Einleitung
Vom späten 18. Jahrhundert bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein war das europäische Wirtschaftswachstum eng mit dem Strukturwandel verbunden, den wir "Industrialisierung" nennen, d. h. mit dem absoluten und relativen Wachstum industrieller Tätigkeit. Aus globalgeschichtlicher Perspektive beruht die Bedeutung Europas in weiten Teilen darauf, dass die Industrialisierung hier ihren Ausgang nahm und lange Zeit ein europäisches Monopol darstellte.1 Vor allem die Industrialisierung war es, die das 19. Jahrhundert zu einem "Europäischen Jahrhundert" machte.
Dieser Überblick fasst eine umfangreiche Forschungsliteratur zum Thema zusammen. Er konzentriert sich jedoch auf den Prozess langfristigen wirtschaftlichen Wachstums. Um die Industrialisierung unter diesem Aspekt zu interpretieren, wird hier zudem die Rolle regionaler Unterschiede und internationaler Wirtschaftsbeziehungen herangezogen. Wie der Titel dieses Beitrags verrät, ist der Text im Wesentlichen chronologisch aufgebaut. Er unterscheidet drei Phasen: die frühe Industrialisierung bis 1870, schnelle Industrialisierung zwischen 1870 und 1914 und die langsamere weitere Entwicklung ab 1918 bis in die 1950er Jahre. Da die "europäische Industrialisierung" nicht ohne Bezug zu den regionalen Unterschieden und internationalen Beziehungen beschrieben werden kann, werden diese in allen drei Phasen berücksichtigt.
Da dieser Beitrag den historischen, pfadabhängigen Charakter der Industrialisierung betont, sollte auch ein Nachteil dieser Interpretation Erwähnung finden: Die "Korrelate der Industrialisierung", d. h. Kennzeichen wie etwa das wachsende Einkommen oder die zunehmende Arbeitsleistung pro Kopf der Bevölkerung, die steigende Kapitalintensität der Produktion, wachsende Lebenserwartung, der zunehmende Anteil der Bevölkerung, der in Städten wohnte (Urbanisierung), die Alphabetisierung oder die negativen Folgen wie Verteilungskämpfe oder Umweltzerstörung, die sich in allen bekannten historischen Fällen wiederholten, werden dabei vernachlässigt. Studien, die sich dieser Perspektive verschreiben, bieten zweifellos eine vollständigere Behandlung des Themas Industrialisierung.2 Der begrenzte Umfang dieses Beitrags hat hier ihre Ausklammerung bedingt.
Industrialisierung und langfristiges Wirtschaftswachstum in vergleichender Perspektive
Wirtschaftliches Wachstum ist hier als erstes zu erläutern, da die Industrialisierung den Beginn eines "modernen Wirtschaftswachstums" (Modern Economic Growth/MEG) markiert, d.h. eines ökonomischen Wandels, der durch einen Anstieg des Outputs pro Kopf der Bevölkerung gekennzeichnet ist. In historischer Perspektive unterscheidet sich dieser deutlich vom "extensiven Wirtschaftswachstum", bei dem die Produktion im Gleichschritt mit der Bevölkerung wuchs. Dieses war vor der Industrialisierung in der Weltgeschichte vorherrschend gewesen. Die Industrialisierung verkörperte die neuen Techniken, die den technischen Fortschritt bewirkten, der mittlerweile als die treibende Kraft hinter dem langfristigem Wirtschaftswachstum gesehen wird;3 und schließlich war es auch das ökonomische Wachstum, das die Basis für Europas steigenden Lebensstandard darstellte. Die besondere Bedeutung Europas in der Geschichte des wirtschaftlichen Wachstums wird in Bild 1 abgebildet:
Westeuropa hielt bis 1945 nicht ganz Schritt mit den USA, aber es spielte, global gesehen, weiterhin in derselben Liga. Nach dem Zweiten Weltkrieg genoss es außerdem die Vorteile eines "Catching-Up"-Wachstums und schloss gegenüber den Vereinigten Staaten auf.4 Die Unterschiede innerhalb Europas sind markant. Die These hier ist, dass sie vor allem ein Ergebnis der unterschiedlichen Grade der Industrialisierung waren. Um diese Frage diskutieren zu können, muss man zunächst transnationale Vergleiche anstellen. Tabelle 1 ergänzt die Informationen aus Bild 1 mit Schätzungen des Bruttoinlandsproduktes pro Kopf für die einzelnen Länder – in einem kürzeren Zeitraum, der gemeinhin mit der Industrialisierung gleichgesetzt wird.5
Quelle: Maddison, Monitoring 1995. | ||||||
Jahr |
1700 |
1760 |
1820 |
1870 |
1913 |
|
Staat |
||||||
1130 |
1365 |
1707 |
3191 |
4921 |
||
1319 |
2697 |
4220 |
||||
1821 |
2753 |
4049 |
||||
1274 |
2003 |
3912 |
||||
1058 |
1821 |
3648 |
||||
1230 |
1876 |
3485 |
||||
1280 |
2202 |
4266 |
||||
1198 |
1664 |
3096 |
||||
1117 |
1499 |
2564 |
||||
963 |
997 |
1244 |
||||
689 |
943 |
1486 |
Ein Blick auf Tabelle 1 verdeutlicht unmittelbar die führende Rolle Großbritanniens – der ersten Industrienation – in der Geschichte wirtschaftlichen Wachstums. Das Muster einer ungefähren Angleichung zwischen 1870 und 1913 erinnert an die berühmte Beobachtung von Karl Marx (1818–1883): "Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft."6 Diese Behauptung war jedoch eine Hypothese, die widerlegt werden sollte:7 Obwohl bis 1870 die meisten westeuropäischen Länder schneller wuchsen und gegenüber Großbritannien aufholten, nahm ihre Entwicklung – aus einer Reihe von Gründen – doch nicht denselben Weg. Erstens lag dies an der Rolle der Landwirtschaft: Die einzigartige Kombination von hoher Konzentration an Landeigentum und relativ großen Höfen in England förderte seit dem 18. Jahrhundert ein schnelles Wachstum der landwirtschaftlichen Produktivität und unterstützte die frühe Verlagerung von Arbeit (und Kapital) hin zu Industrie und Dienstleistungen. Bereits 1840 arbeitete gerade noch ein Viertel der britischen Beschäftigten in der Landwirtschaft, während in Ländern wie Deutschland oder Frankreich ihr Anteil sogar 30 Jahre später noch ungefähr doppelt so hoch lag. Tabelle 2 verallgemeinert diese Beobachtung.
