Vorbemerkung
Als islamisches Recht wird im Folgenden, ungeachtet der Unschärfen des Begriffs,1 die in den ersten vier Jahrhunderten der islamischen Geschichte ausgebildete und bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts tradierte Rechtsordnung verstanden.
Seit dem 17. Jahrhundert entstanden Reformbewegungen, für die es einerseits einen äußeren Anstoß durch Europa gegeben hat, die aber andererseits auch aus der eigenen Tradition schöpfen konnten. Dies führte schließlich im 19. und 20. Jahrhundert zur Entstehung eines modernen islamischen Rechts, das jedoch in seiner Legitimierung einer Zerreißprobe ausgesetzt ist. Im innerislamischen Diskurs gilt dies vor allem für die Versuche der Kodifikation des Familien- und Erbrechts bzw. der Generierung eines modernen islamischen Wirtschaftsrechts.
Grundsätzlich ist zu beachten, dass im Vergleich mit anderen Religionen die rechtliche Dimension im Islam einen hohen Stellenwert besitzt. Auch bei der Ausdifferenzierung verschiedener Richtungen innerhalb des Islam werden organisatorisch-rechtliche Unterschiede in den Vordergrund gestellt (Kalifatstheorien2 und Rechtsschulen) während etwa im Christentum – zumindest vordergründig – auf theologische Diskurse abgestellt wurde und eine Ausdifferenzierung nach "Konfessionen" erfolgt ist.
Das Entstehen des islamischen Rechts
Obwohl der Qur'an (Koran) – anders als etwa das Neue Testament – in ca. 500 von 6.237 Versen Verhaltensanordnungen enthält, ist er weit davon entfernt ein Gesetzbuch zu sein. Erstens umfasst der Großteil dieser Verse Ritualvorschriften und nur ein kleiner Teil betrifft Themen des Zivil- und Strafrechts. Zweitens sind auch diese Bestimmungen überwiegend als ethische Pflichtenlehre formuliert und werden nur ausnahmsweise und für wenige Bereiche zu einer stärker rechtlich geprägten Sprache verdichtet.
Es besteht in der Forschungsliteratur heute ein weitgehender Konsens darüber, dass man in der islamischen Frühzeit bei Rechtsfragen zunächst von den jeweils bestehenden Rechtsordnungen ausging. Es stellten sich dann aber zunehmend Ordnungsfragen, die – wie das für die formative Phase von religiösen Rechten charakteristisch ist – eine entsprechende Überformung und Ergänzung durch die auf Mohammad zurückgeführten Rechtstraditionen der koranischen Offenbarung zur Folge hatten.
Dabei standen sich zwei allerdings nicht klar voneinander abgrenzbare Denkschulen gegenüber. Während die ahl al-ra'y als "Leute der eigenen Meinung" für eine eigenständige Reflexion eintraten, orientierten sich die ahl al-ḥadīṯ ("Leute des Hadith") strikt an den überlieferten Taten und Aussprüchen des Propheten, deren Authentizität damit zu einem Grundproblem wurde. Zu diesem Zweck entwickelten Theologen und Juristen Kriterien, welche die Authentizität der entsprechenden Überlieferungen nachweisen sollten. Diese Kriterien werden heutigen wissenschaftlichen Standards nicht gerecht, was im 20. Jahrhundert eine hadith-kritische Forschung auf den Plan rief. Die radikale Position, vertreten vor allem von Ignaz Goldziher (1850–1921) und Joseph Schacht (1902–1969),3 dass man erst im islamischen 2. Jahrhundert von einem islamischen Recht sprechen könne und es sich bei den prophetischen Überlieferungen überwiegend um spätere Konstrukte und damit um "Fälschungen" handele, wird von der Islamwissenschaft heute in dieser Radikalität mehrheitlich abgelehnt. So wurde etwa darauf hingewiesen, dass "schon im 1. Jahrhundert bewusst auf den Koran und auf Entscheidungen des Propheten als Rechtsquellen zurückgegriffen wurde, wenn auch nicht in dem Umfang späterer Zeit".4 Inhaltliche Kontinuitäten sind daher anzunehmen, wenngleich in der modernen Forschung die Mehrheit der dem Propheten zugeschriebenen Überlieferungen formal als apokryph angesehen wird.5
Das Bemühen der Rechtspraxis um Übereinstimmung mit den ethischen Prinzipien des Qur'an und der prophetischen Tradition hatte mehrere Konsequenzen. Einerseits führte dies zu einer Sakralisierung des solcherart legitimierten Rechts. Andererseits hatte diese Entwicklung eine Verrechtlichung des sich herausbildenden Islam zur Folge. Damit waren und sind für den Islam alle Gefahren gegeben, die für religiös legitimierte ideale rechtliche Konstrukte in der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Realitäten typischerweise verbunden sind.
