Voraussetzungen und Hintergründe der Entstehung der zionistischen Bewegung
Verschiedene Faktoren führten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Entwicklung und Verbreitung zionistischer Ideen sowie schließlich zur Entstehung einer Nationalbewegung mit festen Organisationsstrukturen. Die Bedrohung der jüdischen Bevölkerung in Osteuropa durch den Antisemitismus war insbesondere nach den Pogromen in Russland 1881/1882 ein wichtiger Beweggrund für die Bemühungen um eine Ansiedlung von bedrängten Juden in Palästina. Sie kann jedoch nicht als alleiniger Auslöser zionistischer Denkweisen gelten, denn die jüdischen Gemeinschaften in Europa hatten im Laufe der Jahrhunderte schon viele andere Phasen der Verfolgung durchlebt, ohne dass Ideen zur Gründung eines jüdischen Staates und Bestrebungen zur Kolonisation Palästinas eine derartige Resonanz gefunden hätten. Im späten 19. Jahrhundert gingen diese Bedrohungen aber einher mit weiteren Prozessen, die teils allein die jüdische Bevölkerung betrafen, teils aber auch als gesamteuropäische Phänomene zu betrachten sind. Trotz der großen Unterschiede zwischen den jüdischen Gemeinschaften in den einzelnen europäischen Ländern brachten diese Prozesse auch Faktoren hervor, die grenzübergreifende Interaktionen begünstigten.
Die jüdische Diaspora erstreckte sich im 19. Jahrhundert über viele Länder, wobei der Siedlungsschwerpunkt der Gesamtjudenheit in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa lag. Sowohl die rechtliche Situation der jüdischen Gemeinschaften als auch ihre innere Entwicklung wiesen je nach Region große Unterschiede auf. In Westeuropa war der Emanzipationsprozess gegen Ende des Jahrhunderts weit fortgeschritten. Die rechtliche Gleichstellung eröffnete den Juden neue Möglichkeiten wirtschaftlicher Eingliederung, als weitaus schwieriger erwies sich jedoch vielfach die gesellschaftliche Integration.
Die Lebenswelten der Juden in Osteuropa hatten seit den Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts und der dadurch bedingten Zersplitterung des ehemals zu Polen-Litauen gehörenden jüdischen Siedlungsgebietes tiefgreifende Veränderungen erfahren. Die jüdischen Gemeinschaften des zuvor dem polnisch-litauischen Reich zugeordneten Siedlungsgebiets unterstanden nun im Habsburger-Reich, in Preußen bzw. im Zarenreich jeweils unterschiedlichen Gesetzgebungen und nahmen daher in jedem Herrschaftsgebiet eine eigene Entwicklung. In den Gebieten unter österreichischer und russischer Herrschaft hatten besondere Besteuerungen, Verbote im Wirtschaftsleben und Einschränkungen hinsichtlich der Ansiedlung eine zunehmende Verarmung der Bevölkerung zur Folge. Während Österreich die jüdische Bevölkerung im ehemals polnischen Galizien und in der früher zum Osmanischen Reich gehörenden Bukowina 1867 rechtlich gleichstellte, blieb die Emanzipation der Juden im Zarenreich aus. Die jüdische Bevölkerung in Westeuropa reagierte auf Herausforderungen der Moderne mit verstärkten Integrationsbestrebungen, die vielfach dazu führten, dass jüdische Traditionen aufgegeben wurden. Demgegenüber blieben im Osten – auch bedingt durch die staatlichen Siedlungsrestriktionen, die einen Zuzug der jüdischen Bevölkerung in die großen Städte behinderten – relativ autonome jüdische Gemeinschaften am Rande der Mehrheitsgesellschaften bestehen, die ihre kollektiven Strukturen weit über den religiösen Bereich hinaus beibehielten. Parallel dazu hatte sich eine kleine säkulare, zunächst noch auf Integration und Emanzipation setzende geistige Elite herausgebildet.
Ebenso wie die Industrialisierung und die nachfolgenden lebensweltlichen Veränderungen der jüdischen Gemeinschaften in Europa ist auch der wachsende Nationalismus der die Juden umgebenden Völker als eine Herausforderung für sie sowohl in West- als auch in Osteuropa zu betrachten, die jedoch unterschiedliche Reaktionen auslöste. Für viele Juden in Westeuropa zog der Eintritt in die modernen Gesellschaften eine Neudefinierung jüdischer Existenz auf rein konfessioneller Grundlage nach sich. Hatte zuvor die Religion alle Lebensbereiche der Juden bestimmt und ein bedeutendes Identitätskriterium dargestellt, verbreiteten sich infolge der Säkularisierung Akkulturations- und Assimiliationstendenzen, die ein neues Selbstverständnis vieler Juden in Westeuropa zur Folge hatten: Sie betrachteten sich als der sie umgebenden Nation zugehörig und verstanden sich nunmehr als Deutsche (Engländer, Franzosen) jüdischen Glaubens. Den unterschiedlichen jüdischen Gemeinschaften in den Vielvölkerreichen der Habsburger und der Romanovs fehlte dagegen ein derartiger Bezugsrahmen, aufgrund ihrer "wesentlich transterritorial und transnational formierten Lebenswelten" waren sie eher als "imperiale Bevölkerung" zu charakterisieren.1
Da die nationalistischen Tendenzen in den Mehrheitsgesellschaften häufig mit antisemitischen Einstellungen einhergingen, die sich gerade in Osteuropa immer wieder in Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung äußerten, suchten viele den Bedrohungen der Verfolgung, Verarmung und rechtlichen Benachteiligung durch Auswanderung zu entkommen. Große Anziehungskraft übten in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die USA aus, aber auch die westeuropäischen Staaten waren Ziele jüdischer Migration aus Osteuropa. Massive Einschränkungen in den Ausbildungsmöglichkeiten veranlassten viele jüdische Studentinnen und Studenten zum Verlassen ihres Herkunftslandes und zum Studium im westeuropäischen Ausland. Von der großen Mobilität innerhalb der jüdischen Bevölkerung zeugen zahlreiche "internationale" Biographien, nicht nur von Angehörigen der jüdischen Intelligenz. Angesichts der großen Not der Bevölkerung in Osteuropa und des Auswanderungsdrucks entstanden seit Mitte des 19. Jahrhunderts verschiedene, teilweise grenzübergreifend organisierte philanthropische Initiativen, die humanitäre Hilfe leisteten und Auswanderungen organisierten.2 Doch nicht nur durch die Auswanderung und die hohe Mobilität der jüdischen Intelligenz wurden Kontakte zwischen jüdischen Gemeinschaften in verschiedenen Ländern befördert; grenzübergreifender Austausch fand besonders auch in den Grenzregionen statt, die nach den Teilungen Polens in den ehemals zusammenhängenden jüdischen Siedlungsgebieten entstanden waren.
