebnisse, das vielfach elitäre Sendungsbewusstsein der Mitglieder und die Funktion von Männerbünden "als Sprungbrett für den sozialen und ökonomischen Aufstieg ihrer Mitglieder" als weitere Charakteristika.12 Bünde knüpfen damit an Verhaltensweisen an, die "in der Sozialisation von Jungen bereits sehr früh angelegt wurden": die "Herstellung von Männlichkeit über Abgrenzung".13 "Klassischen" Beispielen für Männerbünde nach dieser Definition, wie den Freimaurern[], studentischen Burschenschaften oder Skin-Gruppierungen, stehen dabei eine Vielzahl von Vereinigungen gegenüber, die zwar nicht im engeren Sinn als Männerbund zählen, aber von einer "Männerbund-Mentalität" geprägt sind und somit das hegemoniale Modell stützen. Diese Männerbund-Mentalität, "die sich in allen relevanten gesellschaftlichen Bereichen nachweisen lässt" und bei so verschiedenen Organisationen wie politischen Parteien, Gewerkschaften, Fußball-Clubs bis hin zur Hitler-Jugend zutage tritt, zeichnet sich nach Blazek durch folgende Merkmale aus: Erstens "dominieren gefühlsbetonte, nichtrationale und teilweise auch homoerotisch besetzte Männerbeziehungen". Zweitens werden "[m]ännerkultische Verhaltensweisen (Potenzprahlerei, Kameraderie, antidemokratische Heldenverehrung, Trink- und Schlagfestigkeit,[][] ausgeprägter Ehrenkodex)" kultiviert und drittens schließlich "Feindbilder wie 'Frauen', 'Schwule', 'Ausländer', 'Asylanten', 'Arbeitslose' , 'Sozialhilfeempfänger' … aufgebaut. Der Feind wird als negatives Gegenbild zum Freund, also zum Gleichgesinnten, entworfen."14
"Sonderfall" Deutschland
Männerbünde und männerbündische Strukturen lassen sich in unterschiedlichen Kulturen zu verschiedenen Zeiten nachweisen und können somit auch verschiedene Bedeutungen haben, wie zahlreiche ethnologische Untersuchungen gezeigt haben.15 Auch in Europa – man denke etwa an die Männergesellschaften im alten Griechenland oder die Ursprünge des abendländischen Mönchtums16 – hat es sie bereits lange gegeben, bevor noch das hegemoniale Männlichkeitsmodell seinen "Siegeszug" angetreten hat. Zu beobachten ist jedoch einerseits, "daß offenbar die Zahl und Machtfülle von Männerbünden mit der Komplexität von Gesellschaften steigt: Nirgends gibt es mehr Männerbünde als in der 'westlichen Welt'".17 Andererseits fällt gerade im europäischen Kontext eine gewisse Sonderstellung Deutschlands bei der Herausbildung von Männerbünden und – in einem komplexen Spannungsverhältnis dazu – zur Herausbildung der weltweit ersten Homosexuellenbewegung auf. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es Frauen im Zuge der so genannten "Ersten Frauenbewegung" allmählich gelang, in jene Bereiche des öffentlichen Lebens vorzudringen, aus denen man sie im 19. Jahrhundert ausgeschlossen hatte18 – und somit das hegemoniale Männlichkeitsmodell anzugreifen –, wurde im Kaiserreich seit der Jahrhundertwende in wissenschaftlichen Abhandlungen und politischen Statements zunehmend häufiger die Gefahr einer "Entmännlichung" der Politik und einer "Feminisierung" des Staates beschworen. Auffällig ist, dass in diesen Debatten um Politik und Männlichkeit die Diskussionen um männliche Homosexualität besonders intensiv ausgefochten wurden.19 Deutschland nimmt dabei insofern eine Sonderstellung ein, als es seit der Wende zum 20. Jahrhundert stärker als jede andere Nation mit Debatten über Homosexualität beschäftigt war. Alle Konzepte, die auf eine Erklärung des Phänomens gleichgeschlechtliches Begehren zielten, sind in dieser Zeit zuerst in Deutschland entwickelt worden, und auch die öffentliche Diskussion über Homosexualität wurde nirgendwo sonst so intensiv geführt.20 Dabei wurde in den Debatten über Sexualmoral, sexuelle Laster und insbesondere über männliche Homosexualität stets auch das durch die Frauenemanzipation ins Wanken geratene Machtgefüge zwischen den Geschlechtern verhandelt.21 Insofern nimmt es nicht Wunder, dass auch der Begriff des Männerbundes erstmals in Deutschland in die wissenschaftliche Literatur eingeführt wurde, nämlich im Jahr 1902 vom Ethnologen Heinrich Schurtz (1863–1903). "Diente die Entwicklung von Männerbund-Theorien einerseits der Bekämpfung der Angst vor den Frauen, so erfüllte sie auf der anderen Seite die