Die prophetische Tradition (sunna) wurde mit den koranischen Bestimmungen im sunnitischen Islam zum primären islamischen Recht, der Scharia (šarī‛a), zusammengefasst. Darin wurzelnde methodische Anweisungen für die weitere Rechtsfindung (iğmā/Konsens und qiyās/Analogie) werden traditionell ebenfalls zu den primären Rechtsquellen gezählt, was jedoch nicht unumstritten ist.6 Hinsichtlich des Konsenses ergibt sich ähnlich wie für das Christentum die Frage, wer an der Konsensbildung beteiligt sein muss und vor allem welcher Stellenwert der Gemeinschaft der Gläubigen als handelndem Subjekt zukommt. Allgemein bedarf es Regelungen, die festlegen, wie der Konsens – etwa im Rahmen einer Synode – methodisch erreicht bzw. institutionalisiert werden kann. Außerdem wird die Zulässigkeit der Analogie und anderer juristischer Argumentationsfiguren nicht von allen Rechtsschulen bejaht.7 Weitere Mittel der Auslegung und Rechtsfortbildung sind in der Lehre noch umstrittener, so istiḥsān (umfasst im Wesentlichen Ableitungen von allgemeinen Rechtsprinzipien und Entscheidungen bei Normenkollision) und istiṣlāḥ (Berücksichtigen des allgemeinen Interesses). Wegen ihrer dezisionistischen Akzentuierung waren diese Instrumente die Ursache, dass bis heute eine extreme Güterabwägung im Einzelfall in der juristischen Methodenlehre als "Kadi-Justiz" bezeichnet wird.
Als fiqh (Einsicht, Verstehen) wird die Wissenschaft bezeichnet, die ausgehend von dem so entstandenen primären islamischen Recht und den in ihm enthaltenden methodischen Anleitungen8 seit dem Ende des 8. Jahrhunderts entwickelt wurde. Die auf diese Weise gewonnenen Normen werden als Produkt systematischen menschlichen Bemühens angesehen. Es bildeten sich Rechtsschulen heraus, die von den jeweiligen lokalen Traditionen bestimmt waren und auch unterschiedliche methodische Zugänge aufwiesen. Möglicherweise auf obrigkeitliche Initiative hin wurden im 9. Jahrhundert nach byzantinischem Vorbild umfassende Rechtssammlungen und juristische Schulwerke verfasst. Diese Arbeiten führten nicht nur zu einer Systematisierung des Rechts, sondern schufen schließlich auch die Voraussetzung dafür, dass die führenden Gelehrten die Rechtsfindung durch eigene Anstrengung für abgeschlossen erklärten (Schließen des Tores der iğtihād). Ungeachtet der Tatsache, dass sich das islamische Recht in der Praxis als Gelehrten- und Richterrecht in der Falllösung weiterhin flexibel zeigte, erhielt es damit in der Theorie doch eine abschließende Gestalt. Aus der Sicht der vergleichenden Rechtsgeschichte ist es bemerkenswert, dass es auch im Recht der verschiedenen Ostkirchen und im jüdischen Recht vom 10. bis zum 13. Jahrhundert zu abschließenden Sammlungen und Schulwerken kam.9 Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass hierbei das islamische Recht eine gewisse Vorbildwirkung hatte bzw. dass die praktische Notwendigkeit gegeben war, das geltende Recht der christlichen und jüdischen Minderheiten im islamischen Herrschaftsbereich zusammenzufassen.