Vor dem Hintergrund der Auflösung ihrer traditionellen Lebenswelten und infolge der Ausweitung des Nationalismus unter den sie umgebenden Völkern beschäftigten sich Angehörige der jüdischen Minderheit verstärkt mit der Frage nach ihrer eigenen Identität. Neben der Gruppe derjenigen, die weiterhin für eine Integration in die Mehrheitsgesellschaften eintraten, und den religiösen Juden, die sich vom Leben außerhalb ihrer religiösen Gemeinschaft weitgehend abgrenzten, entstand eine weitere sehr heterogene Gruppe, die das Judentum als eine moderne Nation verstand, wobei die einen ihren Blick auf eine Autonomie innerhalb der Diaspora richteten, während andere die Gründung eines eigenen Nationalstaates anstrebten.
Entstehung zionistischer Ideen und erste Vereinigungsbemühungen
Die Idee einer Rückkehr nach Eretz Israel war unter den in der Zerstreuung lebenden Juden von jeher präsent. Sie fand Ausdruck in Gebeten und war vielfach verbunden mit messianischen Vorstellungen – mit der Hoffnung auf die Vereinigung der Juden in Israel, in Zion,3 und auf das Erscheinen des Messias. Doch obgleich stets Juden in Palästina ansässig waren und Zion als Symbol des jüdischen Ursprungs, der jüdischen Einheit und der Erlösung eine zentrale Bedeutung hatte, gab es bis ins 19. Jahrhundert keine Masseneinwanderung oder Pläne, durch Bildung eines neuen Reiches in Palästina den Anbruch des messianischen Zeitalters vorzubereiten. Denn damit hätten Juden in menschlicher Weise Gottes Willen vorgegriffen und so dem religiösen Verständnis von der Rückführung und Erlösung durch Gott widersprochen. Zwar waren seit dem Mittelalter immer wieder Überlegungen zur Gründung eines Judenstaats vorgebracht worden, einmal von christlicher Seite, einmal von Juden, die Abhilfe vor Verfolgung schaffen wollten; sie fanden aber nur wenig Unterstützung und blieben daher meist ohne Wirkung.4 Im 19. Jahrhundert jedoch hatten sich die Lebenswelten der jüdischen Gemeinschaften und das Denken der Menschen soweit verändert, dass nun verstärkt darüber nachgedacht wurde, wie das Leid von Teilen der jüdischen Bevölkerung anders als durch die Hilfe philanthropischer Organisationen gemindert werden könnte, wie der drohende Verlust jüdischer Traditionen und Eigenständigkeit zu verhindern sei und auf welche Weise das jüdische Volk aus der Rolle des Außenstehenden und Verachteten erlöst werden könnte.
Bezeichnenderweise stammten die ersten modernen, noch stark religiös geprägten zionistischen Pläne aus Regionen, die Mitte des 19. Jahrhunderts Zentren der Konflikte verschiedener Nationen waren, gleichzeitig aber auch Schnittstellen jüdischen Lebens zwischen West und Ost darstellten:5 Der aus Sarajevo stammende und im serbischen Semlin wirkende Rabbiner Jehuda Alkalai (1798–1878)[] versuchte in seinen Schriften, praktische Bemühungen zur Besiedlung Palästinas religiös zu untermauern, und rief die Juden zur Rückkehr nach Palästina auf. Zvi Hirsch Kalischer (1795–1874) veröffentlichte 1862 die bereits zu seinen Lebzeiten viele Male nachgedruckte Schrift Drischat Zion (hebr.: Die Suche nach Zion). Darin propagierte der gebürtige Posener und in Thorn wirkende Rabbiner nicht nur die Rückkehr der Juden nach Eretz Israel und die Kolonisation des Landes, sondern schlug bereits konkrete vorbereitende Schritte vor.6 Auch der aus dem Rheinland stammende sozialistische Denker Moses Hess (1812–1875) sah die Lösung für das jüdische Dilemma in einer Ansiedlung in Palästina. Jedoch betrachtete er das jüdische Problem ganz klar als ein nationales. In seiner Schrift Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätsfrage (1862) forderte er die Schaffung eines jüdisch-sozialistischen Gemeinwesens in Palästina und ordnete diese Bestrebungen in den Kontext der nationalen Freiheitsbewegungen des 19. Jahrhunderts ein.7 Doch in den 1860er Jahren fanden diese Konzepte nur wenig Aufmerksamkeit. So blieben die Bemühungen um eine Ansiedlung von Juden in Palästina zunächst vor allem den philanthropischen Initiativen vorbehalten, obgleich es bereits grenzübergreifende Kontakte zwischen einzelnen zionistischen Denkern gab.8
Erst unter dem Eindruck der Pogromwellen im Zarenreich stießen derartige Konzepte auf größere Resonanz. Angesichts der sich verschlechternden Lebensbedingungen der Juden in Osteuropa und der nach Westen drängenden Massen, vor dem Hintergrund des wachsenden Antisemitismus auch in Westeuropa und der Furcht vor seiner weiteren Intensivierung infolge der ostjüdischen Einwanderung verbreitete sich in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts innerhalb der jüdischen Gemeinschaften in vielen Ländern das Bewusstsein, vor einer gesamtjüdischen Herausforderung zu stehen, die gemeinsames Handeln erfordere. Die Unterstützung der Kolonisation in Palästina galt dabei als ein Weg, der aber nicht nur als solcher umstritten war, sondern auch unter seinen Befürwortern Auseinandersetzungen insbesondere darüber hervorrief, ob mit diesen Bemühungen nationale Bestrebungen und Forderungen nach einem jüdischen Staat einhergehen sollten.
