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Einleitung
Seit der Antike ist das kulturelle Gedächtnis der Europäer geprägt von der Idee, dass Europa ein eigener Kontinent ist, obwohl ein daran orientiertes Europabewusstsein äußerst diffus ist. Die wenigsten Bewohner dieses Kontinents haben klare Vorstellungen von der geographischen Ausdehnung, der geopolitischen Gliederung oder von der Verteilung der Sprachen und Kulturen. Es gibt Westeuropäer, die meinen, dass sich bereits jenseits der Weichsel die Weiten Russlands ausdehnen, und man begegnet sogar gebildeten Bürgern der Europäischen Union, die die Wolga für einen Fluss in Westsibirien halten. In Russland dagegen scheint man sich schon seit langer Zeit bewusst zu sein, wo Europa endet und Asien anfängt. In Jekaterinburg, im südlichen Ural gelegen, gibt es einen Platz mit einer Säule, wo man den Verbannten zur Zarenzeit gestattete, ein letztes Mal auf europäischem Boden zu beten, bevor sie in die Weiten Sibiriens deportiert wurden.
Europa als geographischer und kulturhistorischer Begriff
Wo die Grenzen Europas zu suchen sind und ob es sinnvoll ist, Europa begrifflich von Asien zu trennen, hängt von der Perspektive ab. In geographischer Hinsicht ist die Trennung durch die Gebirgskette des Ural "augenfällig".1 Die Fortsetzung dieser Linie kann man sich bis zum Kaspischen Meer vorstellen, so dass dessen Westküste auf europäischer Seite und die Ostküste in Asien liegt. Den Ural als Trennlinie aufzufassen, ist eigentlich nur in geographischer Hinsicht sinnvoll, nicht aber im Hinblick auf die sprachlichen und kulturellen Verhältnisse. Auf beiden Seiten des Urals sind uralische und altaische Sprachen verbreitet, und die Kulturen des östlichen Europas und westlichen Asiens ähneln sich nach ihrer historischen Verankerung in animistischen Glaubensvorstellungen.2 Die Kulturen und Sprachgemeinschaften Eurasiens werden seit dem 18. Jahrhundert von einer einheitlichen Bildungs- und Staatssprache überdacht, dem Russischen, ein zusätzlicher Faktor, der den Zusammenhalt Eurasiens unterstreicht.
Es ist aus der kulturwissenschaftlichen Perspektive sicher sinnvoller, die Einheitlichkeit Eurasiens als Großregion hervorzuheben, als sie nach verschiedenen Kontinenten zu trennen. Auch die demographischen Fluktuationen innerhalb Eurasiens favorisieren eine übergreifende Betrachtungsweise und legen keine Trennung nach Kontinenten nahe. Die sogenannte "Völkerpforte" zwischen Ural und Kaspischem Meer, durch die Nomaden von West nach Ost und in umgekehrter Richtung gezogen sind, stand schon vor 5000 Jahren offen. Seit dem 1. Jahrtausend v. Chr. ist die Geschichte der Nomadenkulturen in der eurasischen Steppe die Geschichte lebhafter Interaktion zwischen Osteuropa, Zentralasien und Westsibirien.3 Andererseits hängt es vom Informationsstand ab, inwieweit Eurasien als Kulturregion ins Blickfeld des modernen Forschers rückt. Beispielsweise wird in einer neuen archäologischen Gesamtschau die eurasische Steppe für die Periode des Neolithikums gleichsam "ausgeblendet", obwohl sich lokale Kulturen dort bereits seit ca. 7000 v. Chr. identifizieren lassen.4
Auch die Begrenzung Europas in der Mittelmeerregion ist eine Definitionsfrage. Malta wird zu Europa gerechnet, obwohl die Malteser eine Variante des maghrebinischen Arabisch sprechen. Da sie aber Christen sind, betont dies die kulturhistorischen Bindungen an Europa, insbesondere an Italien. Als Insel im östlichen Mittelmeer gehört Zypern geographisch eindeutig zu Asien. Andererseits sind seit Jahrhunderten die wichtigsten wirtschaftlichen und kulturellen Kontakte solche zu Europa. Die zypriotische Bevölkerung ist der größte Außenlieger der griechischen Sprachgemeinschaft. Die Mitgliedschaft Maltas und Zyperns in der Europäischen Union unterstreicht die Bindungen beider Inseln an Europa.
