Lesen Sie auch den Beitrag "The Paris Peace Conference (1919)" in der EHNE.
Einleitung
Internationale Organisationen sind institutionalisierte Orte der Interaktion zwischen Gruppen, Gesellschaften und Staaten mit dem Ziel, sich über gemeinsame Normen, Werte, technische Standards oder Mechanismen der Friedenssicherung zu verständigen. Der Völkerbund war die erste internationale Organisation, die soziale, kulturelle, technische, wirtschaftliche, politische und militärdrische Kooperationen unter einem Dach bündelte und den Anspruch vertrat, alle Weltregionen zu repräsentieren. Indem möglichst viele Belange des menschlichen Lebens einbezogen wurden, sollte der Völkerbund ein Forum werden, das Frieden förderte und Kriege verhinderte. Die mit diesem Versprechen verknüpften Hoffnungen wurden in Folge der Weltwirtschaftskrise erstmals enttäuscht und spätestens mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zunichte gemacht. Seitdem gilt der Völkerbund als Symbol für die Janusköpfigkeit der Zwischenkriegszeit: Neben einer Vielzahl technischer, gesundheits- und sozialpolitischer Innovationen, die der Arbeit der Vereinten Nationen nach 1945 den Weg ebneten und den Völkerbund als Akteur in Globalisierungsprozessen auswiesen, steht er paradigmatisch für europäische Rivalitäten, das Fortbestehen kolonialer Strukturen und die Unantastbarkeit nationaler Souveränitätsrechte. Der Beitrag skizziert diese Vielgestaltigkeit des Völkerbunds. Nach der Einführung in die Bedeutung des Völkerbunds und der Rolle Europas folgt ein Blick auf die Wurzeln der neuen Weltorganisation im europäischen Internationalismus des späten 19. Jahrhunderts. Danach werden Tätigkeitsfelder, Innovationen, strukturelle Schieflagen sowie das Vermächtnis des Völkerbunds in den Vereinten Nationen erläutert.
Die vielen Gesichter des Völkerbunds
"The League of Nations, created to preserve peace after a world cataclysm, expired tonight and willed to the United Nations its physical assets in the hope that the new organization might succeed where the League has failed."1 Angesichts der katastrophalen Ausmaße des Zweiten Weltkriegs war es Im April 1946 wenig verwunderlich, dass ein prominentes Blatt wie die New York Times das Scheitern der Weltordnung, die 1919 in den Pariser Friedensverträgen mit viel Optimismus ersonnenen worden war, mit dem Völkerbund verband. Indem der Völkerbund multilaterale Politik und transnationale Kooperationen in Wirtschaft, Kultur und sozialen Fragen verknüpfte, diente er als wesentliche Säule einer Friedensarchitektur, die der amerikanische Präsident Woodrow Wilson (1856–1924)[] der Öffentlichkeit in seinem 14-Punkte-Programm im Januar 1918 präsentiert hatte.2 Die ernüchternde Einschätzung, dass der Völkerbund als Organisation gescheitert sei, wirkte auch über die unmittelbare Nachkriegszeit hinaus. Damit verbunden war die Ansicht, dass der Völkerbund in sicherheitspolitischen Fragen ein Papiertiger geblieben war und seinen universalen Anspruch verfehlt hatte, da er zeit seines Bestehens eine europäische, von den Großmächten Frankreich und Großbritannien dominierte Institution geblieben war. Mit Sitz in Genf und zwei aus den britischen und französischen Verwaltungsapparaten rekrutierten Generalsekretären, Sir Eric Drummond (1876–1951) und Joseph Avenol (1879–1951),3 blieb der europäische Einfluss trotz der zeitweilig 61 Mitgliedsstaaten prägend, zumal die 26 europäischen Mitgliedsstaaten ungefähr 65 Prozent des Budgets des Völkerbunds finanzierten.4 Hinzu kam, dass die humanitären, sozialen und wirtschaftlichen Kommissionen des Völkerbunds sich ab 1920 auf Hilfsmaßnahmen und den Wiederaufbau in Mittel- und Osteuropa konzentrierten. Erst mit der schwindenden politischen Bedeutung