In vielen Städten des Zarenreiches bildeten sich Anfang der 1880er Jahre kleine Gruppen von Anhängern der Zionsidee, die sich Chowewe Zion (hebr.: Zionsfreunde) nannten. Mit ihrer Unterstützung siedelte sich eine Gruppe von Studenten aus Charkov in Palästina an; es folgten in den kommenden Jahren weitere Koloniegründungen von Juden aus dem Zarenreich und aus Rumänien.9 Die frühen Siedler waren die Pioniere der sich bis 1904 fortsetzenden ersten Einwanderungswelle, Alija (hebr.: Aufstieg). Vor diesem Hintergrund konnten die Ideen des Odessaer Arztes Leon Pinsker (1821–1891)[] große Resonanz erzielen, der unter dem Eindruck der Pogrome im Zarenreich zu der Erkenntnis gelangt war, dass nur die Re-Nationalisierung der Juden und die Wiedergewinnung eines eigenen Territoriums den Problemen der jüdischen Bevölkerung Abhilfe schaffen könnten. Noch bevor er seine Ideen schriftlich niedergelegt hatte, reiste Pinsker durch die europäischen Hauptstädte und führte Gespräche mit jüdischen Gelehrten und Gemeindeführern. Er stieß mit seinen Überlegungen jedoch fast überall auf Desinteresse oder gar deutliche Ablehnung; einzig der Londoner Jurist und Parlamentsabgeordnete Arthur Cohen (1830–1914) ermunterte ihn, seine Ideen niederzuschreiben und zu veröffentlichen.10
1882 publizierte Pinsker seine Schrift "Autoemancipation!" Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden11 – aus Furcht vor der russischen Zensur und der Polizeiwillkür anonym und in deutscher Sprache in einem Berliner Verlag.12 Die Broschüre legte seinen Pessimismus hinsichtlich einer möglichen Assimilation der Juden offen: "Die Juden bilden im Schoosse der Völker, unter denen sie leben, thatsächlich ein heterogenes Element, welches von keiner Nation assimiliert zu werden vermag, demgemäss auch von keiner Nation gut vertragen werden kann."13 Pinsker diagnostizierte eine Judophobie unter den die Juden umgebenden Völkern, die darin begründet liege, dass diesen das jüdische Volk als eine nur geistig fortbestehende Nation ohne staatliche Existenz unheimlich sei.14 Nicht die Erlangung bürgerlicher und politischer Gleichstellung könne hier Abhilfe schaffen, sondern einzig die Selbstemanzipation der Juden als Nation außerhalb des europäischen Kontinents auf einem einheitlich und räumlich zusammenhängenden Territorium, das nicht Palästina sein müsse.
Mit dem vernichtenden Urteil über die Möglichkeit der Emanzipation der Juden innerhalb Europas und der neuen Interpretation von jüdischer Nation gingen Pinskers Überlegungen weit über einen Versuch zur Lösung der Misere der jüdischen Bevölkerung in Osteuropa hinaus. Vor allem Juden in Deutschland sahen sich durch die in Berlin erschienene Broschüre herausgefordert und in ihrem Selbstverständnis als "Deutsche jüdischen Glaubens" angegriffen. Die meisten deutschen Rezensenten lehnten die Ideen des Autors mehr oder weniger entschieden ab. Der Rabbiner und Schriftsteller Ludwig Philippson (1811–1889) verteidigte die Integrationsbestrebungen, indem er es als Bestimmung der Juden bezeichnete, "innerhalb der Nationen zu leben und sich diesen zu amalgamieren durch das Vaterland, in welchem sie geboren, durch die Sprache, die ihre Muttersprache ist, durch die Volksbildung und den in dieser waltenden nationalen Geist ... "15. Der Historiker Moritz Steinschneider (1816–1907) rief sogar zum Protest auf, da er diese Art von Propaganda für gefährlicher als den Antisemitismus hielt.16
Im Zarenreich waren die Reaktionen dagegen weitaus positiver.17 Schon nach wenigen Wochen erschien die Schrift in russischer Übersetzung in der Zeitschrift Rassvet (russ.: Morgenröte); es folgten Übersetzungen ins Jiddische und in viele weitere Sprachen.18 Vor allem die Chowewe-Zion-Bewegung maß Pinskers Schrift zentrale Bedeutung bei; Pinsker selbst wurde 1883 Präsident des in Odessa gegründeten Verbands der Chowewe-Zion-Vereine. Gemeinsam mit den in Kongresspolen entstandenen Vereinen bemühte er sich um den Ausbau der Bewegung und die Intensivierung von grenzübergreifenden Kontakten.19 In Deutschland waren in den Jahren 1882 bis 1884 Vereine in Kattowitz, Berlin und Heidelberg gegründet worden mit dem Ziel, die Palästinakolonisation bedrängter Juden aus Osteuropa zu unterstützen.20 Erstmals trafen sich Vertreter der Vereine aus dem Zarenreich, aus Rumänien, Deutschland, England und Frankreich 1884 auf einer Konferenz in Kattowitz, wo deutlich wurde, dass die Idee der Palästinakolonisation zwar auch in Westeuropa Unterstützer hatte, diese den nationalen Tendenzen Pinskers jedoch skeptisch gegenüberstanden.21
Pinsker betrachtete die Vernetzung der Vereine im Zarenreich mit Gruppen im Ausland als lebenswichtig für die Bewegung: "Ohne diesen Stützpunkt verlieren wir unseren moralischen Halt und ist auch unsere praktische Wirksamkeit gefährdet."22 Doch obwohl große Anstrengungen unternommen wurden, die Ergebnisse der Konferenz zu verbreiten und in Briefen und über persönliche Kontakte um Unterstützung zu werben, kam der Ausbau der Bewegung in Westeuropa nur wenig voran.23 Auf besondere Resonanz stießen die Ideen allerdings in Wien, wozu auch das 1885 von Nathan Birnbaum (1864–1937) begründete und von Pinskers Schrift inspirierte Periodikum Selbst-Emancipation! Zeitschrift für die nationalen, socialen und politischen Interessen des jüdischen Stammes beitrug, das der "selbstmörderische[n] Lehre von der Nothwendigkeit des Aufgehens unseres Volkes in die anderen Nationen" unter anderem durch "Originalberichte aus allen Ländern, in denen Söhne unseres Stammes wohnen" entgegenwirken wollte.24
Die Siedlungsarbeit in Palästina stand am Beginn der 1890er Jahre vor großen Problemen: Aufgrund der harten Lebensbedingungen und fehlender landwirtschaftlicher Kenntnisse blieben die Siedlungen auf finanzielle und administrative Hilfe europäischer Institutionen angewiesen, und es gelang nicht, eine organisatorische oder politische Grundlage für die weitere Besiedlung zu schaffen. Zu den Kritikern der Kolonisationsarbeit gehörte der Odessaer Schriftsteller Ašer Gincberg (1856–1927), der die schlechte Vorbereitung der Siedler nicht nur in praktischen Fragen, sondern auch auf geistigem Gebiet bemängelte. In verschiedenen Schriften, veröffentlicht unter dem Pseudonym Achad Ha’am (hebr.: Einer aus dem Volk), diagnostizierte er eine innere Krise im Judentum und forderte zunächst dessen geistige und kulturelle Erneuerung.25 Von anderer Seite, etwa vom Russo-Jewish Committee in London, wurden primär die schlechten Lebensbedingungen und die fehlende Infrastruktur kritisiert.26
Eine Verbesserung der Situation in den bestehenden Siedlungen setzte immense finanzielle Mittel und weitreichende Organisationsstrukturen voraus, die einen die ost- und westeuropäischen Juden vereinenden Zusammenschluss erforderten. Jedoch blieben Versuche zur Begründung einer grenzübergreifenden Kooperation meist auf der Ebene erster persönlicher Kontakte stecken. Während der Zusammenschluss der Chowewe-Zion-Vereine in Osteuropa Zionisten aus verschiedenen Regionen zusammenführte und so eine Grundlage für den späteren Ausbau der zionistischen Organisation schuf, umfassten die Vereine in Westeuropa eher kleine Kreise von Sympathisanten, darunter viele Studenten aus Osteuropa. Die Mehrheit der westeuropäischen Juden, denen die Hilfe für Juden aus Osteuropa zwar ein Anliegen war, blieb gegenüber der Idee einer jüdischen Nationalbewegung eher skeptisch.27 So war es also gerade der nicht mehr religiös, sondern national begründete Gedanke einer Zusammengehörigkeit aller Juden, der in der Anfangsphase der zionistischen Bewegung eine enge Verflechtung zwischen Ost und West behinderte und die grenzübergreifende Zusammenarbeit bereits in den Anfängen erlahmen ließ.