Quelle: Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft 1985, S. 129. | |||
Staat und Jahr |
Primär |
Sekundär |
Tertiär |
Großbritannien |
|||
1851 |
23 |
51 |
26 |
1911 |
9 |
54 |
37 |
Frankreich |
|||
1856 |
52 |
27 |
21 |
1911 |
41 |
30 |
29 |
Deutschland |
|||
1849 |
56 |
24 |
20 |
1907 |
35 |
40 |
25 |
Schweiz |
|||
1850 |
57 |
33 |
10 |
1910 |
27 |
46 |
27 |
Schweden |
|||
1870 |
72 |
15 |
13 |
1910 |
49 |
32 |
19 |
Auffallend ist die negative Korrelation zwischen der Höhe des Bruttosozialproduktes pro Kopf und dem Anteil an den Beschäftigten im Primärsektor. Dies bietet ein grobes Maß für den Grad der Industrialisierung.
Ein zweiter Grund für die Einzigartigkeit des Wachstumspfads Großbritanniens ist, dass seine industrielle Führungsrolle vor allem auf Baumwoll- (und Woll-) Textilien und der Eisenverarbeitung beruhte, wie in keinem seiner kontinentalen "Nachfolger"-Länder. Dies gilt ebenso für den technischen Wandel, der die industrielle Revolution begründete. Während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts machten z. B. Baumwoll-, Woll- und Eisenprodukte ein Sechstel der Gesamtproduktion und 70 Prozent des Exports aus, Rohstoffe und Nahrungsmittel dagegen etwa 90 Prozent aller Importe. Der dritte und letzte Grund war, wie Alexander Gerschenkron (1904–1978) betonte, dass die britische Industrialisierung ein sich über einen langen Zeitraum erstreckender Prozess war. Er hatte in der Mitte des 18. Jahrhunderts begonnen und war durch langsames Wachstum gekennzeichnet. Als die westeuropäischen "Nachfolge"-Ökonomien im 19. Jahrhundert begannen, sich zu industrialisieren, wuchsen sie bedeutend schneller und mit höheren Investitionsraten als Großbritannien während seiner "Industriellen Revolution".8 Im Gegensatz zu Großbritannien hatten sie bereits ein Muster des wirtschaftlichen Erfolges vor Augen, dem sie nacheifern und das sie – wo möglich – nachahmen konnten.
Die europäische Industrialisierung in vergleichender Perspektive: Phase 1
Die Rolle Großbritanniens als "Workshop of the World" im frühen 19. Jahrhundert ist bekannt – und diese "Welt" schloss den Rest Europas mit ein. Auf Großbritanniens überlegener industrieller Produktivität basierte der große Erfolg seiner Exporte nach Kontinentaleuropa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Tatsächlich war Großbritanniens Produktivitätsvorsprung nicht nur auf seine Leitsektoren beschränkt, sondern galt auch für die Landwirtschaft. Das Prinzip des komparativen Vorteils, das den internationalen Handel beherrschte, machte Großbritannien jedoch hauptsächlich zu einem Importeur von landwirtschaftlichen Produkten.9
Die oben genannten Kennzeichen der britischen Industrialisierung hatten bedeutende Auswirkungen auf die kontinentaleuropäischen Länder. Letztere bildeten jedoch keinen homogenen Block. Es soll hier zwischen den "innereuropäischen" Ländern und der "Peripherie" unterschieden werden: Erstere reagierten schnell und positiv auf den britischen Einfluss, Letztere nicht.10 Die Gründe für diese unterschiedlichen Reaktionen hatten ihre Wurzeln in regionalen Strukturdifferenzen. An dieser Stelle soll deshalb die Frage des Regionalismus aufgegriffen werden.