Einige Außenlieger im Nordwesten Europas bedürfen besonderer Erwähnung. Es ist müßig, sich über die Zuordnung Grönlands zu streiten. Geographisch und geologisch gehört diese Insel zweifellos zur amerikanischen Landmasse. Die Bewohner, die Inuit, weisen auf eine enge Verbindung mit ihren Sprachverwandten auf dem amerikanischen Festland, den Eskimo in Kanada, hin. Geopolitisch ist Grönland ein Teil Europas, nämlich als autonome Region Dänemarks, und entsprechend ausgerichtet sind die wirtschaftlichen und kulturellen Bindungen ans Mutterland. Soziokulturell ist die Gesellschaft Grönlands mit ihrer grönländisch-dänischen Zweisprachigkeit europaorientiert.5 Die Position Islands als nördlicher Außenlieger ist weniger problematisch. Nach ihrer Kultur und Sprache sowie ihrer Selbstidentifizierung sind die Isländer eindeutig Europäer.
Ganz gleich, nach welchen Kriterien man Europa begrenzt, die Welt wird ganz allgemein in Kontinente eingeteilt. Dieses Denkmodell ist seit langem fester Bestandteil unseres kulturellen Gedächtnisses,6 und dementsprechend sollen die Sprachverhältnisse Europas als separater Großregion hier ausgeleuchtet werden. Die Sprachen und Kulturen Europas sind seit der politischen Wende in Osteuropa (1989) und seit der Erweiterung der Europäischen Union zu Beginn dieses Jahrhunderts ins Rampenlicht der sprach- und kulturwissenschaftlichen Forschung gerückt, und dieses verstärkte Interesse hat sich in einer größeren Anzahl von Publikationen niedergeschlagen.7 Die Charakteristik der Sprachräume Europas wurde bis ins ausgehende 20. Jahrhundert allgemein verstanden als das Profil der einheimischen (d.h. autochthonen) Sprachen dieses Kontinents. In diesem Zusammenhang ist eine Beschreibung der Sprachenverbreitung im Sinn von "Sprachräumen" angemessen. Im Spektrum der Sprachen Europas gibt es aber auch Facetten, die andere als die rein geographische Dimension erkennen lassen. Dies wird uns heutzutage durch die soziopolitische Problematik der Immigrantensprachen verdeutlicht.
Für eine Gesamtschau des europäischen Sprachenmosaiks sind prinzipiell zwei Aspekte relevant, die sich in ihrem Aussagewert wechselseitig ergänzen. Dies ist einmal der statische Aspekt einer Betrachtung der demographisch-arealen Sprachenverteilung in Europa, zum anderen der dynamische Aspekt einer chronologischen Abfolge von Entwicklungsstadien, denen das sprachliche Mosaik seine aktuelle Ausprägung verdankt. Seit dem 15. Jahrhundert sind europäische Sprachen nach Übersee exportiert worden, und die Geschichte des Kolonialismus europäischer Staaten ist auch die Geschichte der Ausbreitung europäischer Weltsprachen und der Entstehung zahlreicher Pidgins und Kreolsprachen auf der Basis europäischer Sprachen. Angesichts der globalen Verankerung europäischer Sprachenpräsenz in der Welt relativiert sich der Begriff des Sprachenmosaiks Europas in seiner geographischen Begrenztheit.8
Das Sprachenmosaik Europas (aktueller Entwicklungsstand)
Die in Europa verbreiteten Sprachen werden von insgesamt 700 Millionen Menschen gesprochen. Dazu gehören autochthone Sprachen wie das Baskische, Deutsche oder Ungarische ebenso wie Immigrantensprachen aus anderen Teilen der Welt, Amharisch, Kurdisch oder Vietnamesisch. Die Sprecherzahlen für einzelne Sprachen variieren erheblich. An der Spitze der Sprachenliste im Hinblick auf die Sprecherzahl steht der Gigant Russisch mit 172 Millionen Sprechern in Europa (Primär- und Zweitsprachlern). Das Schlusslicht bildet die kleinste Sprachgemeinschaft Europas, die des Liwischen, das von weniger als zehn Menschen gesprochen wird. Dies sind ethnische Liwen, lettische Staatsbürger, die Liwisch als Zweitsprache gelernt haben, denn der letzte liwische Muttersprachler, der 1921 geborene Viktor Bertold, ist im April 2009 gestorben.