des Völkerbunds ab den 1930er Jahren begann die Organisation ihr Augenmerk auf soziale oder gesundheitliche Großprojekte in Asien und Afrika zu legen.5 Ähnliches galt für die klassischen diplomatischen Disziplinen Friedenssicherung, Streitschlichtung und die Regelung von Souveränitätsrechten, die von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs als erste Aufgabe des Völkerbunds definiert worden waren. Mit Ausnahme der Mandschurei-Krise 1931, des italienisch-abessinischen Konflikts 1936 und der Mandatspolitik, die sich um die Treuhandschaft der vormaligen deutschen Kolonien und osmanischen Territorien kümmerte, lag auch hier der Schwerpunkt in Europa. Die unter internationale Aufsicht des Völkerbunds gestellten Städte Danzig und Fiume (Rijeka) sowie das Saargebiet waren das Erbe der zerschlagenen europäischen Imperien. Das Recht auf nationale Selbstbestimmung wurde nur für Minderheiten in Mittel- und Osteuropa angewandt, und die Fälle erfolgreicher Streitschlichtung in den 1920er Jahren resultierten überwiegend aus Grenzkonflikten zwischen europäischen Staaten.6
In der Rückschau entfaltete der Völkerbund die größte Wirkung im Bereich der humanitären und technischen Zusammenarbeit. Das Genfer Generalsekretariat wurde mit Abteilungen ausgestattet, die Probleme der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in den Feldern förderten, die bereits vor 1914 Gegenstand zwischenstaatlicher Kooperation oder zivilgesellschaftlicher Initiativen geworden waren.7 Dazu gehörten die Wirtschafts- und Finanzorganisation, die Gesundheitsorganisation, die Organisation für Transit und Kommunikation und die Organisation für geistige Zusammenarbeit. Hinzu kam die Social Section mit den Schwerpunkten Opium- und Rauschgifthandel, Kinderschutz und Prostitution sowie die von Fridtjof Nansen (1861–1930) ins Leben gerufene UN-Flüchtlingsorganisation.8 Dieser in den letzten Jahren entdeckte "dritte Völkerbund"9 ermöglichte Begegnung und Austausch zwischen staatlichen Akteuren, zivilgesellschaftlichen Gruppen und Experten in verschiedenen Bereichen und prägte diesen mithilfe eigens geschaffener völkerrechtlicher Normen.10 Die sozialen, humanitären, wirtschaftlichen und technischen Aktivitäten lassen den Völkerbund heute als ein innovatives und das 20. Jahrhundert in vielerlei Hinsicht prägendes Experiment erscheinen. An die Stelle einer machtpolitischen Lesart eines vermeintlichen Scheiterns ist so das Bild der "many Leagues of Nations" getreten. Zivilgesellschaftliche Initiativen konnten ihre Anliegen internationalisieren, und damit wurde ein neues Kapitel in der Geschichte der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit aufgeschlagen.11
Vom Vorkriegsinternationalismus zum Völkerbund
Der Erste Weltkrieg erwies sich als Katalysator für die Idee einer Nachkriegsordnung, die auf Prinzipien der kollektiven Sicherheit und grenzüberscheitenden Kooperation basierte. Kurz nach Kriegsausbruch gründeten sich in Frankreich, Großbritannien und den USA private Organisationen, die auf Frieden drängten und Überlegungen anstellten, wie die Nachkriegsordnung gestaltet werden sollte. Die 1915 gegründete britische League of Nations Society, die Association française pour la Société des Nations von 1918 und die 1915 in New York gegründete League to Enforce Peace versammelten während der Kriegsjahre mehrere hunderttausend Mitglieder, die sich in der Öffentlichkeit und bei den jeweiligen Regierungen aktiv für eine internationale Staatenunion einsetzten. Diese sollte nationale Souverä12 Diese Tradition eines liberalen Internationalismus war ab den 1860er Jahren entstanden. Ziel war es, durch die Gründung einer Vielzahl internationaler Organisationen Regelungen der Kommunikation, der