Das "innere Europa" und die Bedeutung regionaler Unterschiede
Die eben erwähnten Strukturunterschiede zeigen, dass der regionale Charakter der Industrialisierung gleichzeitig eines der naheliegendsten, aber auch eines der am häufigsten vergessenen Kennzeichen der europäischen Wirtschaftsgeschichte ist.11 Es war nicht Großbritannien als Ganzes, sondern Lancashire, Teile von Yorkshire, Tyneside, die Midlands und das südliche Schottland, in denen sich die Industrialisierung zunächst ausbreitete. Diese "Inseln der Modernität", wie Sidney Pollard sie nannte, wurzelten in einer vorindustriellen, einer "proto-industriellen" Struktur, die es erlaubte bzw. es erforderte, dass sich eine soziale Gruppe entwickelte, deren Existenz nicht allein auf landwirtschaftlicher Betätigung beruhte und die zur Ausbreitung marktförmiger wirtschaftlicher Beziehungen beitrug. Diese Struktur stimulierte indirekt auch die Entwicklung von kohlebasierten Techniken. Und zu diesem Zeitpunkt, etwa um 1750, begannen die Kohlevorkommen ein unabhängiger (und stärker konzentrierter) regionaler Standortfaktor zu werden.
Als sich die Industrialisierung im 19. Jahrhundert in Westeuropa beschleunigte, hatten die meisten Länder bereits mindestens ein Jahrhundert der "Protoindustrialisierung" hinter sich gebracht: einen strukturellen Wandel, in dem sich Regionen mit ländlichem Gewerbe und urbanen kommerziellen Zentren entwickelten, als Antwort auf eine sich ausdehnende Weltwirtschaft. Wie auch in Großbritannien wiesen die protoindustriellen Regionen des Kontinents entweder ungünstige landwirtschaftliche Bedingungen auf oder sie verfügten über Rohstoffen (wie Flachs oder Wolle), die zusätzliche Einkommensmöglichkeiten boten. Die Verbreitung dieser protoindustriellen Regionen im 18. Jahrhundert entwickelte sich gemeinhin in der Nähe von und in Überschneidung mit einer kommerzialisierten Landwirtschaft, die Nahrungsmittel lieferte. Dieses Wachstum spiegelte eine gewisse Unabhängigkeit von feudalen und städtischen Zunfttraditionen und Bindungen im Gebrauch von Land und Arbeit wider, ähnlich oder gar gleich derjenigen, die in großen Teilen Großbritannien entstanden war.12 Nicht von ungefähr war es in der nordwestlichsten Ecke Kontinentaleuropas, die Großbritannien am nächsten lag – im "inneren Europa" – wo dieses Ensemble von Beziehungen und Flächen der Protoindustrialisierung am häufigsten entstand – in einem breiten Gürtel, der sich von der Normandie aus durch Nordfrankreich, Belgien und Holland, über das Rheintal Westdeutschlands bis weiter östlich in das sächsische Hochland, die Lausitz und nach Schlesien erstreckte. Weiter südlich finden wir in etwa die gleiche Entwicklung: im oberen Elsass und in der nordöstlichen Ecke und entlang der westlichen Grenze der Schweiz. Die Elbe im Osten und die Alpen im Süden begrenzten das "innere Europa". Jenseits dieser Grenzen waren die Inseln der Protoindustrialisierung weit seltener und feudale Traditionen und Bindungen blieben bedeutend dominanter – bis weit ins 19. Jahrhundert hinein.13
Die "Protoindustrie" hatte Auswirkungen auf viele Industriezweige, doch in der Textilindustrie und im eisenverarbeitenden Gewerbe war sie am stärksten ausgeprägt. Ihre Bedeutung für den Prozess der Industrialisierung liegt nicht im Produktivitätswachstum, das sie erreichte. Ihre dezentrale, auf Heimarbeit basierende und arbeitsintensive Struktur setzte den Transaktions- und Produktionskosten enge Grenzen, die später nur die mechanisierte Fabrik überwinden konnte. Ihre Bedeutung lag eher in den langfristigen Folgen für die wirtschaftliche und soziale Struktur der Regionen, in denen sie sich entwickelte: Sie befreite einen Teil der ländlichen, agrarischen Bevölkerung von der totalen Abhängigkeit von Landbesitz und landwirtschaftlicher Beschäftigung. Sie eröffnete Marktchancen für Unternehmer und förderte die Kapitalakkumulation – als Folge von expandierenden Exportmärkten und einer wachsenden Zahl von freien Arbeitskräften, die bereit waren, sich für einen geringen Lohn zu verdingen. Protoindustrielle Produktion bedeutete zudem Konkurrenz für die beiden anderen Hauptformen industrieller Organisation, die traditionsverbundenen, städtischen Handwerkerzünfte und die staatlich kontrollierten, zentralisierten Manufakturen. Diese Faktoren, zusammen mit den Reformen, die die Französische Revolution mit sich brachte, bereiteten das Terrain im "inneren Europa" für die schnelle Aneignung neuer Techniken und Organisationsformen der Industrialisierung. Als entsprechend schwächer erwiesen sich diese Kräfte an der "Peripherie" Europas, wo die Industrialisierung sich später und langsamer durchsetzte.