In der Gesamtschau der Sprachenlandschaft Europas ist die Beachtung der territorialen Grenzen unabdingbar. Was hier zu Europa gerechnet wird, sind 44 souveräne Staaten. Dies sind sämtliche Mitgliedstaaten der Europäischen Union (einschließlich des Außenliegers Zypern), sowie diejenigen Staaten, die bisher außerhalb der EU verbleiben. Als Staaten Europas werden hier auch die drei Staaten in der Kaukasus-Region gerechnet, die bis 1991 zum Kreis der nichtrussischen Sowjetrepubliken gehörten und seither souverän sind: Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Die Russische Föderation wird hier lediglich im Hinblick auf deren europäischen Teil betrachtet, ohne Berücksichtigung der Sprachkulturen Sibiriens.9
Im globalen Vergleich ist Europa mit weniger als 150 einheimischen Sprachen der Kontinent mit der geringsten Zahl an Kommunikationsmedien. Es gibt zahlreiche Staaten außerhalb Europas, deren Sprachenzahl weitaus größer ist als die Zahl aller Sprachen Europas zusammen genommen. Beispiele hierfür sind Papua-Neuguinea (826 Sprachen), Indonesien (701), Nigeria (427), Indien (418), Brasilien (236), die USA (224) und China (206).10 Bezogen auf die Gesamtzahl der Sprachen in der Welt (rund 6.400) macht der Anteil der Sprachen Europas lediglich 2,2 Prozent aus. Allerdings wird dieser Anteil in Zukunft leicht ansteigen, da vergleichsweise mehr gefährdete Kleinsprachen in anderen Regionen der Welt aussterben werden als in Europa.11
Einheimische Sprachen und Immigrantensprachen
Als Besonderheit des europäischen Sprachenmosaiks ist die relativ große Zahl an Millionen-Sprachen hervorzuheben, also von Sprachen, die von jeweils mehr als einer Million Sprechern gesprochen werden. Dies sind insgesamt 48 der Sprachen Europas (entsprechend einem Anteil von 31 Prozent an der Gesamtzahl von 143). Zu dieser Kategorie gehören außer dem Russischen das Deutsche, Französische, Englische, Italienische, Spanische, Polnische, Ukrainische, Griechische u.a. In anderen Kontinenten liegen die Anteile für Millionen-Sprachen weitaus niedriger, am höchsten in Asien mit 6,6 Prozent. Rund die Hälfte der Sprachen Europas werden von jeweils weniger als einer Million Menschen gesprochen (z.B. Baskisch, Rätoromanisch/Rumantsch, Sorbisch, Saamisch, Mari, Ossetisch). Die Anteile für diese Größenkategorie an der Gesamtzahl der Sprachen pro Kontinent liegen in anderen Großregionen wie Asien und Afrika über 80 Prozent, in der Pazifik-Region und in Amerika unter dem europäischen Niveau.
Die erwähnten Proportionen der Sprachenvielfalt Europas beziehen sich auf die einheimischen Sprachen dieses Kontinents, d.h. auf diejenigen Sprachen, deren Sprecher seit Jahrhunderten in Europa leben. Mit ganz anderen Proportionen haben wir es zu tun, wenn die zahlreichen Immigrantensprachen mit in die Gesamtschau einbezogen werden.12 Die Zahl der Immigrantensprachen, d.h. der Sprachen der "Neueuropäer", übersteigt 250 und ist damit weitaus größer als die der bodenständigen Sprachen in Europa. Die Verteilung der Sprachen nach Regionen zeigt erhebliche Disproportionen. Hinsichtlich der einheimischen Sprachen gilt es festzustellen, dass die Ratio der Vielfalt von Westen nach Osten steigt. Die Mehrzahl der bodenständigen Sprachen Europas verteilt sich auf Ost- und Südosteuropa. Besonders ins Gewicht fällt die Kaukasusregion an der Peripherie Europas mit ihren mehr als 50 Sprachen, von denen die meisten autochthon sind. Die Disproportionen zeigen im Fall der Immigrantensprachen genau das gegenteilige Bild: Die Mehrzahl der Immigrantensprachen konzentriert sich in den Ländern Westeuropas, während ihre Zahl in Südosteuropa und in Russland deutlich geringer ist.