Funktion, sich von der zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstehenden Massenkultur abzugrenzen."22 Während Schurtz seine Thesen vom "Weib" als "Hort aller Gesellschaftsformen" und dem "Mann" als "Vertreter aller Arten des rein geselligen Zusammenschlusses und damit der höheren sozialen Verbände"23 vor allem auf die Auswertung von Daten über so genannte Naturvölker stützte, sollte 1917 mit Hans Blühers (1888–1955) Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft ein weiteres zentrales Werk erscheinen, das die hohe Bedeutung von Männerbünden für die gesellschaftliche Entwicklung unterstrich.24 So vertrat Blüher die Ansicht, dass nur ein Männerbund dem Mann ermögliche, seine Fähigkeiten voll auszuschöpfen. Die Elite des Staates müsse daher durch die Schule des Männerbundes gehen – "eine These, die die Nationalsozialisten allzu gern übernahmen".25 Interessant ist die auch bei Blüher starke, zeittypische Beschäftigung mit Homoerotik, die nach seiner Auffassung für die Entstehung und den Zusammenhalt des Männerbunds verantwortlich sei.26 Verwirklicht sah Blüher seine Vorstellungen in der 1901 gegründeten, ausschließlich jungen Männern vorbehaltenen "Wandervogelbewegung"27 oder dem literarischen Männerbund um den Dichter Stefan George (1868–1933). Blühers später von den Nationalsozialisten sehr selektiv aufgegriffene Ideen sind Aspekte jener "Diskurs-Explosion" zur "conträren Sexualempfindung"28, die auch den Grundstein für eine kollektive Selbstorganisation der "betroffenen" Individuen in der Ersten Homosexuellenbewegung legte. Zu deren führenden Persönlichkeiten zählte der Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld (1868–1935)[]. Gemeinsam mit dem Verleger Max Spohr (1850–1905) und anderen rief Hirschfeld am 15. Mai 1897 in Berlin das "Wissenschaftlich-humanitäre Komitee" (WhK) ins Leben, die weltweit erste Homosexuellenorganisation,29 die sich vor allem den Kampf gegen den seit 1871 bestehenden, einschlägigen Paragraphen 175 an die Fahnen geheftet hatte.30 Zwar gab es auch in anderen europäischen Städten wie Rom, Wien und Brüssel "Uraniden-Bünde", die jedoch ausschließlich im Geheimen operierten: "Das Komitee war aber insofern eine Schwulenorganisation neuen Typs, als es jede Geheimniskrämerei vermied und sich stattdessen aufklärend und propagandistisch an die heterosexuelle Öffentlichkeit wandte …".31 Die Arbeit des WhK richtete sich in der Folge auch auf andere Länder. In den Niederlanden, in England und in Österreich entstanden Ableger, aus denen sich teilweise eigenständige Organisationen bildeten.32 Anknüpfend an Karl Heinrich Ulrichs (1825–1895) entwickelte Hirschfeld eine Konzeption, der zufolge sich alle Menschen auf einer biologischen Skala befinden, die vom "Vollmann" bis zum "Vollweib" reicht, die aber in sich in eine Vielzahl von sexuellen Zwischenstufen untergliedert werden kann.33 Im geistigen Umbruchklima nach dem Ersten Weltkrieg gelang es Hirschfeld am 6. Juli 1919 schließlich auch, sein lange geplantes "Institut für Sexualwissenschaft" in einer Villa im Berliner Tiergarten zu eröffnen.34 Das Institut erregte von Anfang an internationales Aufsehen und trug maßgeblich zum kosmopolitischen Flair Berlins in den 1920er Jahren und seiner Vorreiterrolle in der Ersten Homosexuellenbewegung bis zum Machtantritt der Nationalsozialisten bei.35
Nationalsozialismus, Männerbundmentalität und Homosexualität
Die intensive Beschäftigung mit Männerbund-Theorien sowie die historisch neuen Identitätsentwürfe, die als Ergebnis des gesellschaftlichen Diskussions- und Konstruktionsprozesses von Homosexualität in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entstanden, verweisen auf Modifikationen und Krisentendenzen des hegemonialen Modells. Festzuhalten ist jedoch, dass trotz dieser Krisenerscheinungen in dieser Zeit noch "kein wirklich neues Männlichkeitsmodell" entstand. Vielmehr erlebten das militarisierte Modell und Ausgrenzungslogik, für die bereits im 19. Jahrhundert der Grundstein gelegt worden war, eine "Radikalisierung", insbesondere im italienischen Faschismus und im Nationalsozialismus.36 Erneut spielten Männerbünde und die Beschäftigung mit (männlicher) Homosexualität in diesem Prozess eine zentrale Rolle.