Allgemein gesprochen waren die sich industrialisierenden Regionen Europas identisch mit den oben beschriebenen protoindustriellen Regionen – angefangen in Nordfrankreich und dem späteren Belgien, dann sich nach Osten und Süden ausbreitend. Wie ihre Vorgänger waren diese Regionen anfangs nur industrielle Inseln, die allmählich die umliegenden Territorien "kolonialisierten". Ausnahmen waren Regionen wie Südflandern, das östliche Westfalen oder und Niederschlesien, wo das ländliche Gewerbe verschwand und die Bevölkerung entweder zur Landwirtschaft zurückkehrte oder auswanderte. Einige neue Regionen entstanden, wie etwa das Ruhrgebiet: Hier verwandelten die Kohlevorkommen ein bisher agrarisch geprägtes Gebiet in Europas wichtigstes Zentrum der Schwerindustrie.
Die Bedeutung internationaler Wirtschaftsbeziehungen in Phase 1
Die Industrialisierung verbreitete sich im 19. Jahrhundert von Großbritannien aus auf dem Wege internationaler wirtschaftlicher Beziehungen. Die deutschen Staaten – seit 1834 in einem handelspolitischen Zusammenschluss, dem Zollverein, organisiert – bieten ein aufschlussreiches Beispiel für die Resonanz aus dem "inneren Europa" auf die britische Führungsrolle. Preußische bzw. Zollverein-Importe von britischer Wolle, Baumwolle und Eisenprodukten stiegen von ca. zwei Dritteln aller Importe (1815) auf über 80 Prozent in den frühen 1830er Jahren. Umgekehrt machten zum selben Zeitpunkt Rohstoffe und Nahrungsmittel etwa 90 Prozent aller Exporte nach Großbritannien aus. Selbst 1860 waren es noch weit über zwei Drittel. Diese Zahlen verschleiern jedoch die Dynamik dieser Beziehung. Erstens zeigten die britischen Exporte den deutschen Unternehmern, dass ein Binnenmarkt für solche neuen Produkte existierte und motivierte sie, diese nachzuahmen. Zweitens bildete das relativ preiswerte und qualitativ hochwertige Garn aus Großbritannien die Grundlage für die heimische Fertigwarenindustrie und für eine Umorientierung der Importe von Fertigwaren auf bloße Halbzeuge, sobald diese Unternehmer die neue Maschinerie und Technik beherrschten. Dies führte auch zur Entwicklung neuer deutscher Exportmärkte in Osteuropa und Übersee, weil die niedrigeren Arbeitskosten in Deutschland den Produzenten einen Preisvorteil gegenüber den britischen Konkurrenten verschafften. Die Unterschiede zwischen Deutschland und Großbritannien spiegeln auch eine Verschiebung in den komparativen Kosten wider, die mit dem technischen Wandel verbunden waren. Eisenbahnen z.B. waren zwar eine technische Innovation aus Großbritannien, die der deutschen Wirtschaft aber, angesichts ihrer weniger entwickelten Industrie und der deutschen Topografie, relativ gesehen größere Vorteile bot. Statt der Rekrutierung britischer Techniker und dem Import britischer Lokomotiven und eiserner Schienen, wie sie in den 1830er Jahren üblich waren, importierte man in den 1850er Jahren bereits Roheisen für die heimische Schienenproduktion. Der Prozess der Eisenbahnbaus wurde so eine der wichtigsten Grundlagen des Wachstums der deutschen Schwerindustrie und der gesamten Wirtschaft.14 Ähnliche Wandlungsprozesse fanden in anderen Gebieten des "inneren Europa" (z.B. in Belgien, Frankreich und der Schweiz) zu etwa derselben Zeit statt. Die industrielle Struktur entwickelte sich jedoch in jedem dieser Länder unterschiedlich.
Industrialisierung: Phase 2 (1870–1914)
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts machte sich ein leichter Kurswechsel in der europäischen Industrialisierung bemerkbar. Er ist auf die systematische Anwendung von Wissenschaft in der Technikentwicklung zurückzuführen. Dies markierte den Beginn engerer Verbindungen zwischen Wissenschaft und Industrie und förderte das Entstehen von Großunternehmen. Diese "Zweite Industrielle Revolution" (David Landes) begann im "inneren Europa", veränderte aber auch das Verhältnis zwischen Großbritannien und den westeuropäischen Ländern.15 Einmal mehr wird hier die deutsche Entwicklung als Beispiel für Letzteres herangezogen, obwohl gerade der britisch-deutsche Vergleich die größten Differenzen zutage fördert. Die deutsche Entwicklung nach 1870 unterschied sich bedeutend von der Großbritanniens, und dies in zweierlei Hinsicht. Erstens gab es Unterschiede hinsichtlich der Rolle des Staates. In Deutschland entwickelte sich – zum Teil auch dank staatlicher Hilfe – die höhere Schulbildung und Hochschulbildung zu einer "Wachstumsindustrie" – besonders die Berufsschulen, Technischen Hochschulen und naturwissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten. Ihr "Output" bestand aus hoch gebildeten Ingenieuren und Technikern sowie aus Forschungsergebnissen in Form technischen Wissens, das reif für die industrielle Anwendung war. Was die Zahl der Hochschulabgänger, wissenschaftlichen Artikel oder Patentstatistiken betraf, fiel Großbritannien immer weiter zurück, da es weiterhin auf Familiennetzwerke und das altehrwürdige Lehrlingssystem setzte. Dies war vor allem in wissenschaftsintensiven Bereichen wie der chemischen oder elektrotechnischen Industrie der Fall. Doch es galt ebenso hinsichtlich des Bildungsgrads des Führungspersonals in Unternehmen, wie etwa in der Stahlindustrie.