Das islamische Recht enthält wie alle religiösen Rechte Normen für die Gestaltung der Beziehungen zu Gott (‛ibādāt) und für die Beziehungen der Menschen untereinander (mu‛āmalāt). Es kam jedoch zu keiner Ausdifferenzierung der beiden Rechtssphären als Folge einer institutionell-machtpolitischen Gewaltenteilung, wie sie als revolutionäre Entwicklung die Rechtsgeschichte im Westen seit dem Hochmittelalter bestimmte.10 Die enge Verflechtung von Recht und Religion im Islam erwies sich für den Rechtstransfer in beiden Richtungen zwischen dem islamischen und dem europäischen Recht bis weit in die Neuzeit naturgemäß eher hinderlich.
Die frühen Einflüsse auf das entstehende islamische Recht
Die Ursprünge des islamischen Rechts sind sowohl in der islamischen Rechtswissenschaft als auch in der Islamwissenschaft ein zentrales Thema geworden. Aufgrund der sich über nahezu drei Jahrhunderte erstreckenden Entstehung des islamischen Rechts stellt sich die Frage, aus welchen Quellen es in dieser Zeit gespeist wurde. Der entstehende Islam war mit einem syrisch-christlichen bzw. arabisch-christlichen Milieu konfrontiert worden, das die Göttlichkeit Jesu und damit die orthodoxe Trinitätslehre ablehnte. Dies hat in jüngster Zeit Anlass zu vielen Spekulationen gegeben, inwieweit der strikt monotheistische Islam in dieses christliche Umfeld ursprünglich eingebettet war11 und welche Konsequenzen für die Ursprünge des islamischen Rechts sich daraus ergäben.
Auch wenn diesen Theorien kaum gefolgt werden kann, steht außer Zweifel, dass die Muḥammad (ca. 570–632) zugeschriebene Offenbarungserfahrung in der jüdisch-christlich biblischen Tradition wurzelt. Dies wird naheliegenderweise auch in den darin enthaltenen ethischen Prinzipien und Anordnungen deutlich, die sich damit in die gesamte nahöstliche Rechtstradition einfügen.12
Eine weitere Rechtsschicht ergibt sich aus dem Einfluss des altarabischen Gewohnheitsrechts. Dieses bringt nicht nur tribale Ordnungs- und Konfliktlösungsinstrumente in das islamische Recht ein, wie beispielsweise den "Stammesrat" (šūrā) und die konsensorientierte Streitlösung durch Vermittler (eine Rolle die Mohammad in Medina zugeschriebene wird), sondern auch Usancen der mekkanischen Händler und der eher bäuerlichen Gesellschaft von Medina.
Das syrische Christentum kommt – wie immer man seine Bedeutung in den "dunklen Anfängen" sieht – als Ursprung für Rechtstransfer in Frage. In diesem Zusammenhang wird in der Forschungsliteratur immer wieder auf das in der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts wahrscheinlich in Antiocheia entstandene Syrisch-römische Rechtsbuch verwiesen,13 das im gesamten christlichen Orient eine breite Rezeption erfahren hat. Seine römisch-rechtliche Verortung wurde deutlich gemacht,14 die Einordnung in die nahöstliche Rechtsgeschichte bzw. seine Wirkungsgeschichte – vor allem auch in Bezug auf das entstehende islamische Recht – ist jedoch noch immer umstritten.