Eisenbahn, des Postwesens, des geistigen Eigentums, der Zeitzonen oder der Maße und Gewichte zu vereinheitlichen.13 In einer zweiten Welle ab den 1880er Jahren rückten sozialpolitische Themen, Hygiene, internationale Konfliktbewältigung oder, wie der Universal Race Congress und der International Council of Women zeigten, die Emanzipation von rechtlich benachteiligten Gruppen auf die internationale Agenda.14 Auf der einen Seite dokumentierten diese Organisationen die allmähliche Herausbildung einer internationalen (wenngleich auf westliche bürgerliche Eliten beschränkten) Zivilgesellschaft. Diese forderte aktive politische Mitspracherechte ein und nahm auf nationale Regierungen Einfluss, indem sie eine transnationale Interessengemeinschaft bildete. Auf der anderen Seite trugen prominente Vertreter des organisierten Pazifismus, der internationalen Frauenbewegung oder Advokaten einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit aktiv dazu bei, eine neue Friedensordnung zu entwerfen. Indem sie einen Zusammenhang herstellten zwischen Abrüstung, der Einrichtung eines internationalen Gerichtshofs, der Regelung von Arbeitsstandards oder dem Verbot des Opiumhandels, bereiteten sie der Idee einer Weltorganisation den Weg und propagierten einen weiten Friedensbegriff.15
Der Vorkriegsinternationalismus schlug sich in der Satzung des Völkerbunds nieder. Artikel 14 sah die Einrichtung eines Ständigen Internationalen Gerichtshofs vor, der Streitfälle zwischen den Mitgliedsstaaten regeln sollte. Dieser nahm 1922 in Den Haag seine Arbeit auf und erfüllte damit das Versprechen der Den Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907, das die friedliche Regelung internationaler Konflikte vorsah und 1907 noch gescheitert war.16 Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), deren Gründung in Artikel 23 verfügt worden und deren Statut Bestandteil des Versailler Friedensvertrags war, schrieb die Ansätze einer internationalen Sozialpolitik fort. Diese hatten seit 1901 mit dem Internationalen Verein zum gesetzlichen Arbeitsschutz und dem dazugehörigen Internationalen Arbeitsamt in Basel grenzübergreifend Aufmerksamkeit gefunden. Mit der Erklärung "universal and lasting peace can be established only if it is based on social justice" reagierten die Gründungsstaaten des Völkerbunds und der ILO nicht zuletzt auf die Russische Revolution.17 Das in Artikel 23 ebenfalls formulierte Vorhaben, gegen den Opiumhandel sowie den Frauen- und Kinderhandel vorzugehen, war nicht aus der Luft gegriffen: Der Kampf gegen den sogenannten white slave trade wurde auf Betreiben des 1888 gegründeten International Council of Women in die Satzung aufgenommen und entwickelte sich zu einem zentralen Tätigkeitsfeld der von der Britin Rachel Crowdy (1884–1964)[] geleiteten Social Section.18 Durch den Kampf gegen das Opium ergriff der Völkerbund in einem sozialpolitischen Bereich die Initiative, der sich bereits Mitte der 1870er Jahre als ein globales Politikfeld unter Federführung zivilgesellschaftlicher pressure groups etabliert hatte. Mit dem internationalen Opium-Abkommen von 1912 war diese Bewegung Bestandteil internationalen Rechts geworden.19 In Artikel 24 der Satzung wurde schließlich der explizite Versuch formuliert, den Vorkriegsinternationalismus im Völkerbund aufzulösen. Dies sollte gelingen, indem man die bereits existierenden internationalen Organisationen eingliederte und dem Vorsatz folgte, alle zukünftigen internationalen Organisationen der Schirmherrschaft des Völkerbunds zu unterstellen.20 Obwohl zu diesem Zweck im Generalsekretariat eine Sektion unter der Leitung des Japaners Inazō Nitobe (1862–1933) eingerichtet worden war, scheiterte das Vorhaben auf ganzer Linie. Zur Koordination von geschätzten 300 internationalen Organisationen fehlten personelle Ressourcen. Hinzu kam, dass große Organisationen, wie die Pariser Verbandsübereinkunft für den Schutz des gewerblichen Eigentums, sich schlicht weigerten, ihre Autonomie aufzugeben.21