Der zweite Unterschied hing nur indirekt mit staatlicher Intervention zusammen. Das Gefälle in der Wissenschaftsorientierung zeigte sich auch in der Organisation von Großunternehmen. Ein offensichtliches Beispiel ist die Einrichtung von Forschungs- und Entwicklungsabteilungen (F&E), nicht nur in der Elektrotechnik und Chemischen Industrie, sondern auch in der Stahlherstellung und im Maschinenbau. Die Unterschiede waren aber noch weitreichender. Deutsche Unternehmen der Schwerindustrie waren zum Beispiel vertikal besser integriert und daher eher in der Lage, energiesparende Effekte zu erzielen als ihre britischen Konkurrenten. Und in den meisten Branchen hatte ihre Produktion einen weit höheren Grad der Diversifizierung.16 Die Unterschiede spiegeln auch die Pfadabhängigkeit und möglichen Nachteile des Pioniers Großbritannien wider, der sich gewissermaßen zu sehr auf seine traditionellen Schlüsselindustrien konzentrierte. Tabelle 3 zeigt eine Folge dieser Tatsache.
Quelle: Berechnung des Autors, basierend auf Hoffmann u.a., Wachstum 1965; und Kennedy, Industrial Structure 1987. |
||||
Großbritannien |
||||
Branche |
Gewichte* |
Wachstumsrate+ |
Gewichte* |
Wachstumsrate+ |
Chemie |
2.0 |
4.86 |
5.0 |
6.39 |
Elektrotechnik |
0.8 |
6.00 |
1.5 |
8.00 |
Kohle & Textilien |
30.00 |
1.92 |
14.00 |
2.58 |
*Durchschnitt des Anteils der Branchen an der Gesamtwertsteigerung |
Das Wachstum von großen Unternehmen in diesem Zeitraum wurde durch starke Finanzinstitutionen begünstigt. Mit seinem in London zentrierten Kapitalmarkt war Großbritannien weltweit führend. Ab 1870 konzentrierten sich die Börse und ihre Institutionen jedoch vor allem auf ausländische Investitionen, meist in Übersee: in Nord- und Südamerika und dem Britischen Empire. Dieser Abfluss von Finanzkapital verstärkte eventuell, obwohl er Ausdruck eines komparativen Vorteils und profitabel war, eine Vernachlässigung der heimischen Industrien und verringerte somit das Potential der "Zweiten Industriellen Revolution".17 Der Gegensatz zur Entstehung der "großen Banken" in Deutschland mit ihren Kapitalmarkttransaktionen und engen Verbindungen zur Großindustrie in dieser Zeit ist auffällig. So könnte die Finanzierung ein weiterer Grund für das unterschiedliche Wachstum von Großunternehmen und dem industriellen Output in den zwei Ländern sein.
Industrialisierung und internationale Wirtschaftsbeziehungen in Phase 2
Zahlreiche verschiedene Prozesse prägten die europäischen zwischenstaatlichen Wirtschaftsbeziehungen in dieser Zeit. Der erste davon war der Handel zwischen den bereits weiter industrialisierten Ländern des "inneren Europa" (Großbritannien eingeschlossen). Der innereuropäische Handel umfasste zunehmend den Austausch von industriellen Fertigwaren. Jedes Land spezialisierte sich auf bestimmte Branchen: Britische Dienstleistungen (Finanzen und Schiffsverkehr) wurden gegen Schweizer Uhren, gegen deutsche optische Instrumente oder gegen französische Luxuskleidung getauscht usw. Das hier entstehende Muster spiegelt einen Wandel der komparativen Vorteile wider, einen Wandel, der etwa die Verlagerung des britischen Exportes von Europa auf die Länder des Empire und die Entstehung von Großbritannien (London) als weltweit wichtigstem Geld- und Kapitalmarkt einschloss. Großbritannien befand sich noch nicht in einem Prozess der De-Industrialisierung, doch sein wirtschaftlicher Schwerpunkt bewegte sich deutlich in Richtung Dienstleistungen. Es beglich seinen wachsenden Importüberschuss durch finanzielle Dienstleistungen und Schiffstransportleistungen.18 Diese sich gegenseitig ergänzende Beziehung förderte den Prozess der Industrialisierung in den kontinentaleuropäischen Ländern noch weiter.