Das Männerbild des Nationalsozialismus muss vor dem Hintergrund der gewollten Abgrenzung zum bürgerlichen Männlichkeitsbild und somit auch zur demokratischen Republik gesehen werden. Der idealisierte männliche Körper wurde zum Symbol für die Erschaffung des faschistischen Staates. Kühne hebt in diesem Zusammenhang vor allem die Relevanz des Leitbildes der Kameradschaft als dem männlichen Vergesellschaftungsmodell hervor.37 Kameradschaft steht dabei in einem dialektischen Verhältnis zu Wettbewerb, den man als Modus begreifen kann, in dem sich unterschiedliche Männlichkeiten zueinander in ein hierarchisches Verhältnis setzen.38 Diese für Männerbünde typische Dialektik von Kameradschaft und Wettbewerb lässt sich bereits im 19. Jahrhundert nachvollziehen, wenn man etwa an die oben erwähnten Institutionen des Duells bzw. die Fecht- und Trinkrituale studentischer Verbindungen denkt. Beide basieren nicht nur auf dem Ausschluss von Frauen, sondern machen auch die kompetitive, intern hierarchisch gegliederte Struktur der bürgerlichen Männlichkeit sichtbar.39 Im 20. Jahrhundert entfaltete diese Dialektik schließlich ihre volle Dynamik, wie sich an der zentralen Bedeutung des Kameradschaftsbegriffs "als Leitbild einer staats-, gesellschafts- und geschlechterpolitischen Umwälzung" bis in den Nationalsozialismus hinein ablesen lässt.40 War die "Schützengrabenkameradschaft" des Ersten Weltkriegs zunächst als "Inbegriff der Geborgenheit einer Gemeinschaft gleichrangiger Männer, meist einfacher Mannschaftssoldaten" erlebt worden, bog die NS-Propaganda sie in zweierlei Hinsicht ab: einerseits ins Hierarchische, was unter anderem in der arischen Exklusivität zum Ausdruck kam, andererseits ins Heroisch-Martialische. Frontkameradschaft wurde nun zur "Keimzelle eines 'neuen Menschen'".41 Elemente des spezifisch deutschen Männerbund-Gedankens wurden dabei mit "völkischem", "germanenkundlichem" Gedankengut vermischt.42 Trotz der nationalsozialistischen Wertschätzung von "Familie" und "Sippe" erklärt sich aus dieser Konzeption auch die zentrale Bedeutung der auf Führung und Gefolgschaft basierenden, männerbündisch organisierten Organisationen wie SA, SS, Hitler-Jugend bis hin zu Eliteverbänden wie der "Leibstandarte Adolf Hitler".43
Anders als etwa bei Blüher grenzte sich das nationalsozialistische Männerbunddenken zwar gegen die als "weibisch" angesehene männliche Homosexualität ab, ist aber aufgrund der libidinösen, hierarchisch organisierten Bindung der Bundesbrüder an den "Männerhelden" in ihrer Homosozialität durchaus homoerotisch konnotiert. Dies wurde für die NSDAP zunehmend zu einem Problem. Nach innen befürchteten einige NSDAP-Führer (in der Parteiführung waren dies vor allem Adolf Hitler (1889–1945) und Heinrich Himmler (1900–1945), Homosexualität stelle eine Bedrohung für ihre "männlichen", militärischen Organisationen dar, da die für den Zusammenhalt notwendige und propagierte Kameradschaft zur Homosexualität "degenerieren" könne.44 Nach außen musste dem von den Gegnern des Nationalsozialismus zunehmend vorgebrachten Vorwurf der Homosexualität, etwa innerhalb der SA, und der Verwendung des Stereotyps des "homosexuellen Nazis" entgegnet werden.45 So lässt sich auch die immer stärker werdende Verfolgung homosexueller Handlungen erklären. Insbesondere nach der "Machtergreifung" 1933 änderten sich die Dinge. Nach der Ermordung des Stabschefs der SA, des mehr oder wenig offen homosexuell lebenden Ernst Röhm (1887–1934), und vieler seiner Gefolgsleute46 setzte eine verschärfte Verfolgung Homosexueller ein, die in vielen Fällen mit der Einweisung in ein Konzentrationslager endete.47 Die SS wurde zur unangefochtenen Terrorelite des "Dritten Reichs" und am 10. Oktober 1936 war die "Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung" eingerichtet, deren Hauptaufgabe die "zentrale Registrierung und Erfassung Homosexueller" war.48