Damit ist die Frage nach dem Einfluss des römischen Rechts auf das islamische Recht berührt: ein Thema, das besonders seit dem Erscheinen von Joseph Schachts Werk The Origins of Muhammadan Law im Jahr 1950 die Gemüter bewegt hat. In jüngster Zeit nehmen die Forschungsarbeiten zu diesem Thema deutlich zu. Ein besonders instruktives Beispiel dafür stellt die Frage des frühislamischen Patronats – also das Verhältnis des ehemaligen Besitzers zu seinem freigelassenen Sklaven – dar.15
Während der byzantinische und sassanidische Einfluss auf die Verwaltung des entstehenden islamischen Großreiches in der Forschungsliteratur weitgehend unbestritten ist, hat Benjamin Jokisch 2007 in einer umfangreichen Untersuchung auf einen darüber hinausgehenden, besonders bemerkenswerten Rezeptionsvorgang hingewiesen: Er stellte die auffälligen Parallelen zwischen dem monumentalen Schulwerk des Asch-Schaibānī (749/750–805), eines der Begründer der hanafitischen Rechtsschule, der unter Kalif Hārūn ar-Raschīd (ca. 763–809) an maßgeblichen Stellen wirkte, und dem justinianischen Kompilations- und Gesetzeswerk dar: "The state jurists Shaybānī and Abū Yūsuf produced an imperial code which consisted of six parts … The code was presented as part of the Islamic-Arabic tradition and intended to be more or less binding for the Muslims in the Caliphate." Und weiter: "The imperial code was largely based – both in structure and in content – on Roman Law (Digestsumma of the Anonymos and the Glosse of Enantiophanes), but to some extent also on Jewish law, Canon law and other rulings which had been developed in Islam before the codification".16 Mit dieser These ist sichergestellt, dass die Diskussion um die außerislamischen Quellen des islamischen Rechts noch lange nicht beendet ist. Jokisch geht überdies davon aus, dass durch die Konfrontation mit dem islamischen Recht nicht nur die westliche "Wiederentdeckung" des römischen Rechts im 11. Jahrhundert angestoßen wurde, sondern dass sich vor allem dessen scholastische Verwissenschaftlichung durch die Verbindung mit der aristotelischen Logik auf islamische Vorbilder zurückführen lässt; daher fänden sich auch praktisch alle Literaturgattungen des mittelalterlichen gelehrten Rechts bereits in den Schriften der islamischen Juristen.17
Mittelalterliche und neuzeitliche Einflüsse
Im Mittelalter kamen als Kontaktzonen von islamischem und westlichem Recht die Kreuzfahrerstaaten, der Handelsverkehr mit den italienischen Städten und auch Sizilien und Spanien in Frage. Was die Situation in den Kreuzfahrerstaaten betrifft, so berichten uns arabische Quellen neben viel Negativem auch über unbehinderte Handelsbeziehungen und über die dort herrschende Rechtssicherheit.18
Das wichtigste Medium europäisch-islamischen Rechtstransfers waren die Verträge zwischen islamischen Herrschern und christlichen Seemächten, in denen eine Art mediterranes Seehandelsrecht entstand, das einerseits auf vor-islamischem Recht aufbaute, andererseits aber in beachtlicher Weise durch islamisches Recht weitergebildet wurde.
Im 13. Jahrhundert wurde mit der Übernahme byzantinischer Institutionen durch das expandierende Osmanische Reich ein neues Kapitel des Rechtstransfers aufgeschlagen.19 So spricht allein schon die Tatsache, dass keines der frühneuzeitlichen islamischen Reiche eine in ihrer Intensität dem Osmanischen Reich vergleichbare herrscherliche Rechtsetzung kannte, für eine Anknüpfung an kaiserlich-byzantinische Vorbilder.20 Sultan Süleyman I. (ca. 1494–1566), der im Westen mit dem Beinamen "der Prächtige" versehen wurde, erhielt in der islamischen Tradition aufgrund seines Engagements in Rechtsfragen den Beinamen al-Qanuni, "der Gesetzgeber". Dabei ist zu bedenken, dass das klassische islamische Recht – ungeachtet des oben erwähnten Versuches einer "reichsrechtlichen" Kodifikation unter Hārūn ar-Raschīd – keine menschliche Gesetzgebungskompetenz anerkennt und die "Gesetzgebung" der osmanischen Sultane in der Theorie auf die Kompetenz des Herrschers zur Setzung ergänzenden Rechts im Bereich der politischen Ordnung und Staatsverwaltung beschränkt war. Vergleichbar dem Privilegienrecht des westlichen