Ein zweiter Prozess vollzog sich an der europäischen "Peripherie", in Ländern wie Griechenland, Portugal, Russland oder Schweden. Diese Länder trugen zum innereuropäischen Handel vor allem landwirtschaftliche Produkte wie Oliven, Holz, Getreide oder Felle bei. Nur wenige konnten jedoch dadurch einen strukturellen Wandel bewirken und nachhaltig von diesen Beziehungen profitierten. Diese wichtige Beobachtung soll hier mit Hilfe einer Tabelle veranschaulicht werden, die die Leistung einer Reihe von "peripheren" Ländern vergleicht.
Land |
Pro-Kopf- |
Pro-Kopf- |
Wachstumsrate |
Wachstumsrate |
Portugal |
275 |
290 |
2.0 |
.1 |
Schweden |
280 |
593 |
4.0 |
2.2 |
Balkanländer* |
210 |
286 |
4.0 |
.7 |
Ungarn |
230 |
372 |
2.7 |
1.2 |
*Serbien, Bulgarien und Rumänien. Quelle: Berend / Ránki, Foreign Trade 1980. |
Das Wachstumsmuster des Einkommens resultierte aus Unterschieden in der Reaktion des jeweiligen Landes auf die Möglichkeiten der europäischen Exportmärkte.19 Portugals Exporte (hauptsächlich Wein und Oliven) lagen hinter dem europäischen Durchschnitt, vor allem aber blieben sie unverändert. Das Pro-Kopf-Einkommen fiel noch weiter hinter das restliche Europa zurück. Die schwedischen Exporte waren außerordentlich erfolgreich, die Produkte veränderten sich: von Eisenerzen und Holz hin zu Eisen- und Stahlprodukten, Zelluloid und Papier. Der Unterschied zwischen Ungarn und den Balkanländern erzählt die gleiche Geschichte. Ungarn erreichte einen durchschnittlichen Exporterfolg, aber seine Getreideexporte wandelten sich zu Mehl- und Maschinenausfuhren als die Hauptstadt Budapest sich zur weltweit zweitgrößten Mühlenmetropole entwickelte. Die Balkanländer dagegen erfuhren ein Exportwachstum, das weit über dem europäischen Durchschnitt lag. Doch der agrarische Charakter des Exports (Getreide, Pferde, Öl) blieb unbeeinflusst von industrieller Innovation und das Pro-Kopf-Einkommen fiel weit zurück. Die folgende Kontingenz-Tabelle (Tabelle 5), die diese Zusammenhänge illustriert, zeigt außerdem in Klammern das Pro-Kopf-Einkommen eines Landes im Jahr 1910 als Prozentsatz vom europäischen Durchschnitt.
Exportleistung |
Mit Strukturwandel |
Ohne Strukturwandel |
Hohe Wachstumsrate |
Schweden (120%) |
Balkanländer (57%) |
Niedrige Wachstumsrate |
Ungarn (81 %) |
Portugal (58%) |
Quelle: Berend / Ránki, Foreign Trade 1980. |
Allgemein gesprochen fiel die "Peripherie" als Ganze zurück, doch die Gründe hatten weniger mit den Bedingungen des ungleichen Handels, die ihnen von den "innereuropäischen Ländern" aufgezwungen wurden, zu tun – eine Behauptung, die oft vorgebracht wird. Vielmehr lag dies an dem Misserfolg der meisten dieser Länder, den Strukturwandel zu vollziehen, den die Industrialisierung darstellt. Dieser Misserfolg hatte verschiedene Ursachen. Die wichtigste war jedoch das Nachwirken starker feudaler Traditionen, die zur Folge hatten, dass eine Protoindustrialisierung sowie eine Entwicklung von Klein- und Großstädten, die vom Handel und nicht von politischen und administrativen Funktionen des Staates abhingen, gänzlich ausblieben.
Industrialisierung im 20. Jahrhundert
Von 1914 bis 1945 verlangsamte sich die europäische Industrialisierung – aus naheliegenden und aus weniger naheliegenden Gründen. Zwei Weltkriege und eine weltweite Depression verursachten direkte große wirtschaftliche Schäden in Europa. Sie hatten auch indirekte Folgen, besonders für die internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Das Gewicht politischer Ereignisse wog so schwer in dieser Zeit, dass sie selten in den Kategorien des Industrialisierungsprozesses beschrieben worden ist. Dennoch erlebten die wichtigsten europäischen Wirtschaften ein industrielles Wachstum während dieser Jahre, zumindest bis 1939. Tabelle 6 bietet ein ungefähres Bild dieses Wachstums im internationalen Vergleich.20
Quelle: Svennilson, S. 28 (zitiert in Landes, Prometheus 1969). | ||||
Industrie |
Pro-Kopf-Einkommen |
|||
Land |
1913 |
1928/1929 |
1937/1938 |
1937/1938 |
Großbritannien |
100 |
106 |
139 |
120 |
Deutschland |
100 |
118 |
144 |
114 |
Frankreich |
100 |
139 |
119 |
110 |
Schweden |
100 |
143 |
231 |
169 |
USA |
100 |
172 |
164 |
123 |
Industrielles Wachstum basierte zunehmend auf einer Entwicklung der "neuen Industrien" der späten Vorkriegszeit: der Ausbreitung elektrischer Energie und elektrischer Geräte sowie Chemikalien, Automobile, Flugverkehr, Radio und Telefon. Die älteren Industrien – Textil, Stahl, Maschinenbau – wuchsen ebenfalls, jedoch weit langsamer. Der industrielle Fortschritt des nationalsozialistischen Deutschland in den 1930er Jahren resultierte natürlich zum großen Teil aus der Aufrüstung. Im Großen und Ganzen verlangsamte sich die europäische Industrialisierung im Vergleich zu der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg deutlich – trotz einiger Ausnahmen und ein paar markanten Abweichungen in einigen Ländern wie dem neutralen Schweden.