Der Völkerbund: "A Great Experiment in International Administration"
Die Satzung des Völkerbunds bildete zugleich die ersten 26 Artikel des Versailler Friedensvertrags und war damit unauflöslich mit dem Ende des Ersten Weltkriegs verbunden. Indem eine Organisation, deren Ziel die Etablierung einer friedlichen Nachkriegspolitik war, buchstäblich in einen Vertrag eingebettet wurde, der einen traumatischen Krieg beendete, war der Völkerbund trotz der breiten öffentlichen Unterstützung von Beginn an belastet. Langfristig haftete dem Bund der Beigeschmack einer von den Siegermächten oktroyierten Friedensordnung an. Verstärkt wurde dies noch durch die unausgewogene Mitgliederstruktur: Von den Großmächten waren nur Frankreich und Großbritannien dauerhaft Mitglieder. Die USA ratifizierte die Satzung nie, obwohl der US-Präsident Woodrow Wilson zu dessen maßgebenden Architekten gehört hatte. Dem besiegten Deutschland wurde erst 1926 der Beitritt erlaubt und die Sowjetunion trat 1934 zu einem Zeitpunkt bei, als Japan und NS-Deutschland schon wieder ausgetreten waren.22
Politische Organe waren die Generalversammlung der Mitgliedsstaaten und der Rat. Dieser bestand zunächst aus den vier ständigen Mitgliedern Großbritannien, Frankreich, Japan und Italien sowie aus vier wechselnden, von der Generalversammlung gewählten Mitgliedern, deren Zahl 1922 auf sechs aufgestockt wurde. 1926 vergrößerte sich der Rat erneut, nachdem Deutschland, vertreten durch den Reichsaußenminister Gustav Stresemann (1878–1929)[], als neues Mitglied einen ständigen Sitz und Spanien und Polen im Gegenzug jeweils einen semi-ständigen Sitz erhalten hatten. Semi-ständig meinte, dass Polen und Spanien nach Ablauf ihrer dreijährigen Mitgliedschaft im Rat immer wieder wiedergewählt werden konnten, während die anderen Mitgliedsstaaten nur einmalig Ratsmitglieder sein konnten. Beide Organe trafen Entscheidungen einstimmig. Damit einher ging die Überschneidung ihrer Zuständigkeiten, worin ein Konstruktionsfehler des Völkerbunds bestand. Denn der Rat stand in der Tradition des europäischen Konzerts der Großmächte und folgte damit den Gepflogenheiten der alten Diplomatie, während in Form der Generalversammlung die Vorstellung eines internationalen Parlaments umgesetzt wurde. Damit wurde die Forderung von Pazifisten und Fürsprechern des Völkerbunds nach einer neuen, demokratisierten Diplomatie eingelöst.23
Diese Gleichzeitigkeit von konventioneller Diplomatie und neuen politischen Strukturen prägte den Völkerbund. In der Satzung war das Prinzip der nationalen Souveränität festgeschrieben, deren Unantastbarkeit mehrere Artikel postulierten: Artikel zehn garantierte territoriale und politische Integrität, Artikel fünf forderte Einstimmigkeit in allen Beschlüssen und Artikel 11 bis 17 regelten das Verfahren zur Streitschlichtung zwischen Mitgliedsstaaten.24 Dagegen standen die in Artikel 22 vorgesehene Unterstellung der ehemaligen deutschen Kolonien und Gebiete des aufgelösten Osmanischen Reiches in ein System des "sacred trust of civilisation"25 sowie die Umsetzung des von Woodrow Wilson 1918 lancierten Prinzips der nationalen Selbstbestimmung. Dieses bot ethnischen oder religiösen Minderheiten die Möglichkeit, bei staatlicher Diskriminierung oder Benachteiligung den Völkerbund als Schlichter anzurufen.26 In der Praxis spiegelte die spannungsreiche Umsetzung dieser Prinzipien wider, wie wenig ausgewogen ihr Verhältnis zueinander war: Der Unantastbarkeit