Zionistische Programmatik und Netzwerkbildung
Eine neue Phase in der Entwicklung des modernen Zionismus begann mit dem Auftreten Theodor Herzls (1860–1904)[] und mit dem von ihm initiierten Zionistenkongress, der Anhänger der zionistischen Ideen und Vertreter bestehender Gruppen aus verschiedenen Ländern zusammenbrachte und den Grundstein für eine internationale Organisation legte. Herzl, der einer assimilierten jüdischen Familie aus dem ungarischen Pest entstammte, hatte während seines Studiums in Wien und seiner Korrespondententätigkeit für die Wiener Neue Freie Presse in Paris den Aufschwung des modernen Antisemitismus miterlebt und war Mitte der 1890er Jahre – ohne Kenntnis der Werke von Moses Hess oder Leon Pinsker – zu der Überzeugung gelangt, dass nur die Existenz eines eigenen Staates die Probleme der jüdischen Bevölkerung in der Diaspora lösen könne.
In seiner 1896 in Wien erschienenen politischen Programmschrift Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage28 bezeichnete Herzl die Probleme der jüdischen Existenz in der modernen Gesellschaft als eine nationale Frage: Durch "äußere Feinde"29 würden die Juden als Volk zusammengehalten, ihre treibende Kraft sei die "Judennot".30 Zu lösen sei diese nationale Frage nur, wenn sie zu einer politischen Weltfrage gemacht werde.31 Viele assimilierte Juden in Westeuropa nahmen die Schrift mit Ablehnung und Empörung auf; vielfach wurde der Vorwurf laut, durch seine Betonung der Zusammengehörigkeit der Juden als ein Volk und seine Pläne zu einer Staatsgründung liefere Herzl den Antisemiten neue Argumente. Zahlreiche zionistische Gruppen reagierten jedoch begeistert; bald wurde die Schrift in mehrere Sprachen übersetzt und machte Herzl in der jüdischen Welt als Vertreter eines säkularen jüdischen Nationalismus bekannt.32
Als grundlegend für einen Erfolg des Zionismus betrachtete Herzl die "Erforschung der Zustände, Erkenntnis der politischen Weltlage, und Vereinigung aller Kräfte";33 zur Lösung der Judenfrage war nach seiner Ansicht die "internationale Discussion" erforderlich.34 Innerhalb kürzester Zeit gelang es – wohl auch dank seines großen Redetalents, seiner Persönlichkeit und beruflichen Erfahrung35 – Anhänger des Zionismus aus verschiedenen Ländern in einer organisierten Bewegung zusammenzufassen. Einerseits konnte an bestehende, meist jedoch lokal oder regional begrenzte Gruppen angeknüpft werden; andererseits wurden neue Ausdrucksformen und Organe geschaffen, die transnationale Verflechtungen vorantrieben. Von herausragender Bedeutung waren die seit 1897 jährlich, später alle zwei Jahre stattfindenden Zionistenkongresse, die als ein gesamtjüdisches Forum die jüdisch-nationale Selbstdefinition befördern und ähnlich einem Parlament ein Organ zur Vertretung jüdisch-nationaler Politik bilden sollten.36
Zum ersten Zionistenkongress in Basel kamen 1897 über 200 Delegierte aus mindestens 17 Ländern; etwa ein Drittel der Teilnehmer stammte aus Osteuropa.37 Erklärtes Ziel des dort verabschiedeten Baseler Programms war die "Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina", unter anderem durch die "Gliederung und Zusammenfassung der gesamten Judenschaft durch geeignete örtliche und allgemeine Veranstaltungen nach den Landesgesetzen".38 Die Struktur der auf dem ersten Kongress gegründeten Zionistischen Weltorganisation (ZWO) sah vor, dass die in den beteiligten Landesverbänden gewählten Delegierten an den regelmäßig stattfindenden Kongressen teilnahmen. Der Exekutive gehörten Vertreter der Länder an; ihre Anzahl wurde proportional zur Größe der jeweiligen Landesverbände ermittelt. Mit der Einführung des Mitgliedsbeitrags und dem Delegierten-Wahlrecht für all jene, die diesen Schekel entrichtet hatten, waren die Kongresse als eine repräsentative, durch die Stimmen von Zionisten in aller Welt legitimierte Institution konzipiert, deren Entscheidungen durch die ihr verantwortliche Exekutive umgesetzt werden sollten.39 Die ZWO, die bis zum Ersten Weltkrieg weitgehend eine europäische Vereinigung blieb, bildete in den folgenden Jahrzehnten das zentrale Element im zionistischen Netzwerk, dessen Entfaltung und Verdichtung durch verschiedene Faktoren vorangetrieben wurde, die sich mit dem institutionellen Ausbau der ZWO, im Zusammenhang mit den diplomatischen Bemühungen Theodor Herzls, auf der Ebene der Kommunikation innerhalb der Bewegung und, damit verknüpft, durch das Engagement der Landesverbände entwickelten.