Wie anders waren dagegen die Jahre nach 1945! Der Wiederaufschwung gelang nicht nur schneller, er dauerte auch bedeutend länger an. Maddisons Schätzungen des Bruttoinlandsprodukts (Tabelle 7) zeigen einen Trend, der sich weit in die Nachkriegszeit zieht, bis 1973. Die Tabelle schließt auch die USA mit ein, um das "Catching-Up" in der Nachkriegszeit zu unterstreichen.
*UdSSR Quelle: Maddison, Angus: Monitoring the World Economy, 1820–1992, Paris 1995. |
||||
Jahr |
1913 |
1950 |
1973 |
|
Land |
||||
USA |
5301 |
9561 |
16689 |
|
Großbritannien |
4921 |
6907 |
12022 |
|
Belgien |
4220 |
5462 |
12170 |
|
Deutschland |
3648 |
3881 |
11906 |
|
Frankreich |
3485 |
3270 |
12123 |
|
Schweden |
3096 |
6738 |
13493 |
|
Schweiz |
4266 |
8939 |
17953 |
|
Italien |
2554 |
3502 |
10643 |
|
Russland* |
1486 |
2834 |
6058 |
Wahrscheinlich war das industrielle Wachstum eine Grundlage der Expansion in der Nachkriegszeit, doch die Datenbasis hierfür ist beklagenswert unvollständig. Die Statistiken über die Beschäftigung in westeuropäischen Ländern (Tabelle 8) zeigen eine Verlangsamung in der Zwischenkriegszeit, gefolgt von einem Wiederanstieg nach 1945. Für Großbritannien zeigen die Beschäftigungszahlen offenbar erste Anzeichen einer De-Industrialisierung. Doch in diesem Land wie auch in einigen anderen, für die statistische Schätzungen vorliegen, war der Anteil der Industrie an der Produktion bedeutend höher.21 In diesem Zeitraum erfasste die Industrialisierung zunehmend auch Länder an der europäischen "Peripherie", wie etwa Ungarn, obwohl der Abstand zwischen Ost- und Westeuropa bedeutend blieb.
Quelle: Mitchell, Statistischer Anhang 1985. | ||||
Jahr |
1910/1913 |
1930/1931 |
1960/1961 |
|
Land |
||||
Großbritannien |
54 |
46 |
37 |
|
Belgien |
45 |
50 |
47 |
|
Deutschland |
40 |
40 |
47 |
|
Frankreich |
30 |
31 |
38 |
|
Schweden |
32 |
32 |
45 |
|
Schweiz |
45 |
44 |
50 |
|
Ungarn |
20 |
24 |
35 |
Bei näherer Betrachtung des westeuropäischen industriellen Wachstums nach 1945 zeigt sich, dass die "Leitsektoren" dieser Zeit fast identisch waren mit denen der Zwischenkriegszeit: Kohle, Eisen und Stahl, elektrische Energie und elektrische Geräte, Automobile, Werkzeugmaschinen, Chemikalien etc. Innovationen und technologischer Wandel waren also nicht verantwortlich für den Unterschied. Die Erklärung, die hier herangezogen werden soll, richtet den Blick wieder auf die Bedeutung internationaler Wirtschaftsbeziehungen.
Internationale Wirtschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert
Der Erste Weltkrieg hatte natürlich Folgen für die internationalen Beziehungen nach 1918, besonders deutlich für die Beziehungen zwischen vormals verfeindeten, kriegsführenden Ländern. Doch die internationale Kooperation nahm in der Zwischenkriegszeit allgemein eher ab, sogar zwischen früheren Verbündeten. Sie wurde zunehmend verdrängt durch einen "ökonomischen Nationalismus": Eine internationale Instabilität von Währungen ersetzte die Stabilität des Goldstandards und des Sterling vor 1914, die internationalen Kapitalströme schrumpften und wurden an politische Bedingungen geknüpft. Die liberalen Handelsabkommen der Vorkriegszeit machten Importbeschränkungen Platz. Das größte Opfer dieser Entwicklung war der internationale Handel, der allgemein zurückging. Tabelle 9 vergleicht die drei Zeiträume unter diesem Aspekt.