Mittelalters überdauerte der Geltungsanspruch dieser Anordnungen den Herrscher anfangs nur dann, wenn sie durch seinen Nachfolger bestätigt wurden. Der Anspruch eines lediglich rechtsergänzenden Charakters erwies sich jedoch nicht zu selten als "fromme Fiktion".21 Unter Süleyman wurde auch die Tätigkeit der Kadis stärker an den sie bestellenden Sultan gebunden, um durch die Einheitlichkeit der Rechtsprechung die Rechtssicherheit zu verbessern.22 Es ist in diesem Zusammenhang allerdings bemerkenswert, dass aus der byzantinischen Rechtssprache der für kirchliches Recht verwendete Begriff "Kanon" (arab. Qanun) – und nicht der für das staatliche Gesetz gebrauchte Begriff nomos – übernommen wurde, um die staatliche "ergänzende" Rechtsetzung von der Scharia zu unterscheiden. Seit Mehmed II. (1432–1481) wurde diese Rechtsetzung in Kodifikationen – als qānūnnāme bezeichnet – zusammengefasst.23
Zu den Rechtsbereichen mit dem stärksten byzantinischen Einfluss werden in der Forschungsliteratur die Finanzverwaltung24 und die Organisation des Agrarwesens und des städtischen Handwerks25 gezählt. Ein für die Organisation des Reiches bedeutsamer Rechtstransfer geschah durch die Übernahme wesentlicher Elemente der zu Beginn des 12. Jahrhunderts entstandenen byzantinischen Pronoia26 in das osmanische tımar-System seit dem 13. Jahrhundert.27 Diese sich deutlich vom westlichen Lehenssystem unterscheidende feudale Tradition hat später neben der Übernahme von Elementen des dhimmi-Konzepts den Aufbau der österreichischen Militärgrenzverwaltung bestimmt. Ein bemerkenswerter Rechtstransfer vollzog sich auch mit der Übernahme des sächsischen Bergrechts, vor allem in den Bergbaugebieten des Balkans, wo es als kanun-i-sas bezeichnet wurde.28
Auch über die "Kapitulationen" wurde zu Beginn der Neuzeit westliches Recht in das Osmanische Reich transferiert. Die ersten Kapitulationen schloss Süleyman im Jahr 1536 mit dem französischen König Franz I. (1494–1547). Sie hatten in den mittelalterlichen mediterranen Seehandelsverträgen ihre Vorbilder und waren nicht nur diplomatischer und – gegen Kaiser Karl V. (1500–1558) gerichtet – militärischer Natur, sondern sie garantierten dem französischen König auch den Schutz christlicher Gemeinschaften im Heiligen Land. Aus osmanischer Sicht waren die Kapitulationen formal keine Verträge zwischen gleichberechtigten Partnern, sondern Privilegien des Sultans, und die von den europäischen Staaten geleisteten Zahlungen bzw. Militärhilfen wurden dementsprechend von osmanischer Seite als Tribute gesehen. Da sie daher nicht auf Gegenseitigkeit ausgerichtet waren und osmanischen Kaufleuten in den europäischen Staaten zunächst keine entsprechenden Rechte eingeräumt wurden, brachten sie diesen empfindliche Nachteile im internationalen Handel. Das System der Kapitulationen bestand bis in das 20. Jahrhundert: in der Türkei bis 1914 bzw. bis zum Vertrag von Lausanne im Jahr 1923. In Ägypten unterhielten die Kapitularmächte so genannte Gemischte Gerichtshöfe für die unter ihrem Schutz stehenden Ägypter sogar bis 1949.
Das moderne islamische Recht und der europäische Einfluss im 19. und 20. Jahrhundert
Reformen und Kodifikationen
Die Geschichte des modernen islamischen Rechts ist durch ein breites Spektrum von Rezeptionsvorgängen bestimmt, verschiedene Autoren vergleichen daher die letzten beiden Jahrhunderte mit der formativen Phase des islamischen Rechts in den ersten beiden Jahrhunderten seiner Geschichte.29 Der wohl wichtigste Aspekt dieses neuzeitlichen europäischen Rechtstransfers war und ist die Übernahme des Konzepts umfassender Kodifikationen, die nicht nur ergänzendes Recht schufen, sondern auch die Scharia miteinbezogen.30 Es erfolgte damit der tiefgreifende Wandel eines Übergangs vom Juristen- zum Gesetzesrecht, wodurch das islamische Recht in Gefahr geriet, die für ein Juristenrecht typische Flexibilität zu verlieren.31
Die mit diesen Kodifikationen in islamischen Gesellschaften verbundenen Rezeptionsvorgänge lassen sich in zweierlei Hinsicht klassifizieren: Erstens entsprechend dem Anstoß, der sie in Gang setzte, und zweitens nach dem Konzept, das damit verfolgt wurde.