Der institutionelle Ausbau der Organisation vollzog sich in kleinen Schritten. Die Jüdische Kolonialbank, die der zionistischen Bewegung die finanzielle Förderung der Kolonisation durch Kredite in Unabhängigkeit von philanthropischer Unterstützung ermöglichen sollte, konnte 1902 in London gegründet werden, nachdem das Aktionskapital zu einem bedeutenden Teil durch kleine Subskriptionen aus den Reihen der Anhänger des Zionismus aufgebracht worden war. Insbesondere die Tatsache, dass es sich nicht um eine philanthropische Aktion, sondern um ein produktives Unternehmen zur Unterstützung zionistischer Arbeit handeln sollte, motivierte die Menschen zur Beteiligung an der Subskription und schuf ein viele Kräfte verbindendes Projekt, das mit seinem kleinen Kapital letztendlich aber wenig leisten konnte.40 Der 1901 gegründete Jüdische Nationalfond (JNF) hatte die Aufgabe, Land in Palästina aufzukaufen und an Juden zu verpachten. Dank der Spendenbereitschaft der Zionisten entwickelte er sich zu einem der wichtigsten Organe der ZWO. Seine für die zionistische Arbeit zentrale Funktion des Landerwerbs und die insbesondere in Westeuropa entstehende Spendenkultur mit Elementen wie der Ölbaumspende, dem Verkauf von Briefmarken und der mit der Sammlungstätigkeit einhergehenden Verbreitung von Schriften wirkten grenzübergreifend als Verbindungs- und Identifikationsfaktoren innerhalb der zionistischen Bewegung, sodass der JNF selbst als "Quelle und Vermittler zionistischer Nationalkultur" gelten kann.41
Anders als die frühen zionistischen Vereinigungen lehnte Herzl die sofortige Kolonisation in Palästina ab. Vielmehr vertrat er die Ansicht, das erstrebte Gebiet – Ende des 19. Jahrhunderts lag es für ihn ebenfalls in Palästina – müsse zunächst rechtlich gesichert sein; bis dahin sollten nur Vorbereitungen für die Massenansiedlung getroffen, aber noch keine neuen Siedlungsversuche unternommen werden. Herzls diplomatische Bemühungen um rechtliche Zusicherungen gingen in unterschiedliche Richtungen. In den Jahren nach dem ersten Zionistenkongress bis zu seinem Tod 1904 führte er als Präsident der ZWO zahlreiche Gespräche, auch auf höchster Ebene etwa mit dem türkischen Sultan und dem deutschen Kaiser, mit den russischen Ministern Vjačeslav K. von Pleve (1846–1904) und Sergej Ju. Vitte (1849–1915) sowie mit Papst Pius X. (1835–1914), in denen er jedoch weder von der Türkei den erwünschten Charter für die Besiedlung Palästinas erwirken konnte, noch von Deutschland die Zusicherung für ein Protektorat über ein jüdisches Palästina erhielt. Von Seiten der britischen Regierung erging allerdings das Angebot zur Besiedlung eines Gebiets in Ostafrika ("Uganda-Plan") – ein Vorschlag, der innerhalb der Zionistischen Organisation für heftige Auseinandersetzungen sorgte.42 Doch auch schon zuvor waren Herzls diplomatische Bemühungen in der Bewegung unterschiedlich aufgenommen worden. Während einerseits seine Unterredungen mit hochrangigen Gesprächspartnern Anerkennung fanden, da sie in gewisser Weise die Präsenz der ZWO in der Weltpolitik und ihre Akzeptanz als Verhandlungspartner signalisierten, rief Herzls Konzentration auf den politischen Zionismus andererseits aber auch Widerspruch hervor, der im weiteren Verlauf zu neuen grenzübergreifenden Koalitionen innerhalb der ZWO führte.
Die Verdichtung der Kommunikation zwischen Anhängern des Zionismus in verschiedenen Ländern trug in besonderem Maße zur Entfaltung und Festigung des zionistischen Netzwerkes bei. Besondere Bedeutung kam dem persönlichen Kontakt und Austausch zwischen Vertretern der einzelnen Landesorganisationen auf den Kongressen und innerhalb der Exekutive zu, aber auch der schriftlichen Informationsweitergabe durch Verbreitung von Protokollen, durch Zeitschriften – vor allem ist hier die 1897 von Theodor Herzl gegründete Zeitschrift Die Weltzu nennen, die sich schnell zu einem zentralen Forum der Zionisten in aller Welt entwickelte –, durch Broschüren in den jeweiligen Landessprachen und nicht zuletzt über Briefwechsel.
Die Struktur der ZWO mit ihrer Untergliederung in Landesorganisationen entsprach Theodor Herzls Auffassung vom Zionismus als einer gesamtjüdischen Bewegung, die alle Judenheiten verbinden sollte. Ein Zusammengehen der unterschiedlichen jüdischen Bevölkerungsgruppen setzte jedoch gute Kenntnisse über die Lage der jeweils anderen Judenheiten und Verständnis für deren Eigenarten und Denkweisen voraus. Daher standen die ersten Jahre der Existenz der ZWO insbesondere im Zeichen des Austauschs zwischen Ost- und Westjuden und der Diskussion über die Situation der Juden, die Stellung des Zionismus in den einzelnen Ländern und über die jeweiligen Erwartungen an die zionistische Bewegung. Vielfach galt es, tief verwurzelten Vorurteilen zu begegnen. Theodor Herzl selbst äußerte nach dem ersten Zionistenkongress seine Überraschung über die Teilnahme so vieler hoch gebildeter Delegierter aus Osteuropa, die ihr Judentum bewusst lebten:
... wir hatten uns nie etwas anderes vorgestellt, als daß sie auf unsere geistige Hilfe und Führung angewiesen seien. Und da tauchte vor uns auf dem Baseler Kongreß ein russisches Judentum auf, das wir in solcher Kulturstärke nicht erwartet hatten. ... Und welche Beschämung für uns, die wir geglaubt hatten, ihnen überlegen zu sein. ... Ich muß daran denken, wie man mir in der ersten Zeit oft entgegengehalten hatte: Sie werden nur die russischen Juden für die Sache gewinnen. Wenn man mir das heute wieder sagte, würde ich antworten: Das genügt!43
Der verstärkte Austausch zwischen Ost und West hatte jedoch nicht nur verbindende Wirkung, sondern ließ andererseits Differenzen und Distanzen offen zu Tage treten: Mit der Intensivierung der grenzübergreifenden Kommunikation und der Diskussionen über Themen, die eine Polarität zwischen den Juden im Westen und im Osten aufwiesen, verbreitete sich die Kollektivbezeichnung "Ostjuden" als Zusammenfassung von Judenheiten mit sehr unterschiedlichem religiösen, politischen und kulturellen Hintergrund.44 Gleichzeitig entwickelte sich aber auch eine bewusste Wahrnehmung von zwei Gruppen innerhalb des Judentums, die als "West"‚ bzw. "Ostjuden" unterschiedliche "Kulturpersönlichkeiten" darstellten.45 Eine zentrale Funktion im Ost-West-Austausch kam den vielen aus Osteuropa stammenden, aber schon seit geraumer Zeit in Westeuropa lebenden Intellektuellen zu, denn sie verfügten über umfangreiche Sprachkenntnisse, kannten die Lebensweise der Juden in Osteuropa und ihre Schwierigkeiten meist noch aus eigener Anschauung, hatten aber auch die Situation und Vorstellungen der Juden in Westeuropa, häufig sogar in verschiedenen Ländern, kennen gelernt. Dank ihrer besonderen Kenntnisse, Kontakte und ihrer Mobilität waren viele Zionisten mit "europäischen" Biographien in führenden Positionen in der ZWO zu finden und fungierten oft als Mittler zwischen Ost und West.46