Die besonderen Kontaktbedingungen von Immigrantensprachen (community languages in der englischen Terminologie) sind bereits seit den 1980er Jahren für einzelne Länder aufgearbeitet worden,13 dabei handelte es sich aber damals noch nicht um ein Phänomen mit gesamteuropäischer Relevanz. Die Problematik der Immigrantensprachen wurde allerdings in den 1990er Jahren mit dem massiven Zustrom von Asylsuchenden und Arbeitsimmigranten zunehmend akut und stellt sich heutzutage als ein Phänomen dar, das die Sprachenlandschaft in ganz Westeuropa und ebenso in Teilen Osteuropas moduliert.14 Es sind neuartige Kontaktsituationen von einheimischen und solchen Sprachen entstanden, die von außerhalb Europas hierhin transferiert worden sind. Heute stehen die Sprachen afrikanischer Immigranten mit dem Englischen, Französischen oder Deutschen auf europäischem Boden in Kontakt und setzen eine Tradition fort, die früher nur aus der Kolonialgeschichte bekannt war. Es entstehen immer mehr "Sprachoasen", die von Migranten aus außereuropäischen Ländern in der Sprachenlandschaft Europas kontinuierlich geschaffen und erweitert werden. Insbesondere im urbanen Milieu gestalten sich die Kontakte der Sprachen von Alt- und Neueuropäern immer komplexer.15
Europa erlebt derzeit Prozesse der Neuentstehung von Pidgins. Die Immigranten aus Übersee (insbesondere aus Afrika) nach Westeuropa und aus Asien nach Osteuropa (insbesondere nach Russland) haben in ihrer Interaktion als "Neueuropäer" mit den alteingesessenen Europäern sprachliche Interferenzen bewirkt, die sich mehr und mehr als Pidgins des Französischen (in den Ballungszentren von Paris und Brüssel), des Englischen (in den britischen Industriestädten), des Deutschen (im urbanen Milieu der Großstädte) und des Russischen (insbesondere in Moskau und St. Petersburg) profilieren. Die Sprachenlandschaft Europas öffnet sich in eine Dimension soziolinguistischer Fusionsprozesse, und diese Prozesse sind Impulsgeber für kontinuierlichen Wandel.16
Europasprachen und europäische Weltsprachen
Ein Superlativ in der Welt der Sprachen, durch den sich Europa von allen anderen Kontinenten unterscheidet, ist das Phänomen des Sprachenexports aus Europa in andere Regionen der Welt. Von keinem anderen Kontinent der Erde haben sich so viele Sprachen verbreitet, die anderswo in der Welt heimisch geworden sind und globale Gemeinschaften ausgebildet haben. Die meisten Weltsprachen, d.h. Sprachen mit globalen kommunikativen Funktionen, sind europäischer Herkunft und gehören der indoeuropäischen Sprachfamilie an.17 Das Ergebnis des Sprachenexports seit dem 15. Jahrhundert ist eine erhebliche Zunahme der Sprecherzahlen. Heute lebt die Mehrheit der Sprecher von Sprachen wie dem Englischen, Spanischen, Portugiesischen und Französischen in außereuropäischen Regionen. Dabei sind die Anteile der Sprechergruppen in Europa im Verhältnis zu denen in anderen Kontinenten spezifisch für jede einzelne Sprache und sehr divergent:
Gesamtsprecherzahl | Davon in Europa | In Übersee | |
Englisch | 573 Mio. | 61,3 Mio. (10,7%) | 511,7 Mio. (89,3%) |
Spanisch | 352 Mio. | 39,4 Mio. (11,2%) | 312,6 Mio. (88,8%) |
Russisch | 242 Mio. | 172,8 Mio. (71,4%) | 69,2 Mio. (28,6%) |
Portugiesisch | 182 Mio. | 9,8 Mio. ( 5,4%) | 172,2 Mio. (94,6%) |
Französisch | 131 Mio. | 62,4 Mio. (47,6%) | 68,6 Mio. (52,4%) |
Deutsch | 101 Mio. | 96,9 Mio. (96,0%) | 4,1 Mio. ( 4,0%) |
Das Deutsche und das Russische sind europazentriert, da die große Mehrheit ihrer Sprecher in Europa beheimatet ist. Dagegen sind Sprachen wie Portugiesisch, Englisch oder Spanisch überwiegend in Übersee verbreitet, und die Zahl der Sprecher in den Ursprungsländern nimmt sich wie eine Minderheit im Vergleich zur Gesamtsprecherzahl aus.
Sprachen und Staaten
Die mehr als 140 Sprachen Europas verteilen sich auf 44 staatliche Territorien. Die älteste staatliche Organisation in der Geschichte Europas sind die mykenischen Stadtstaaten (Mykene, Tiryns, Pylos u.a.), die sich im 2. Jahrtausend v. Chr. formierten. Der jüngste Staat ist das Kosovo, das seine Souveränität im Jahr 2008 erlangte. Unklar ist der Status von Abchasien und Südossetien, die nach dem russisch-georgischen Krieg im August 2008 ihre Unabhängigkeit erklärten. Die Vereinten Nationen gehen weiter davon aus, dass die betreffenden Regionen autonome Gebiete innerhalb der Grenzen des georgischen Staates sind, während Russland die Unabhängigkeit beider Regionen anerkannt hat.