nationaler Souveränitätsrechte standen die Ambitionen der Großmächte auf territoriale Expansion gegenüber. Diese konnten wiederum durch ein Petitionsverfahren am Nationalstaat vorbei eingedämmt werden, das die Minderheiten- und Mandatspolitik ganzen Bevölkerungen einräumte. Deutlich trat dies beim Minderheitenschutz zu Tage. Die Großmächte hatten den Umgang mit ihren eigenen Minderheiten dem internationalen Zugriff explizit entzogen; zudem blieb der Handlungsspielraum der Abteilung unter Leitung des Norwegers Erik Colban (1876–1956) trotz einer Reihe von Streitigkeiten in den neuen Staaten Ostmitteleuropas beschränkt. Dies lag an einem undurchsichtigen Petitionsverfahren sowie an fehlenden Sanktions- und Kontrollmöglichkeiten. Der Schutz politisch oder kulturell bedrohter Minderheiten machte de facto an den Grenzen staatlicher Hoheitsrechte Halt.27 Mit den Mandaten begünstigte der Völkerbund eine koloniale Politik, die sich einer Rhetorik von Treuhandschaft und Zivilisierungsmission bediente.28 Obwohl die Mandatsmächte jährlich Bericht erstatten mussten und die Gebiete, die unter Mandat standen, mit Eingaben an den Völkerbund Druck auf die Mandatsmächte ausüben konnten und dies auch taten,29 blieben diesen ausreichend Instrumente, um ihren kolonialen Einflussbereich auszudehnen. Dabei nutzten sie eine Sprache, die im Sinne eines "imperial internationalism" 30 das Recht auf politische Emanzipation, transnationale Kooperationen, Vormundschaft und das Denken in Zivilisierungsstufen miteinander verband.
Das Generalsekretariat war eine innovative Errungenschaft, die in vielerlei Hinsicht Neuland betrat und am ehesten das Programm der new diplomacy, einer auf öffentlicher Legitimation basierenden Politik, vertrat. Institutionell brachte es drei Neuerungen. Um die Unabhängigkeit der Organisation zu gewährleisten, genossen die Beamten diplomatische Vorrechte wie steuerliche und strafrechtliche Immunität, die sonst nur Diplomaten souveräner Staaten zustanden. Außerdem waren die ca. 700 Beamten Anfang der 1930er Jahren, die aus 40 vorwiegend europäischen Ländern kamen, gegenüber dem Völkerbund zu Loyalität verpflichtet und damit durch ihre Anstellung von der staatsbürgerlichen Loyalität entbunden.31 Artikel sieben der Satzung schrieb die Gleichberechtigung der Geschlechter bei der Einstellung von Mitarbeitern vor – auch wenn dort mit Ausnahme von Rachel Crowdy die meisten Frauen als Stenotypistinnen oder Kopistinnen arbeiteten.32
Die Informationsabteilung des Völkerbunds zählte von Beginn an zu den größten Abteilungen. Nach Art einer Propagandaabteilung war sie für die Aufbereitung von Informationen zuständig und sollte für positive Presse sorgen. Ihr Außenauftritt gestaltete sich allerdings schwierig, was der Spannung zwischen nationaler Souveränität und politischem Gemeinschaftswillen geschuldet war. Da der Völkerbund die internationale Staatengemeinschaft nur repräsentierte, lautete die Vorgabe "not to make propaganda under any circumstances, not even propaganda for the League".33 Damit absolvierte die Informationsabteilung eine Gratwanderung. Sie sollte einerseits in der vom Völkerbund imaginierten Weltgemeinschaft eine internationale Öffentlichkeit formen; andererseits sollte sie sich darauf beschränken, Informationen über die zahlreichen Aktivitäten des Völkerbunds aufzubereiten und die Bildung der öffentlichen Meinung den nationalen Korrespondenten überlassen.34
Der Völkerbund in den "goldenen" 1920er Jahren