Das Fundament der zionistischen Bewegung bildeten die Vereine und Zusammenschlüsse auf Länderebene, die sich mit Rücksicht auf die jeweiligen Landesgesetze in unterschiedlichen Strukturen formierten. Ihre Funktion bestand einerseits in der Verbreitung der zionistischen Programmatik, der Mitgliederwerbung, dem Eintreiben des Mitgliedsbeitrags und der Wahl von Delegierten für die Entsendung zu den Kongressen, über deren Ablauf und Ergebnisse durch die Delegierten an die Landesorganisationen berichtet wurde. Andererseits diskutierten die Mitglieder der Landesverbände die Arbeit der Exekutive vor dem Hintergrund der landesspezifischen Situation und entwickelten in Auseinandersetzung mit den zentralen Beschlüssen ihre Programmatik. Dabei traten unterschiedliche Vorstellungen über das Ziel und die Wege dorthin zutage: In der Auseinandersetzung mit dem zionistischen Programm bestand unter den Zionisten in Westeuropa weitgehende Zustimmung für das Ziel der Staatsgründung und die zunächst vorrangigen diplomatischen Bemühungen.47 Diskutiert wurde vielmehr die Frage, ob es beim Zionismus darum gehe, einen Zufluchtsort für verfolgte osteuropäische Juden zu schaffen, oder ob das Judentum als Nationalität zu begreifen sei und somit auch unbehelligte Juden im Westen sich als potentielle Auswanderer in die jüdische Heimstätte verstehen müssten.48 Die Behauptung der Existenz einer jüdischen "Nation" stellte die in den westeuropäischen Nationalstaaten lebenden Zionisten vor die besondere Herausforderung, sich hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Mehrheitsgesellschaft deutlich positionieren zu müssen und über das Verhältnis von Staatsbürgerschaft und nationaler Identität neu nachzudenken.49
In den zionistischen Gruppen in Osteuropa wurde dagegen starke Kritik an der Schwerpunktsetzung der zunächst von Wien, dann von Köln und zwischen 1911 und 1915 von Berlin aus agierenden Exekutive, der Zentrale der ZWO, laut: Hier betrachtete man die Staatsgründung und die Herbeiführung einer politischen Lösung als weniger dringlich, vorrangig sollte vielmehr die konkrete Hilfe für bedrohte und verarmte Juden auf dem Weg der intensiven Unterstützung von Kolonisation und Auswanderung sein. Zudem betonten viele die Notwendigkeit von kultureller Arbeit innerhalb der zionistischen Bewegung.50 Während die Politik der Zentrale unter Theodor Herzl zunächst stark von den Positionen der westeuropäischen Juden bestimmt war, deuteten sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts Veränderungen an, die nicht nur durch das Scheitern der diplomatischen Bemühungen Herzls, sondern vor allem auch durch den verstärkten Austausch mit den osteuropäischen Juden und deren wachsenden Einfluss hervorgerufen wurden.
Aufsplitterung der ZWO und Verdichtung des transnationalen Netzwerks
Mit der Bildung von "Fraktionen" veränderte sich nicht nur die Struktur der ZWO, sondern auch die Funktion der Zionistenkongresse von einer Plattform, die nationale Verbände zusammenführte, hin zu einem Forum, in dem neben den Landesverbänden auch grenzübergreifend arbeitende Vereinigungen auftraten.51 Diese Parteibildung als Folge innerer Differenzen über Ziel und Weg des Zionismus führte einerseits zu einer Aufsplitterung der ZWO, andererseits forcierte sie Austausch und Zusammenarbeit über Grenzen hinweg und bewirkte so eine Verdichtung des transnationalen zionistischen Netzwerks.
Erstmals öffentlich wurde die beginnende Aufsplitterung der Organisation mit dem Auftreten der Demokratischen Fraktion auf dem fünften Zionistenkongress 1901, als 37 Delegierte aus unterschiedlichen Ländern in Abkehr vom rein politischen Zionismus die Schaffung einer neuen säkular geprägten jüdischen Kultur in hebräischer Sprache forderten und dazu insbesondere die Gründung einer Hebräischen Universität in Jerusalem sowie eines Verlags für zionistische Publikationen vorsahen. Die Gruppe unter Führung des Wiener Religionsphilosophen Martin Buber (1878–1965) und des aus Weißrussland stammenden, in Westeuropa ausgebildeten Chemikers Chaim Weizmann (1874–1952)[] schloss damit eng an den Kulturzionismus Achad Ha’ams an. Sie erreichte unter anderem die Einberufung einer international besetzten ständigen Kulturkommission, die innerhalb der Organisation über die kulturelle Tätigkeit in den einzelnen Ländern berichten sollte.52 Der kurz darauf unter Mitwirkung junger Kulturzionisten unterschiedlicher Herkunft gegründete Jüdische Verlag, der eine Brücke zwischen West- und Ostjuden schlagen und ein Zentrum für die Kulturschaffenden etablieren wollte, "von dem aus ihre Werke in alle Kreise des Volkes getragen werden sollen",53 entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einem zentralen Publikationsorgan der zionistischen Bewegung.54
Das Auftreten der Demokratischen Fraktion und die Beschäftigung der ZWO mit Kulturfragen provozierte einen weiteren grenzübergreifenden Zusammenschluss: Ihrer Ablehnung einer säkularen jüdisch-nationalen Erziehung wegen gründeten religiöse Zionisten unter Führung des Rabbiners Isaak Jacob Reines (1839–1915) 1902 in Wilna die Gruppierung Misrachi (Abkürzung für Merkas Ruchani, hebr.: geistiges Zentrum), die den politischen Zionismus Herzls unterstützte, darüber hinaus aber eine Förderung der religiösen Erziehung als ein zentrales Element ihrer zionistischen Arbeit betrachtete. Schnell konnte die Vereinigung mit Sitz im weißrussischen Lida in vielen Teilen des Zarenreiches Untergruppen gründen, ebenso in Galizien, Rumänien, Österreich, Ungarn, Deutschland, England und der Schweiz, und auf der ersten internationalen Konferenz 1904 in Poszony wurde die Weltorganisation Misrachi auf der Basis des Baseler Programms ins Leben gerufen.55 Die dort organisierten Zionisten gehörten nicht den Landesverbänden der ZWO an, sondern die Vereinigung entsandte eigene Delegierte zu den Zionistenkongressen.56