Ausgangsmomente für Rezeptionsvorgänge waren äußerer Reformdruck, wie im Fall der osmanischen Reformen im 19. Jahrhundert, ein Oktroi der jeweiligen Kolonialmacht, wie wir es in fast allen Staaten mit islamischer Tradition bis zum Ende der Kolonialzeit vorfinden, oder schließlich auch der interne Ruf nach Reformen, wie er nach dem Zweiten Weltkrieg in praktisch allen souverän gewordenen Staaten erfolgte.32
Was das inhaltliche Konzept betrifft, lassen sich drei unterschiedliche Typen (mit jeweils fließenden Übergängen) unterscheiden. Intendiert wurde entweder eine Kodifikation islamischen Rechts, eine vollständige inhaltliche Rezeption fremden Rechts oder eine Mischung von beiden. Gemeinsam ist allen drei Idealtypen allerdings, dass sie unter dem Einfluss des europäischen Kodifikationsgedankens und den damit verbundenen legistischen Techniken stehen.
Für die Geschichte dieser Kodifikationen kann als Regel gelten, dass die am stärksten koranisch geregelten und dadurch geheiligten Sphären des islamischen Rechts, wie Personen-, Familien- und Erbrecht sowie Stiftungsrecht, erst zuletzt, dann jedoch durch mehr oder weniger islamisch akzentuierte Kodifikationen erfasst wurden. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass auch von Traditionalisten nicht die Rückkehr zum Juristenrecht, sondern "die Kodifizierung der islamischen Normativität", also die "Positivierung" der Scharia durch die Übernahme eines neuzeitlichen westlichen Konzepts gefordert wird.33 Während also das von Theorie und Methode her konzipierte klassische islamische Recht inhaltliche Vielfalt erlaubte, ist die aktuelle Islamisierung des Rechts dadurch gekennzeichnet, dass man mit Hilfe eines westlichen methodischen Konzepts ein höheres Maß an Stringenz herstellen möchte. Ausdrückliche Erwähnung findet nichtkodifiziertes islamisches Recht oft nur mehr, wenn in Fällen von Gesetzeslücken darauf verwiesen wird.34
Die Geltungsgrundlage auch der schariatischen Regelungen ist jedenfalls die Anordnung des Gesetzgebers geworden.35 Es ist in diesem Zusammenhang nur folgerichtig, wenn man im Zuge dieser Rezeption sogar den Gesetzespositivismus fruchtbar macht: Das religiöse Gebot des Gehorsams gegenüber Allah wird als transzendentaler Geltungsgrund des Rechts funktional in die Nähe der Kelsen'schen Grundnorm36 gerückt.37
Die Reformen des Osmanischen Reiches und der Türkei
Die europäischen Reformen des Osmanischen Reiches begannen mit der Thronbesteigung von Sultan Selim III. (1762–1808) im Jahr 1789 mit ersten Ansätzen einer Modernisierung der Staatsverwaltung nach westlichem Vorbild. Sultan Mahmut II. (ca. 1784–1839) setzte die Reformanstrengungen, zu denen etwa die 1831 begonnene Abschaffung des timar-Systems zählte, fort.
Nach dem Tod Mahmuts II. begann die so genannte Tanzimat ("Neuordnung")-Periode, in der unter dem Druck der europäischen Großmächte weitere tiefgreifende Reformen durchgeführt wurden. Sie begann mit dem Hatt-ı Scherif von Gülhane vom 3. November 1839, endete mit der Annahme der ersten Osmanischen Verfassung nach westlichem Vorbild im Jahr 1876 und umfasste damit die Regierungszeit von Abdülmecid I. (1823–1861) und Abdülaziz (1830–1876). Kern der Reformen waren der Abbau des absolutistischen Systems, die Einführung des Ministerialsystems, die zivilrechtliche Gleichstellung aller Untertanen unabhängig von ihrer Religion sowie Reformen des Finanz-, Justiz- und Heerwesens nach europäischem Vorbild.