"Remaskulinisierung" und Homophilenbewegung
Die "Zivilisierung" der Männlichkeit nach 1945, schreibt Kühne, "beendete jene Militarisierung der Männlichkeit, die in Deutschland mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht zu Beginn des 19. Jahrhunderts begonnen hatte und im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg kulminiert war".49 Freilich bedeutete sie jedoch nicht das Ende männerbündischer Strukturen. Um die "in Unordnung"50 geratene Gesellschafts- und Geschlechterordnung wieder zu stabilisieren, musste den Männern ihr Platz in der Gesellschaft zurückgegeben werden. So lässt sich für die 1950er und 1960er Jahre im Zusammenhang mit der Kriegsbewältigung und der Rekonstruktion der Gesellschaft eine deutliche "Remaskulinisierung" und Rekonstruktion des hegemonialen Männlichkeitsmodells in beiden deutschen Staaten – sicherlich unter verschiedenen Vorzeichen – nachweisen.51 Wiedererstarkten Netzwerken ehemaliger Nationalsozialisten52 kam dabei eine ebenso große Bedeutung zu wie etwa der im Juni 1950 nach dem nationalsozialistischen Verbot in Westdeutschland neu gegründeten "Deutschen Burschenschaft".53 Nachdem es "seines allzu militärischen Charakters entkleidet" war, wurde das hegemoniale Modell allerdings nun in der Wirtschaftswunderzeit "konsumgesellschaftlich verbürgerlicht", "keineswegs nur in Deutschland, sondern in praktisch allen europäischen Gesellschaften". Produkte als Massenmedien wurden damit immer mehr auch Kanäle zur Vermittlung von Weiblichkeit und Männlichkeit. 54 Darüber hinaus überdauerte der homophobe gesellschaftliche Konsens das "Dritte Reich" viele Jahre.55 Trotzdem begannen sich in Deutschland – wie in vielen anderen europäischen Ländern – allmählich so genannte "Homophilengruppen" zu etablieren. Zentrales Anliegen dieser Organisationen war der Kampf gegen die rechtlichen und gesellschaftlichen Benachteiligungen.56 Es setzte eine bis zur Gegenwart andauernde Internationalisierung der Homosexuellenbewegung ein, wobei Amsterdam mit seinen einschlägigen Lokalen und politisch arbeitenden Gruppierungen wie dem "Cultuur- en Ontspannings Centrum (COC)" zunehmend den Ruf einer "schwulen Hauptstadt" Europas erhielt.57
1968 und die Folgen
Tiefgreifende Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen und eine weitergehende rechtliche Gleichstellung brachte jedoch erst die so genannte "68er-Bewegung". So werden die verschiedenen Protestbewegungen bezeichnet, die in einem international breiteren Kontext die Studentenbewegung der 1960er Jahre ebenso umfasst wie etwa die Außerparlamentarische Opposition in Deutschland, die (internationale) Hippie-Bewegung, die Schwarze Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King (1929–1968), die März-Unruhen 1968 in Polen, den "Pariser Mai", den "Prager Frühling", die Volksbefreiungsarmee der Türkei oder die Zengakuren in Japan.58 Die 68er-Bewegung legte die Grundlagen für einen "Demokratisierungsschub, der die asymmetrischen Geschlechterverhältnisse erschütterte"59 und Bereiche, die vorher als "typisch männlich" galten, wie viele Berufe, Politik, Wissenschaft etc., für Frauen zugänglich