In den 1920er Jahren schien das Prinzip der kollektiven Sicherheit durch die Internationalisierung von Konflikten aufzugehen. Mehrere Grenzkonflikte zwischen europäischen Staaten konnten beigelegt werde. Im Streit um die Åland-Inseln zwischen Schweden und Finnland 1921 entschied der Rat nach langwierigen Untersuchungen, dass die Inseln zu Finnland gehören sollten. Die Åland-Inseln wurden zu einer autonomen und entmilitarisierten Zone, in der die mehrheitlich schwedische Bevölkerung volle politische, kulturelle und sprachliche Rechte erhielt.35 Es folgten die Streitschlichtung zwischen Albanien und Jugoslawien 1921, zwischen Bulgarien und Griechenland 1925 und im Fall der Besetzung Korfus 1923 durch das faschistische Italien legte der Rat den Konflikt bei und verhinderte die Ausrufung des Bündnisfalls.36 Die Teilung Oberschlesiens 1921 in einen polnischen und einen deutschen Teil war ein Beispiel für die Festlegung von umstrittenen Grenzverläufen in ethnisch heterogenen Gebieten. Der Grenzverlauf wurde nach einer Volksabstimmung auf Grundlage eines 606 Paragraphen umfassenden Vertrags bestimmt. Dieser betonte die Rechte der nationalen Minderheiten und setzte ein deutsch-polnisches Komitee zur Beaufsichtigung der Grenzkooperationen ein.37
Die Flüchtlingshilfe gehörte zu den dringendsten Aufgaben des Völkerbunds. Neben der Rückführung von ca. 430.000 Kriegsgefangenen aus Russland in ihre Heimatländer kümmerte sich der Norweger Fridtjof Nansen, der 1921 auf Initiative des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes vom Völkerbund als Hochkommissar für Flüchtlinge eingesetzt wurde, um den Verbleib von geschätzten 1,5 Millionen Flüchtlingen. Sie waren in Folge des russischen Bürgerkriegs in Städten wie Paris und Konstantinopel oder am Schwarzen Meer ins Exil gegangen waren. Da viele Flüchtlinge ihre Ausweispapiere verloren hatten oder von den Bolschewiki ausgebürgert worden waren, stellte der Hochkommissar Ersatzpapiere aus. Dieser sogenannte Nansen-Pass wurde bis 1942 von 52 Regierungen als offizielles Passdokument anerkannt.38 Die teilweise Repatriierung der russischen Flüchtlinge ging einher mit Hilfe für 20 Millionen Russen, die wegen einer Dürre von einer Hungersnot bedroht waren. Die Unterstützung des Hochkommissariats durch das Rote Kreuz, den Save the Children Fund, die Quäker und die American Relief Administration machte deutlich, dass das humanitäre Engagement des Völkerbunds von international agierenden Hilfsorganisationen abhängig war. Sie stellten Personal, Expertise und Logistik bereit und unterstützten mit ihrem Budget das Hochkommissariat.39
Nachhaltig wirkte auch die Wirtschafts- und Finanzorganisation (EFO, Economic and Financial Organization) im vom Krieg zerrütteten Europa.40 Die EFO wurde 1920 ins Leben gerufen, nachdem die anhaltend instabile Wirtschaftslage der mittel- und osteuropäischen Staaten deutlich gemacht hatte, dass sich wirtschaftliche Stabilisierung nicht von alleine einstellte, sondern über internationale Kooperation erreicht werden musste. Die EFO sammelte zunächst Daten und erstellte Statistiken zur Lage einzelner Volkswirtschaften in Europa. Angesichts der drohenden Staatspleiten Österreichs und Ungarns 1922 entwickelte sie sich zu einem beratenden Organ, das als eigenständiger wirtschaftspolitischer Akteur in Erscheinung trat. Auf Bitten Österreichs vermittelte die EFO beiden Staaten neue Kredite und ein vom Völkerbund eingesetzter Kommissar stellte die Aufsicht über den österreichischen und ungarischen Finanzhaushalt kurzzeitig unter internationale Kontrolle. In den 1930er Jahren war die EFO mit 65 Mitarbeitern die größte Abteilung im Generalsekretariat. Sie galt als innovativer think tank, dessen statistischer Dienst eine Vorreiterrolle in der Sammlung und Aufbereitung von Daten einnahm. In der Kommissionen trafen sich führende Ökonomen, Banker und Wirtschaftsexperten, die, wie etwa Jean Monnet (1888–1979), nach 1945 den europäischen Wirtschaftsraum aufbauten.