Die erste Rezeption eines westlichen Gesetzbuches geschah 1850 mit einer abschnittsweisen Übernahme des französischen Code de commerce von 1810, dem 1858 ein Strafgesetzbuch folgte, das überwiegend eine Übersetzung des französischen Code pénal Impérial von 1810 war, das aber auch islamrechtliche Bestimmungen aufwies. 1879 wurden Verfahrensvorschriften ebenfalls nach französischen Vorbildern erlassen.
Zu den islamrechtlich bestimmten Kodifikationen gehörten das Bodenrechtsgesetz (1858), vor allem aber die seit 1869 promulgierte Mecelle, eine Schuld-, Sachen- und Prozessrecht umfassende Zivilrechtskodifikation, die sich hauptsächlich auf hanafitisches Fiqh stützte. Hinsichtlich des Familien-, Erb- und Stiftungsrechts konnte man sich vorerst auf keine Kodifizierung einigen. Die 1917 erfolgte Kodifikation des Familienrechts hat allerdings nicht in der Türkei, sondern in einigen Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches – am längsten in Israel und im Libanon – praktische Bedeutung erlangt.
Die am 23. Dezember 1876 verabschiedete Verfassung nach westlichem Vorbild wurde nach Ausbruch des Russisch-Türkischen Kriegs (1877/1878) von Sultan Abdülhamid II. (1842–1918) wieder außer Kraft gesetzt. In diesen Jahren einer neoabsolutistischen Herrschaft wurden jedoch Reformmaßnahmen von oben fortgesetzt.
Die Türkei hat einerseits auf vielen Reformen des Osmanischen Reiches aufbauen können und andererseits in der kemalistischen Revolution einen konsequenten Schritt zu einer radikalen Europäisierung ihres Rechts getan. Am 20. April 1924 wurde die erste republikanische Verfassung in Kraft gesetzt (Teşkilât-ı Esasiye Kanunu – "Gesetz über die grundlegende Organisation"), welche die Verfassungsbestimmungen von 1876 und 1921 ersetzte. Sie blieb mit diversen Änderungen bis zum 20. Juli 1961 gültig. Im Bereich des Zivilrechts wurde 1926 durch die direkte Übernahme des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB) bzw. Obligationenrechts der radikalste Rezeptionsschritt aller Staaten mit islamischer Tradition gesetzt.
Die Rechtsfortbildung unter kolonialer Herrschaft
Im Zuge des Kolonialismus bzw. der Angliederung muslimischer Gebiete an europäische Staaten kam es zu Rezeptionsvorgängen, die durch das Recht der jeweiligen Kolonialmacht bestimmt waren.
Nach der Übernahme der Souveränitätsrechte durch die East India Company im Jahre 1772 entstand das Anglo-Muhammedan Law als das bedeutendste europäisch-islamische Mischrecht, das zunächst Zivil- und Strafrecht umfasste. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden für das Straf-, Vertrags- und Verfahrensrecht englisch beeinflusste Kodifikationen erlassen. So beendete 1860 ein umfassendes Strafgesetzbuch die Anwendung des islamischen Strafrechts in Indien. Im Bereich des Personenrechts erfolgte erst 1937 eine Kodifikation durch den Muslim Personal Law Application Act. Das wohl bedeutsamste Charakteristikum des Anglo-Muhammedan Law lag im zunehmenden Einsatz von am englischen Recht ausgebildeten muslimischen Richtern, welche das islamische Recht verstärkt nach dem Vorbild englischer Fallrechts-Methodik anwandten.
In den arabischen Ländern setzte sich der Kodifikationsgedanke überwiegend unter französischem Einfluss durch. Nachdem bereits 1834 in Algerien grundsätzlich das französische Rechtssystem übernommen worden war, kam es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu eindrucksvollen Kodifikationen, die ein franko-koloniales Mischrecht enthielten. Hervorzuheben ist hier der 1906 promulgierte tunesische Code Tunisien des Obligations et des Contrats, der so genannte Code Santillana. In Algerien trat ein vergleichbarer Kodifikationsentwurf von 1916 (Code Morand) nicht in Kraft. In Marokko kam es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu keiner vergleichbaren Gesetzgebung, und es blieb auch in der Folge stärker traditionsverbunden als die beiden anderen Maghreb-Staaten.