machte. Die breiten Umwälzungen in allen Lebensbereichen und die bewussten Interventionen der verschiedenen sozialen Befreiungsbewegungen machten es möglich, dass das hegemoniale Männlichkeitsmodell vom Sockel gestürzt und dekonstruiert werden konnte.60 Damit war auch die Chance für neue homosexuelle Identitätskonstruktionen in der Zweiten Schwulen- und Lesbenbewegung gegeben, die selbst maßgeblich zur Dekonstruktion dieses Männlichkeitsmodells beitrug.61 Die "Stonewall Rebellion" wurde dabei weltweit zu einer Art "Gründungsmythos". Im New Yorker Stadtteil Greenwich Village hatte die Polizei im Juni 1969 versucht, einige Stammgäste des "Stonewall Inn", einer Bar mit überwiegend homosexuellen Gästen in der Christopher Street, festzunehmen. Einige wehrten sich gegen die Verhaftung, und draußen auf der Straße begannen sympathisierende Passanten, unter ihnen viele Transvestiten, den Widerstand zu unterstützen, zunächst mit Pfeifkonzerten und Buhrufen, später auch mit körperlicher Gewalt: Es entwickelte sich die "Stonewall Rebellion", die mehrere Tage und Nächte dauerte und "rückblickend als eine Art Katalysator für die Gay-Liberation-Phase der Bewegung" angesehen werden kann.62
In Europa sollte solch ein öffentliches Auftreten von Homosexuellen erst ab 1970 erfolgen. So wurden die Ideen der neuen Bewegung – insbesondere die Gestaltung eines selbstbestimmten Lebens – im Herbst 1970 von zwei britischen Studenten von den USA nach London getragen, wo sie an der London School of Economics das erste englische "Gay Liberation-Meeting" organisierten.63 Noch im selben Jahr entstand in Paris die "Front Homosexuel d'Action Révolutionnaire" (FHAR), im August 1971 in Deutschland die "Homosexuelle Aktion Westberlin", einige Monate später in Italien die "Fronte Unitario Omosessuale Rivoluzionario Italiano". Ähnliche Organisationen, die vielfach vom Marxismus und einer marxistisch inspirierten Psychoanalyse beeinflusst waren und eine Veränderung der als rassistisch, imperialistisch und sexistisch analysierten Gesellschaft in toto anstrebten, entstanden auch in anderen europäischen Ländern sowie in Kanada und Australien.64
Seit den 1980er Jahren lassen sich allerdings erhebliche Veränderungen in dieser Zielsetzung und eine stetige Professionalisierung, aber auch Kommerzialisierung der Schwulenbewegung konstatieren, die von diesen ursprünglichen Idealen zunehmend wegführen. Mit der vermehrten gesellschaftlichen Anerkennung ist eine Ausdifferenzierung der "Gay Community" in verschiedene Szenen mit Mehrfachzugehörigkeiten und Hybridbildungen erfolgt. Gerade durch die Vernetzungsmöglichkeiten und die erweiterten, aber gleichzeitig standardisierten Kommunikationsräume im Internet65 – lässt sich gegen Ende des 20. und am Beginn des 21. Jahrhunderts auch eine Normierung und Normalisierung beobachten, die unter dem Schlagwort "gay lifestyle" subsumiert werden können. Individualisierung und Orientierung am Konsum sind zentrale Elemente dieses stark internationalen "gay lifestyles", der als Identitätsentwurf für homosexuelle Männer nicht zuletzt deswegen eine solch dominante Stellung erreichte, weil er die Integration in die neoliberal geprägte "westliche" Gesamtgesellschaft in einem bis dahin ungekannten Ausmaß ermöglichte.66