Sprach- und Staatsgrenzen waren zu keiner Zeit synchronisiert. Es gibt nur wenige Staatswesen, deren Nationalsprache die territoriale Einheit der gesamten Sprachgemeinschaft repräsentiert. Dies sind die beiden Inselstaaten Island und Malta. Das Verhältnis der Sprachgemeinschaften Europas zu staatlichen Territorien ist jeweils das einer Majorität im Kontrast zu regionalen Minoritäten. Die deutsche Sprachgemeinschaft beispielsweise konzentriert sich in Mitteleuropa und verteilt sich auf die Territorien dreier Staaten: Deutschland, Österreich, Schweiz. Zahlreiche Außenlieger ergänzen das Spektrum: deutsche Minderheiten in Frankreich, Belgien, Italien, Ungarn, Polen, Russland, u.a. Zählt man die regionalen Sprechergruppen jeder Sprache gesondert, ist die Gesamtzahl der regionalen Sprachgemeinschaften vier- bis fünfmal größer als die absolute Zahl der Einzelsprachen in Europa.
Die Verteilung der Sprachen und Ethnien in den Staaten Europas ist das Ergebnis vielfältiger historischer Prozesse. Einige dieser Prozesse reichen bis in die Antike zurück. Andere Prozesse reflektieren jüngere Entwicklungen und verweisen auf Perioden der vergangenen eineinhalbtausend Jahre. Bis in die jüngste Zeit ist das Profil der Sprachenverteilung in diesem Kontinent im Wandel begriffen. Die ständigen Fluktuationen resultieren nicht nur aus unterschiedlichem Wachstum der Sprachgemeinschaften, aus Assimilationstendenzen oder aus Migrationsbewegungen, sondern auch aus der Verschiebung von politischen Grenzen.
Die Staaten Europas haben seit der Antike mit der Problematik der Synchronisierung von Sprach- und Staatsgrenzen zu tun gehabt. Trotz wiederholter Versuche – häufig in Form von durch Kriege vollzogenen Grenzverschiebungen –, nationale und kulturell-sprachliche Uniformität zu erreichen, sind sämtliche Uniformitätsmodelle Utopie geblieben und keines davon hatte einen längeren realen Bestand. Die Staatenwelt Europas hat ihre Grenzprofile seit der Antike kontinuierlich verändert. Ebenso haben sich ältere Staatswesen aufgelöst oder sind zusammengebrochen und neue Staaten sind entstanden. Besonders anfällig gegen die Wechselfälle politischer Konfliktsituationen waren Staaten mit multinationaler und multillingualer Bevölkerung, die keinen dauerhaften Bestand hatten.
Das polnisch-litauische Großreich verlor seine politische Bedeutung im 18. Jahrhundert. Die Schwächung dieses Staates war so nachhaltig, dass die mächtigen Nachbarstaaten die Teilung Polens in drei Phasen erzwangen (1772, 1793, 1795). Das Heilige Römische Reich deutscher Nation, dessen Grenzen weit über das deutsche Siedlungsgebiet hinausreichten, existierte nominell bis 1806, als es von Napoleon Bonaparte (1769–1821) aufgelöst wurde und sich dann in vielerlei regionale Fürstentümer und Königreiche aufspaltete. Auch die multinationalen Staaten des 20. Jahrhunderts bestehen nicht mehr. Im Jahr 1918 wurde die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn in Nationalstaaten aufgelöst. Im Jahr 1991 löste sich die Sowjetunion ohne äußeren Druck selbst auf. An die Stelle des ehemaligen Sowjetstaates traten zahlreiche Nationalstaaten mit nationalen Bevölkerungsmehrheiten und Majoritätssprachen. Die Auflösung des ehemaligen Jugoslawien war das Ergebnis sukzessiver Kriege zwischen 1991 und 1995.