Der ebenfalls im Zarenreich entstandene sozialistische Zionismus entwickelte sich zu einer weiteren, länderübergreifend organisierten Richtung innerhalb der zionistischen Bewegung. Aus der Reihe der konkurrierenden sozialistisch-zionistischen Parteien ragte die marxistisch geprägte Partei Poale Zion (hebr.: Arbeiter Zions) heraus, deren Anhänger den politischen Zionismus mit einem Engagement für die Klasseninteressen des jüdischen Proletariats und die Verwirklichung des Sozialismus verbinden wollten. Poale Zion begründete 1907 einen eigenen Weltverband, dessen Gruppierungen zum großen Teil der ZWO angehörten.57
Theodor Herzls Unterstützung des britischen Ostafrika-Vorschlags rief neue Lagerbildungen innerhalb der ZWO hervor, die sich im Großen und Ganzen zwischen ost- und westeuropäischen Zionisten vollzogen. Während sich in Westeuropa viele Befürworter für die Gründung eines jüdischen Gemeinwesens auf einem geeigneten Territorium auch außerhalb Palästinas fanden, bekräftigte die Mehrzahl der führenden Zionisten des Zarenreiches ihre Ablehnung solcher außerhalb Palästinas gelegenen Lösungen mit einem Ultimatum an Herzl, das einen schriftlichen Widerruf der Ostafrika-Pläne forderte und andernfalls mit der Spaltung der ZWO drohte.58 Die religiösen Zionisten unterstützten das Ostafrika-Projekt mehrheitlich, da sie insbesondere das Ziel der Lebensrettung verfolgten und sich von jedem messianischen Anspruch fernhielten.59 Doch die Frage des Territoriums brachte andererseits auch ein neues Bündnis von Zionisten aus Ost und West zustande, denn die im Zarenreich gegründete Zionistisch-Sozialistische Arbeiterpartei unter Nachman Syrkin (1868–1924) schloss sich 1905 mit anderen territorialistischen Gruppen zusammen, die eine organische Verbindung zwischen dem Zionismus und Palästina verneinten.60 Aus dieser Vereinigung ging die von dem englischen Schriftsteller und Politiker Israel Zangwill (1864–1926) geleitete Jewish Territorial Organization hervor, die Untergruppen in Ost- und Westeuropa, später auch in den USA gründete und ihre Leitungsorgane in verschiedenen osteuropäischen Städten ansiedelte.61
Angesichts der wenigen konkreten Erfolge des politischen Zionismus unter Theodor Herzl und mit zunehmendem Einfluss der Zionisten aus dem Zarenreich entstand nach Herzls Tod eine neue Richtung innerhalb der ZWO, welche die Forderungen insbesondere von Seiten der osteuropäischen Zionisten nach praktischer Arbeit in Palästina mit den Konzepten des politischen Zionismus vereinte. Als nach den Pogromen im Zarenreich 1905 unter der jüdischen Bevölkerung eine zweite große Flucht- und Auswanderungswelle eingesetzt hatte und die zweite Alija in Gang gekommen war, stand die konkrete Hilfe wieder oben auf der Tagesordnung der ZWO, deren Leitung 1906 gemeinsam mit Vertretern der Jewish Territorial Organization, der Anglo Jewish Association und des Hilfsvereins der deutschen Juden Hilfsmaßnahmen für die Pogromopfer organisierte.62 Seit dem achten Zionistenkongress 1907 in Den Haag63 konnte sich die unter anderem von Chaim Weizmann geforderte Synthese von praktischem und politischem Zionismus mehr und mehr durchsetzen, die als "synthetischer" oder auch "allgemeiner" Zionismus die Hauptrichtung in der ZWO darstellte und der Siedlungsarbeit in Palästina besondere Aufmerksamkeit widmete.64
Infolge der veränderten politischen Bedingungen nach 1905 formulierte der zionistische Landesverband im Zarenreich ein Programm mit deutlichen innenpolitischen Forderungen, das als wichtige Voraussetzung für die Verwirklichung des Zionismus die Bemühungen um die Zuerkennung von nationalen Minderheitenrechten bezeichnete. Erreicht werden sollte unter anderem die "Anerkennung der jüdischen Nationalität als eines Ganzen mit dem Selbstverwaltungsrechte in allen Angelegenheiten des jüdischen Lebens".65 Derartige auf das Herkunftsland ausgerichtete Forderungen, die Ausdruck der Realitäten im Vielvölkerreich waren und die jüdische Bevölkerung als nationale Minderheit begriffen, wirkten zunächst als ein die Interaktion und Verflechtung über Staatsgrenzen hinweg eher behinderndes Element. Dennoch beförderte auch die Frage der nationalen Minderheitenrechte in längerer Perspektive eine neue grenzübergreifende Koalition. Die Forderungen der Zionisten aus dem Zarenreich nach "Gegenwartsarbeit" aufgreifend, schlossen sich die jüdischen, meist zionistisch dominierten Delegationen – mit Ausnahme der französischen und der britischen – 1919 auf der Pariser Friedenskonferenz zum überstaatlichen Comité des Délégations Juives zusammen und reichten eine Denkschrift über Minoritätenrechte in den neu erstandenen oder hinsichtlich ihrer Grenzen neu definierten Nationalstaaten in Ostmittel-, Südost- und Osteuropa ein. In dieser Rolle als Fürsprecher der Minderheiten war das Komitee schließlich am Zustandekommen der Minderheitenschutzverträge beteiligt. Das zionistisch dominierte Komitee bestand auch nach Abschluss der Konferenz fort. Es profilierte sich als vehementer Verfechter der Schutzbestimmungen zugunsten der Juden und anderer Minderheiten und kooperierte nach 1925 mit dem Europäischen Nationalitätenkongress.66
Bis zum Ersten Weltkrieg jedoch war ein Zusammenschluss zum Engagement in dieser Frage nicht zustande gekommen. Obwohl die ZWO während des Weltkrieges kaum agieren konnte, erreichte die Bewegung, vor allem dank des persönlichen Engagements führender Zionisten, ihren ersten großen diplomatischen Erfolg mit der Balfour-Deklaration vom 2. November 1917, die das britische Wohlwollen hinsichtlich der Errichtung einer nationalen jüdischen Heimstätte in Palästina ausdrückte und die Mitwirkung an deren Verwirklichung signalisierte. Auch wenn die Deklaration noch keine Zusicherung für eine Staatsgründung bot, wurde sie von den Zionisten als großer politischer Erfolg gefeiert. Als erstes offizielles Dokument, das eine Unterstützung zionistischer Forderungen versprach, wirkte die Balfour-Deklaration innerhalb der zionistischen Bewegung in der Nachkriegszeit trotz verschiedener durchaus kritischer Reaktionen insgesamt doch stark integrierend.