Als drittes Beispiel sei die österreichisch-ungarische Verwaltung in Bosnien und Herzegowina erwähnt, die nach der Okkupation 1878 ein semi-koloniales System einrichtete, das zunächst darauf Rücksicht nehmen musste, dass die beiden Provinzen formal Teil des Osmanischen Reiches geblieben waren. Es entwickelte sich allerdings zunehmend eine innerstaatliche Rechtspolitik.38 So kam es etwa zu einer Reform des islamischen Kultuswesens nach dem Vorbild des österreichischen Staatskirchenrechts, was eine bis heute spürbare organisatorische "Verkirchlichung" des bosnischen Islam zur Folge hatte. Die Gerichtsbarkeit blieb gespalten, was die Richterausbildung und die Gerichtsorganisation betrifft, die staatlich organisierten islamischen Scheriatsgerichte wurden jedoch an europäische Standards herangeführt. Als im Gefolge der Annexion von 1908 Bosnien staatsrechtlich Teil der Donaumonarchie wurde, wurden die kolonialen Elemente weiter zurückgedrängt.
Das moderne islamische Recht in postkolonialer Zeit
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es geradezu zu einer Kodifikationswelle, vor allem in den arabischen Staaten. Die Gesetzbücher waren überwiegend durch einen internen Reformdruck bestimmt, man bemühte sich dabei mit unterschiedlichen Gewichtungen um eine Synthese islamischer und westlicher Traditionen.39
Charakteristisch für diese Entwicklung ist, dass fast alle Staaten der islamischen Welt heute formelle Verfassungen haben.40 In den meisten Fällen enthalten diese jedoch Hinweise auf den Islam als Staatsreligion bzw. es wird in den Verfassungen auf das islamische Recht als Rechtsquelle und Grundlage der Gesetzgebung verwiesen.41 Im Bereich grundrechtlicher Garantien finden sich überdies häufig Scharia-Vorbehalte (so Art. 11 der ägyptischen Verfassung hinsichtlich der dort verbürgten Gleichheit von Mann und Frau). Derartige Scharia-Vorbehalte, durch die bestimmte Grundrechtsgarantien – wie etwa die Freiheit, seine Religion oder Überzeugung zu wechseln –
Im Bereich des Zivilrechts kam es nach dem Ersten Weltkrieg zunächst vor allem in Ägypten zur Gesetzgebung in den Kernbereichen des Personalstatuts. Besondere Bedeutung erlangte schließlich das Ägyptische Zivilgesetzbuch aus dem Jahr 1949, das aufgrund seiner großen Ausstrahlung auf den arabischen Raum (Irak, Libyen, Sudan, Algerien, Kuwait, Syrien) geradezu zum Kern eines arabisch-islamischen Rechtskreises wurde. Charakteristischerweise wird zwar vom Autor, dem ägyptischen Juristen As-Sanhūrī (1895–1971), betont, dass das islamische Recht durchgehend berücksichtigt worden wäre.42 Tatsächlich erweist sich die äußerst gelungene Kodifikation allerdings als stark vom französischen Recht bestimmt. Auch sind Familien- und Erbrecht nicht enthalten, es gilt für diese Rechtsbereiche weiterhin religiöses Recht, das jedoch etwa in Ägypten seit 1955 von staatlichen Gerichten angewandt wird.
Neben dem Kodifikationsgedanken bestehen die wichtigsten Einflüsse westlichen Rechtsdenkens auf das Recht in Staaten mit islamischer Tradition in der akademischen Richterausbildung, in Maßnahmen zur Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit sowie im Bereich des Verfahrensrechts und der Gerichtsorganisation, insbesondere in der Einführung eines Instanzenzuges. In diesem Zusammenhang muss auch die Etablierung einer an westlichen Vorbildern orientierten Verfassungsgerichtsbarkeit erwähnt werden, die vor allem in Ägypten (seit 1978) einen beachtlichen Standard entwickelt hat.43