Das Image der Uniformität kirchlicher Institutionen, als deren sprachliches Symbol das Lateinische fungierte, war ein wichtiger Impulsgeber für die Idee von staatlicher Organisation in einem kulturell uniformen Kulturareal. Die Geschichte der Staatsbildungen seit Beginn der Neuzeit ist tatsächlich auch die Geschichte von Projekten, ethnische und sprachliche Vielfalt auszuschließen. "Die ethnisch gemischten Gesellschaften an den europäischen Peripherien existierten in einem größeren europäischen Kulturkomplex, der sich – im Verlauf der mittelalterlichen Periode – in Richtung auf eine immer höhere Wertschätzung der Uniformität hinbewegte".18
Dieses Streben nach Uniformität war im Wesentlichen machtpolitisch gesteuert und zielte primär darauf ab, Multikulturalismus und Mehrsprachigkeit von Staatsgeschäften fernzuhalten. Je stärker sich die Zentralgewalt in den Staaten Europas etablierte, desto intensiver wirkte sich der Druck dominanter Sprachen auf indominante aus. Die Institutionalisierung und funktionelle Erweiterung von Staatssprachen als exklusive Medien in allen öffentlichen Bereichen hatte langfristig auch Auswirkungen auf Regionalsprachen, deren Funktionsbereich immer weiter eingeschränkt wurde, so dass sich viele von deren Sprechern assimilierten und einen Wechsel zur Staatssprache vollzogen.19
Der Existenzkampf indominanter Sprachen und der Widerstand ihrer Sprecher gegen staatssprachliche Willkür war in einigen Regionen erfolgreich, in anderen lösten sich Sprachgemeinschaften zunehmend auf. Im Ganzen betrachtet blieb aber der machtpolitisch motivierte Uniformierungsprozess in den meisten Staaten mit natürlicher Mehrsprachigkeit eine Idealvorstellung, die die Machthaber anstrebten, die sie aber niemals erreichten. Das beständige Spannungsverhältnis zwischen staatlicher Zentralgewalt (und Majoritätssprache) und Regionen mit antizentraler Interessenlage (und Minoritätssprachen) macht die Geschichte Europas facettenreich.20
Der komplexe Wandlungsprozess von Sprach- und Staatsgrenzen setzt sich bis in unsere Zeit fort. Die größten Veränderungen im Sprache-Staat-Verhältnis brachten die Bevölkerungsverschiebungen und "ethnischen Säuberungen" der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit mit sich. Hierzu gehören die buchstäbliche "Entmenschlichung" der jiddischen Sprachgemeinschaft, deren Angehörige überwiegend Opfer des Holocaust wurden, die Deportation der Wolgadeutschen aus der Wolgaregion nach Kasachstan im Spätsommer 1941, die "Entdeutschung" der Anrainerstaaten Deutschlands in den vierziger und fünfziger Jahren.21
Nach der Festschreibung der politischen Grenzen und der Anerkennung des Status quo der Staatenwelt Europas im KSZE-Abkommen von 1975 sah es einige Jahre so aus, als ob in Zukunft kein größerer Wandel mehr stattfinden würde, weder im Hinblick auf Sprachgrenzen noch bezüglich staatlich-politischer Grenzziehungen. Die Nachwirkungen des Umbruchs von 1989 in Osteuropa und die Langzeitfolgen der militärischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan (1991–1995 Auflösung des alten jugoslawischen Staats, 1999 Kosovo-Krise) zeigen uns aber, dass die Zeit der Veränderungen im Sprache-Staat-Profil noch nicht vorbei ist. Nach der Auflösung der ehemaligen Sowjetunion im Jahr 1991 hat die russische Sprachgemeinschaft einen historischen Wandel erlebt: Zum ersten Mal in der Geschichte leben Millionen von Russen außerhalb der Grenzen ihres Heimatstaates Russland.22
Sprachen und Sprachfamilien
Mit Ausnahme des Baskischen sind im westlichen Europa indoeuropäische Sprachen verbreitet. Die Sprachen der verschiedenen regionalen Gruppierungen innerhalb dieser Familie konzentrieren sich in bestimmten Arealen. Im Nordwesten werden keltische Sprachen gesprochen. Germanische Sprachen sind im Norden (England, Skandinavien) und in Mitteleuropa verbreitet. Im Westen und Süden dominieren romanische Sprachen. An der südlichen Peripherie finden wir einen Außenlieger der afro-asiatischen Sprachfamilie, das Maltesische. In Mitteleuropa ist das Ungarische, umgeben von indoeuropäischen Sprachen, als finnisch-ugrische Enklave isoliert von anderen verwandten Sprachen.