Das Gegenstück zur EFO bildete die 1922 gegründete Kommission für geistige Zusammenarbeit, die Wissenschaft, Bildung und Kultur als gemeinsames Aufgabenfeld der Mitgliedsstaaten definierte. Die 1926 um das Institut für geistige Zusammenarbeit in Paris erweiterte Kommission blieb wegen ihren vielen Aktivitäten und wenig konkreten Ergebnissen umstritten.41 Die Kommission sollte Interkulturalität über die Zirkulation von Ideen, Personen, Kulturgütern und Wissen befördern und dabei Universitäten, Bildungseinrichtungen, Experten und gesellschaftliche Gruppen aktiv einbeziehen.42 Bestehend aus prominenten Intellektuellen wie Albert Einstein (1879–1955) oder Marie Curie (1867–1934), sollte sie die militärische um die "moralische Abrüstung" ergänzen.43 Verstanden wurde dies als Dialog zwischen Zivilisationen, der auf einem eurozentrischen Verständnis von Kultur beruhte: Vermittelt wurden literarische oder intellektuelle Texte aus außereuropäischen Regionen zum Beispiel in Form der Collection ibéro-américaine, der Collection japonais, der Buchserie Civilisations oder der Einrichtung des internationalen Museumsamtes 1927 in Paris.44 Einen praktischen Zweck verfolgte die Kommission mit dem Projekt, nationalistische oder aggressive Inhalte aus nationalen Schul- und Lehrbüchern zu streichen. Statt der ursprünglichen Idee zu einem einheitlichen internationalen Geschichtsbuch, strebte man nun die unverbindliche Überarbeitung von Schulbüchern nach bestimmten Kriterien an. Dieses Vorhaben wurde 1937 zwar durch eine internationale Deklaration über den Geschichtsunterricht untermauert, hatte aber wegen fehlender Mechanismen zur Implementierung nur regionale Wirkkraft.45
Der Völkerbund in den 1930er Jahren
Von Februar 1932 bis Juni 1934 tagte in Genf die erste internationale Abrüstungskonferenz. Sie scheiterte an der Beharrlichkeit nationaler Sicherheitsinteressen und der Weigerung der europäischen Mächte, sich auf die von der Preparatory Commission for the Disarmament Conference seit 1926 sorgsam vorbereiteten Abrüstungsszenarien einzulassen.46, Die Austritte Japans und Deutschlands aus dem Völkerbund ereigneten sich im März und November 1933 und damit inmitten der politisch spannungsreichen Verhandlungen. Sie verstärkten den Eindruck der Zeitgenossen, dass mit der Abrüstungskonferenz zugleich die politischen Ambitionen des Völkerbunds gescheitert waren, ein kollektives System der Sicherheit zu etablieren. Dafür verdeutlichte die Abrüstungskonferenz, dass der Völkerbund seit 1919 als Anlaufstelle für transnational agierende zivilgesellschaftliche Akteure an Bedeutung gewonnen hatte. Die Konferenz war eingebettet in eine öffentlich und medial inszenierte Abrüstungskampagne, getragen von einer breiten Koalition europaweit agierender Verbände. Diese reichten von den nationalen Völkerbundgesellschaften über transnationale Organisationen zur Förderung von Kultur und Bildung, wie dem International Student Service oder dem PEN Club, über religiöse humanitäre Organisationen, wie den Quäkern, bis zu transnationalen politischen Organisationen, wie der International Federation of Trade Unions.47 Damit war der Völkerbund zu einem zugkräftigen Sammelbecken für transnationale Netzwerke und zivilgesellschaftliche Akteure geworden.