Funktion und Wirkungsweise grenzübergreifender Kommunikation und Interaktion
Der frühe Zionismus kann nicht nur mit Blick auf die vielen internationalen Biographien führender Zionisten und ihre hohe Mobilität als eine "nationale Bewegung mit kosmopolitischem Hintergrund"67 bezeichnet werden, sondern die jüdische Nationalbewegung erweist sich auch angesichts der vielfältigen sich herausbildenden Verflechtungen auf verschiedenen Ebenen als in hohem Maße durch grenzübergreifende Kommunikation und Interaktion geprägt. Während die länderübergreifende Zusammenarbeit von einem Teil der Zionisten vor allem als Notwendigkeit zur Organisation von Hilfeleistungen für die bedrängten Juden im Osten betrachtet wurde, ging es anderen auch um die Demonstration nationaler Zusammengehörigkeit der unterschiedlichen Judenheiten;68 die Vereinigung über Grenzen hinweg galt als bedeutender Faktor auf dem Weg zur jüdischen Nationsbildung. Andererseits sollten die grenzübergreifende Organisation, die Veranstaltung der Zionistenkongresse in unterschiedlichen Ländern und die Kontaktaufnahme zu verschiedenen europäischen Regierungen deutlich machen, dass das Anliegen der zionistischen Bewegung alle Staaten betraf und die "Judenfrage" als "politische Weltfrage"69 nur von diesen gemeinsam gelöst werden konnte.
Von Beginn an wurde daran gearbeitet, der Bewegung einerseits eine breite, international verankerte Basis zu verschaffen und andererseits eine feste Struktur mit zentralen Institutionen aufzubauen. Die hohe Mobilität führender Zionisten und ihre weitreichenden Kontakte bildeten eine Grundlage für den weltweiten Ausbau der Bewegung, der zunächst vor allem durch die Wechselbeziehung zwischen der Zentrale und den Landesverbänden sowie von den Auseinandersetzungen mit den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen sowohl in den Herkunftsländern der Mitglieder als auch in Palästina geprägt war. Als ein wichtiges Element, das eine Brücke zwischen den unterschiedlichen jüdischen Gemeinschaften mit ihren eigenen Traditionen und Kulturen schlug und die Vernetzung auf allen Ebenen voranbrachte, ist die Begründung einer "zionistischen Kultur" mit Zeitungen und Versammlungen, aber auch mit Helden, Mythen, Erinnerungen, Werten und Symbolen zu betrachten, die gemeinsame Bezugspunkte und Einheit stiftende Faktoren konstituierten und zur Etablierung einer "jüdischen Öffentlichkeit" beitrugen.70
Schon nach wenigen Jahren führten divergierende Auffassungen über Weg und Ziel der Bewegung zur Gründung von Interessenverbänden, in denen sich Zionisten aus west- und osteuropäischen Landesverbänden zusammenschlossen. Diese Vereinigungen sorgten zwar für eine Aufspaltung innerhalb der ZWO, andererseits bewirkten sie aber eine bedeutende Verdichtung der grenzübergreifenden Zusammenarbeit der Zionisten. Die Anstrengungen zur Etablierung einer internationalen Basis für die zionistische Bewegung bezogen sich jedoch nicht nur auf innerjüdische Kreise, sondern waren ebenso auf die nichtjüdische Umwelt und deren möglichst breite Unterstützung der zionistischen Anliegen gerichtet. Entscheidende Impulse gingen hier von den diplomatischen Bemühungen Theodor Herzls, von seinen Reisen und seinen Gesprächen mit führenden Politikern aus.
Da die zionistische Bewegung mit dem Anspruch einer "jüdischen Nationalbewegung" gegründet wurde und damit aufgrund der Diasporasituation des jüdischen Volkes mehr oder weniger große Bevölkerungsteile in vielen Staaten – Nationalstaaten und Vielvölkerreichen – betraf, vollzog sich die Herausbildung der zionistischen Bewegung von Beginn an im Spannungsfeld Nationalität–Transnationalität–Internationalität. Während die Auffassung vom jüdischen Volk als einer "Nation" vielfach mit der Forderung nach grenzübergreifender Kommunikation, Interaktion und Verflechtung, nach Herausbildung einer die verschiedenen jüdischen Gemeinschaften verbindenden "Nationalkultur" und eines "Nationalbewusstseins" einherging, riefen diese Bestrebungen insbesondere innerhalb der in den westeuropäischen Nationalstaaten verwurzelten jüdischen Bevölkerung eine offene Diskussion darüber hervor, welche Bedeutung der zionistischen Bewegung für die jüdische Identität in Europa zuzumessen sei.71 Unter den jüdischen Gegnern des Zionismus konnten diese Auseinandersetzungen die Ablehnung von grenzübergreifenden Verflechtungen, die über philanthropische Initiativen hinausgingen, zur Folge haben; unter den Zionisten dagegen führten sie oft zur Neudefinition von nationalstaatlicher Gebundenheit und nationaler Zugehörigkeit.
In der Entwicklungsgeschichte der zionistischen Bewegung haben Transfer- und Transformationsprozesse ganz unterschiedlicher Ausprägung eine entscheidende Rolle gespielt. Während die Entstehung der zionistischen Ideen vor allem im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen innerhalb und außerhalb der jüdischen Gemeinschaften in vielen Ländern der Diaspora zu sehen ist, waren bei der Gründung und Ausbreitung der ZWO sowie bei der Herausbildung ihrer Programmatik und Konzepte insbesondere transformatorische Vorgänge bedeutsam, die auf grenzübergreifende Kommunikation, Interaktion und Transfer zurückgeführt werden können. Programmatik, Konzepte und Beschlüsse, die in den Gremien der zionistischen Bewegung entstanden, wurden in verschiedenen Kontexten diskutiert und, meist unter Anpassung an die jeweiligen Bedingungen, in unterschiedliche Zusammenhänge übernommen. Die in der Auseinandersetzung mit der Linie der Zentrale und mit den Ideen und Konzepten der Zionisten in anderen Ländern gefestigten Positionen stellten oft Adaptionen der eigentlichen Programmatik dar, die jedoch auch wieder auf die Gesamtkonzeption der ZWO wirkten und neue Entwicklungen in Gang setzten, wie das Beispiel der Entstehung des "synthetischen Zionismus" zeigt. Rückwirkungen der durch Austausch beförderten Wandlungsprozesse sind allerdings nicht nur innerhalb der ZWO festzustellen, sondern ebenfalls in Bezug auf andere "kulturelle Systeme".72 Vor allem aufgrund ihrer international verankerten Basis forderte die zionistische Bewegung auch jene großen Teile innerhalb der jüdischen Gemeinschaften, die dem Zionismus fern standen, zu Reaktionen heraus, die ebenso grenzübergreifende Form annehmen konnten – wie etwa im Fall des 1912 gegründeten internationalen Zusammenschlusses der orthodoxen Gegner der säkularen zionistischen Bewegung, Agudat Israel. Zielsetzung, Programm und Arbeitsweise des transnationalen zionistischen Netzwerks brachten aber auch viele europäische Regierungen dazu, sich mit dem Zionismus zu beschäftigen. Bis zum Ersten Weltkrieg wurden die Forderungen der Zionisten allerdings kein Gegenstand multilateraler Politik; dennoch erreichten zionistische Politiker die Akzeptanz als Verhandlungspartner auf europäischer Bühne und als Fürsprecher einer europäischen Minderheitenpolitik auf der Grundlage einer national-kulturellen Autonomie.