Die Verhältnisse in der östlichen Hälfte Europas sind weitaus komplexer. Hier werden Sprachen gesprochen, die zu vier verschiedenen Sprachfamilien gehören. Genauer gesagt sind es mehr als vier Familien, wenn man die interne Gliederung der kaukasischen Sprachen in mehrere separate Sprachfamilien berücksichtigt. Von der indoeuropäischen Makrogruppierung sind es die slawischen Sprachen, die in Südosteuropa und in Osteuropa dominieren. Die uralischen Sprachen sind in Osteuropa mit ihrem finnisch-ugrischen Sprachzweig vertreten. Von den altaischen Sprachen ist es die Gruppe der westlichen Turksprachen, die sich in Osteuropa und im Kaukasus verbreitet hat. Die autochthonen Sprachen der Kaukasusregion gehören zu keiner der erwähnten Sprachfamilien.
Indoeuropäische Sprachen
Das Areal indoeuropäischer Sprachen in Europa ist im Vergleich zu deren Ausdehnung außerhalb dieses Kontinents sehr begrenzt.23 Die sprecherreichsten indoeuropäischen Sprachen (Hindi: rund 420 Millionen, Bengalisch: rund 200 Millionen) sind in Südasien verbreitet. Auch die Sprecher indoeuropäischer Weltsprachen sind überwiegend außerhalb Europas beheimatet (s.o.). Berücksichtigt man die Verbreitung europäischer Weltsprachen und die historische Migration von Europäern in außereuropäische Gebiete, so finden wir indoeuropäische Sprachen in fast allen Ländern der Welt.
Gruppierungen in Europa:
- Germanisch
- Westgermanisch: Deutsch, Englisch, Friesisch, Niederländisch, Jiddisch, Letzeburgisch
- Nordgermanisch: Dänisch, Färingisch, Isländisch, Norwegisch, Schwedisch
- Sprecherreichste Sprache: Deutsch (96 Millionen in Europa)
- Kleinste Sprachgemeinschaft: Färingisch (47.000)
- Romanisch
- Westromanisch: Galloromanisch (Französisch, Occitanisch); Iberoromanisch (Spanisch, Portugiesisch, Galicisch, Katalanisch); Alpenromanisch (Bündnerromanisch/Rätoromanisch, Ladinisch, Friaulisch)
- Ostromanisch: Italienisch, Korsisch, Rumänisch
- Das Sardische hat eine Sonderstellung zwischen West- und Ostromanisch
- Sprecherreichste Sprache: Französisch (62 Millionen in Europa)
- Kleinste Sprachgemeinschaft: Ladinisch (30.000)
- Keltisch
- Inselkeltisch: Goidelisch/Gälisch (Irisch, Schottisch-Gälisch); Britannisch/Britisch (Kymrisch, Bretonisch)
- Sprecherreichste Sprache: Irisch (1,1 Millionen, Primärsprachler + Zweitsprachler)
- Kleinste Sprachgemeinschaft: Schottisch-Gälisch (58.000)
- Slawisch
- Westslawisch: Polnisch, Kaschubisch, Tschechisch, Slowakisch, Sorbisch
- Ostslawisch: Russisch, Weißrussisch, Ukrainisch, Ruthenisch/Russinisch
- Südslawisch: Slowenisch, Serbisch, Kroatisch, Bosnisch, Bulgarisch, Makedonisch
- Sprecherreichste Sprache: Russisch (172 Miollionen in Europa)
- Kleinste Sprachgemeinschaft: Sorbisch (67.000)
- Baltisch
- Ostbaltisch: Litauisch, Lettisch
- Sprecherreichste Sprache: Litauisch (3,5 Millionen)
- Kleinste Sprachgemeinschaft: Lettisch (1,6 Millionen)
Griechisch
(repräsentiert einen eigenen Sprachzweig des Indoeuropäischen)
Albanisch
(repräsentiert einen eigenen Sprachzweig des Indoeuropäischen)
Armenisch
(repräsentiert einen eigenen Sprachzweig des Indoeuropäischen)
- Iranisch
- Westiranisch: Kurdisch (in Armenien und Georgien)
- Ostiranisch: Ossetisch, Tatisch, Talyschisch
- Sprecherreichste Sprache: Ossetisch (0.55 Millionen)
- Kleinste Sprachgemeinschaft: Tatisch (3000)
- Indisch (Indo-Arisch)
- Romani (einziger Vertreter dieses Sprachzweigs in Europa)
Das Romani, die Sprache der Sinti, Roma und anderer regionaler Gruppen, ist von außerhalb Europas hierher transferiert worden. Romani wird seit dem 12. Jahrhundert in Südosteuropa gesprochen und allgemein als zum Spektrum der einheimischen Sprachen Europas gehörend betrachtet, denn die Geschichte des Romani ist über dessen Kontakte aufs Engste mit der europäischer Sprachen verwoben. Dabei ist das Romani nicht nur massiv beeinflusst worden, sondern hat selbst Spuren hinterlassen, am deutlichsten in einigen Balkansprachen.24
Uralische Sprachen
Wie die indoeuropäischen Sprachen, so sind ebenfalls die uralischen Sprachen nicht nur in Europa, sondern auch in Asien verbreitet (im westlichen und nördlichen Sibirien).25 Von den beiden Hauptzweigen der uralischen Sprachfamilie, dem finnisch-ugrischen und dem samojedischen, sind die Sprachen des Ersteren am bekanntesten. Drei der finnisch-ugrischen Sprachen (Finnisch, Estnisch, Ungarisch) sind Amts- und Nationalsprachen in unabhängigen Staaten. Die übrigen uralischen Sprachen sind Minoritätssprachen in Russland, in Rumänien, in der Ukraine und in der Slowakei.