Der japanische Einmarsch in der Mandschurei 1931 und der italienische Einmarsch in Abessinien 1935 besiegelten die Unwilligkeit der europäischen Großmächte, den Völkerbund als Instrument der Friedenssicherung zu nutzen. Beide Ereignisse zeigten, dass die Tradition der europäischen Großmacht- und Kolonialpolitik das Postulat einer demokratisierten Diplomatie und die institutionelle Einbindung nichtstaatlicher Interessengruppen überlebt hatte. Symbolisch dafür stand der medial aufmerksam begleitete Auszug des äthiopischen Kaisers Haile Selassie (1892–1975) aus der Generalversammlung des Völkerbunds im Juni 1936, nachdem Großbritannien und Frankreich den italienischen Annektionsplänen entgegengekommen waren. Selassies Appell an die Generalversammlung, Abessiniens Recht auf territoriale Integrität anzuerkennen, war wirkungslos geblieben.48 Die vom Völkerbund 1931 in die Mandschurei geschickte Untersuchungskommission zur Klärung der Sachlage unter Leitung von Lord Lytton (1876–1947) bestand aus ehemaligen britischen, französischen, deutschen und italienischen Kolonialbeamten, die trotz einer ausgewogenen Darstellung das japanische Interesse an einer regionalen Vormachtstellung im Prinzip anerkannten.49
Trotz des politischen Stillstands setzten die technischen Organisationen ihre Arbeit fort. Während die Gesundheitsorganisation die europäischen Flüchtlingsschauplätze hinter sich ließ und stattdessen die sozialen Bedingungen von Krankheiten in Afrika und Asien in den Blick nahm,50 wandte sich die Organisation für Kommunikation und Transit dem europäischen Beziehungsgefüge zu. Sie trieb das Projekt einer europäischen Integration mit Plänen für ein paneuropäisches Autobahn- und Elektrizitätsnetzwerk auf eigene Weise voran.51
Wege in eine neue Weltordnung: Vom Völkerbund zu den Vereinten Nationen
Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, fand das Genfer Sekretariat sich am Rand des Geschehens und das erst wenige Jahre zuvor eingeweihte neue Gebäude, das Palais des Nations, wurde nur noch von wenigen internationalen Beamten belebt. Während die ILO ihren Sitz auf Einladung der kanadischen Regierung im Sommer 1940 an die McGill University in Montreal verlegte,52 zogen die EFO und die Abteilung für Transit auf Einladung der Rockefeller Foundation und der Universität Princeton an das Institute for Advanced Studies in Princeton; in Genf blieb der im September 1940 eingesetzte Interimsgeneralsekretär Sean Lester (1888–1959) mit einem geschrumpften Apparat zurück.53
In Princeton setzten die Beamten ihre Arbeit fort. Sie produzierten wegweisende Studien zum wirtschaftlichen Wiederaufbau und bereiteten in Zusammenarbeit mit der US-amerikanischen Administration dem Bretton Woods System den Weg.54 Ähnlich nachhaltig wirkte der sogenannte Bruce-Report von August 1939.55 Der Bericht sollte eine Reform des Völkerbunds einleiten, die auf Stärkung der wirtschaftlichen und sozialen Aktivitäten zielte. Die Kommission unter Leitung des früheren australischen Premierministers Stanley Bruce (1883–1967) schlug die Zusammenlegung aller sozialen und wirtschaftlichen Aktivitäten in einem Central Committee for Economic and Social Questions vor. Diese sollte ein eigenes Budget erhalten, losgelöst von Rat und Generalversammlung arbeiten und Nichtmitgliedern die Mitarbeit ermöglichen – eine Initiative, die vor allem auf die offizielle Einbindung der USA in die Wirtschaftspolitik der EFO zielte.56
Am 19. April 1946 hörte der Völkerbund formal auf zu existieren, nachdem am Tag zuvor die Generalversammlung getagt hatte. Sie hatte die Vereinten Nationen, deren Charta bereits am 26. Juni 1945 in San Francisco unterschrieben worden war, offiziell als "Erben" eingesetzt: Die Generalversammlung übertrug ihre Vollmachten und Aufgaben der UN, überschrieb dieser zugleich das Palais des Nations in Genf sowie Bibliothek und Archiv des Völkerbunds und verteilte schließlich das restliche Budget auf die noch verbliebenen Mitgliedsstaaten.
Der Völkerbund wirkte allerdings über sein formales Ende hinaus. Besonders die Princeton Mission und der Bruce-Report wiesen den Weg in die Nachkriegsordnung, die geprägt war von der Verschiebung des politischen Kräfteverhältnisses zwischen Europa und den USA und dem Nord-Süd-Konflikt. Die Vorschläge des Bruce-Komitees mündeten im Economic and Social Council der Vereinten Nationen, dessen Mitgliedsstaaten und Tätigkeitsfelder bis heute schwerpunktmäßig in der außereuropäischen Welt liegen. Mit der Verlegung des Hauptsitzes nach New York überwanden die Vereinten Nationen die Europazentrierung des Völkerbunds.