Quelle: Maddison, Economic Growth 1964. | ||||
Jahr |
1890–1913 |
1913–1950 |
1950–1960 |
|
Land/Region |
||||
Großbritannien |
2.1 |
0.2 |
1.9 |
|
Deutschland |
5.1 |
-2.5 |
15.8 |
|
Frankreich |
2.8 |
1.1 |
7.2 |
|
Westeuropa |
3.2 |
0.1 |
7.0 |
|
USA |
3.8 |
2.3 |
5.0 |
|
Welt |
3.5 |
1.3 |
6.4 |
Der Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Wachstum und Handel in diesen drei Zeiträumen (der durch Vergleichen der Tabellen 1, 5 und 7 deutlich wird) ist unübersehbar. Dies war bedeutend, weil Industrialisierung und Wirtschaftswachstum im Allgemeinen von der internationalen Arbeitsteilung und Spezialisierung abhingen, die von den liberalen Handelsabkommen gefördert wurden. Man könnte anführen, dass die katastrophalen wirtschaftlichen und politischen Ergebnisse des ökonomischen Nationalismus und das Versagen der internationalen Zusammenarbeit in der Zwischenkriegszeit zu einem "Lernen aus der Geschichte" führte und dass ein Wandel in den politischen Prioritäten politischer Führungspersonen in den Industrieländern die internationale Kooperation unterstützte. Dies galt vor allem für die USA, die in der Zeit nach 1945 eine konstruktivere Rolle spielten als nach dem Ersten Weltkrieg. Die Krönung der Leistungen dieses Landes war, aus westeuropäischer Sicht, sicherlich der Marshall-Plan und seine Förderung innereuropäischer Wirtschaftskooperation. Doch auch die europäischen Politiker arbeiteten besser zusammen als in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Ihre Kooperation brachte die EWG hervor, die vielleicht wichtigste institutionelle Errungenschaft der gesamten Nachkriegszeit.22 In mancher Hinsicht spiegelte diese Zusammenarbeit sicherlich die Sorgen des Kalten Krieges wider. Doch welche Motive auch immer dafür ausschlaggebend waren – sowohl der internationale Handel als auch das Wirtschaftswachstum blühten auf. Und das Wachstum des Handels, besonders der Importe, vergrößerte auch den Wissenstransfer über neue Produkte und Produktionsmöglichkeiten und verstärkte schließlich das "Catching-Up"-Wachstum, das die westeuropäische Geschichte in diesem Zeitraum prägte.23
Schluss
Die europäische Industrialisierung begann in Großbritannien um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Politische Stabilität, arbeitssparende Innovationen in der Baumwoll- und Eisenverarbeitung, verbunden mit billigerer und ausreichend verfügbarer Kohle, verschaffte Großbritannien für über ein Jahrhundert einen Vorsprung vor dem Rest Europas. Die britische Industrialisierung machte das Land zu einer Weltmacht, obwohl dies anfangs nicht vorauszusehen war. Der Weltmachtstatus erwuchs Großbritannien einfach aus seiner einzigartigen Geschichte. Für die westeuropäischen Länder auf dem Kontinent wurden bewusste Nachahmungen britischer Leistungen ein nationales politisches Ziel und eine Voraussetzung der Industrialisierung. Trotzdem war der Prozess des Aufholens gegenüber Großbritannien davon bestimmt, dass sehr ähnliche soziale und wirtschaftliche Institutionen bereits existierten und der Vorsprung Großbritanniens ohnehin nicht zu bedeutend war. Weiter östlich und südlich waren diese Übereinstimmungen seltener und schwächer ausgeprägt und die Möglichkeiten, sich zu industrialisieren, erwiesen sich daher als begrenzt – und wurden erst viel später realisiert.
Der Blick auf Länder als nationale Einheiten ist eine notwendige Vereinfachung für eine Untersuchung wie diese, aber sie sollte nicht die wichtige Beobachtung vom Anfang dieses Essays verschleiern, dass die Industrialisierung ein regionales Phänomen war. "Europa", so müssen wir uns ins Gedächtnis rufen, war keine Ansammlung von Ländern mit räumlich homogenen Ökonomien. Für eine gründlichere Analyse der Industrialisierung, als sie hier geplant war, ist die Einbeziehung dieser regionalen Perspektive unabdingbar.
Schließlich spielten, wie zu sehen war, die internationalen Wirtschaftsbeziehungen eine bedeutende Rolle als Voraussetzung für die Industrialisierung. Die frühe Spezialisierung Großbritanniens auf die Industrie hing von seiner Möglichkeit ab, industrielle Exporte gegen Nahrungsmittelimporte aus weniger industrialisierten Ländern einzutauschen. Gleichzeitig stimulierte dieser Austausch Angleichung und Industrialisierung in diesen anderen Ländern. Der Export von Kapital und die Auswanderung von Arbeitskräften nach Übersee waren weitere Folgen von internationalen Beziehungen, die wahrscheinlich die Ausbreitung und Intensivierung der europäischen Industrialisierung beförderten.