Wesentlichen Anteil an dem – freilich europaweit betrachtet extrem ungleich auftretenden67 – "cultural moment of hypervisibility"68 homosexueller Identitätsentwürfe gegen Ende des 20. Jahrhunderts hatte paradoxerweise auch die seit etwa Mitte der 1980er Jahre einsetzende, rasante Ausbreitung der durch HIV ausgelösten Immunschwächekrankheit AIDS. Nach anfänglicher massiver Stigmatisierung Erkrankter, gegen die sich engagierte Homosexuelle bald zu wehren begannen, setzte sich im massenmedialen und staatlichen Umgang mit HIV/AIDS eine "liberale", auf Aufklärung setzende Präventionsstrategie und Berichterstattungspraxis durch. Die gehäufte Berichterstattung über HIV/AIDS führte sogar dazu, dass in einem nie gekannten Ausmaß über Homosexualität informiert wurde, und so letzten Endes die Akzeptanz für Homosexuelle in der Mehrheitsbevölkerung stieg.69 Im Kontext der Auseinandersetzung mit der Krankheit entstanden – wiederum primär in den USA – Queer-Konzepte, denen es um eine grundsätzliche Infragestellung dichotomer Kategorien wie männlich-weiblich, homosexuell-heterosexuell etc. geht.70 Inwieweit diese künftig in der Lage sein werden, den neoliberalen "gay lifestyle"-Konzeptionen entgegenzuwirken, bleibt abzuwarten.
Irreversible Errungenschaften?
Mit Schmale kann von einem Übergang des hegemonialen Männlichkeitsmodells zu "polymorphen Männlichkeiten" in der postmodernen Gesellschaft gesprochen werden. Polymorphe Identitätsbildungen, soziokulturelle Pluralisierungsprozesse und nicht zuletzt politisch verordnete Gleichberechtigungsnormen lassen der hegemonialen Männlichkeit immer weniger Raum.
Bis mindestens Anfang der 1980er Jahre entwickeln sich neue oder alternative Männlichkeiten im Rahmen der konfliktreichen Auseinandersetzung mit dem hegemonialen Männlichkeitsmodell, von dem zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch wesentlich mehr als nur Spuren übrig geblieben sind. Aber seit den 1960er Jahren existieren andere Entwürfe von Männlichkeit, die keinen hegemonialen Charakter haben bzw. haben können. Die bürgerliche Gesellschaft und die anderen Vorausbedingungen des hegemonialen Modells kommen der Männlichkeit abhanden.71
Dies bedeutet freilich keinesfalls, dass nicht weiterhin erhebliche "Beharrungstendenzen"72 existieren, die traditionelle Männlichkeitsbilder sowie auf Machterhalt ausgerichtete Männerbünde attraktiv erscheinen lassen. Blazek befürchtet sogar, dass männerbündische Strukturen mit ihren vereinfachenden Orientierungsangeboten angesichts der "neuen Unübersichtlichkeit"73 in postmodernen Gesellschaften wieder vermehrten Zuspruch erleben werden.74 Diese Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, denkt man etwa an neonazistische Vereinigungen, denen mit dem Internet die Möglichkeit zur einfachen weltweiten Vernetzung eröffnet ist.75 Sicherlich besteht angesichts der geschilderten Entwicklungen in manchen europäischen Gay Communities zudem die Gefahr, dass sich homosexuelle Männlichkeiten zu dem entwickeln könnten, was Connell "komplizenhafte Männlichkeiten" nennt: Diese würden den normativen Ansprüchen des hegemonialen Modells zwar nicht wirklich genügen, stützen sie aber, weil sie "an der patriarchalen Dividende teilhaben".76 Dennoch verweisen die "Krisensymptome" von "Männlichkeit", wie sie sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts in der intensiven gesellschaftlichen Diskussion über Männlichkeitsvorstellungen zeigten,77 ebenso wie die historisch neue Bandbreite verschiedenster Konzepte von "offen gelebter" Homosexualität bzw. nicht-heterosexueller Sexualität in letzter Konsequenz darauf, was Connell 2000 als "irreversible Errungenschaft der letzten 25 Jahre" bezeichnete: "die Existenz einer dauerhaften Alternative zur hegemonialen Männlichkeit".78