Gruppierungen in Europa:
- Finnisch-ugrisch
- Finnisch (Finnisch-Permisch: Komi/Syrjänisch, Permjakisch, Udmurtisch; Finnisch-Wolgaisch: Mari, Mordwinisch; Ostseefinnisch: Finnisch, Karelisch, Estnisch, Ischorisch, Wotisch, Wepsisch, Liwisch)
- Ugrisch: Ungarisch (die übrigen ugrischen Sprachen sind in Sibirien verbreitet)
- Saamisch (insgesamt zehn Regionalsprachen in Norwegen, Schweden, Finnland und Russland)
- Samojedisch: Nenzisch bzw. Jurakisch (die übrigen samojedischen Sprachen sind in Sibirien verbreitet)
- Sprecherreichste Sprache: Ungarisch (15 Millionen)
- Kleinste Sprachgemeinschaft: Liwisch (10)
Kaukasische Sprachen
Zwischen Schwarzem Meer und Kaspischem Meer bildet das Kaukasus-Gebirge einen geographischen Riegel, der Europa von Asien trennt. Die Region ist auf die Territorien von vier Staaten aufgeteilt: Armenien, Aserbaidschan, Georgien und Russland. Die faktische Unabhängigkeit, die Tschetschenien nach dem ersten Tschetschenien-Krieg (1995–1996) genossen hat, wurde durch den zweiten Tschetschenien-Krieg (1999–2000) wieder aufgehoben.
Die einheimischen Kaukasier sind Nachkommen der Urbevölkerung der Region, die dort schon während der letzten Eiszeit beheimatet waren. Der Ausdruck "kaukasische Sprachen" ist genau genommen ein Sammelbegriff für alle autochthonen Sprachen der Region.26
Nur einige der mehr als drei Dutzend kaukasischen Sprachen werden auch als Schriftmedien verwendet. Hierzu gehören unter anderem das Abchasische und Kabardinische (nordwestkaukasisch), das Tschetschenische und Inguschische (nordostkaukasisch) sowie das Georgische (südkaukasisch). Die älteste dieser Schriftsprachen ist das Georgische, dessen früheste Texte aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. stammen.
Gruppierungen in Europa:
- Nordwestkaukasisch (Westkaukasisch): Abchasisch, Kabardinisch, Tscherkessisch u.a.
- Nordostkaukasisch (dagestanische Sprachen): Nachisch, Awarisch, Lesgisch u.a.
- Nordkaukasisch (Vei-Nach-Sprachen): Inguschisch, Tschetschenisch u.a.
- Südkaukasisch (kartvelische Sprachen): Georgisch, Mingrelisch, Swanisch u.a.
Altaische Sprachen
Die altaische Sprachfamilie ist mit zwei Sprachzweigen in Europa vertreten, dem türkischen und dem mongolischen. Zwischen Ural und Balkan sind zahlreiche türkische Völker mit jeweils individuellen Sprachen beheimatet.27 Seit dem frühen Mittelalter hat sich die sprachliche Landschaft des östlichen Europa stark verändert. Über die Ebene, die im Norden vom Ural-Gebirge und im Süden vom Kaspischen Meer begrenzt wird, wanderten türkische Stämme, aus Sibirien kommend, nach Europa ein. Schon früh gründeten sie Reiche wie das der Chasaren (7. Jahrhundert) im nördlichen Kaukasus-Vorland und das der Wolgabulgaren (8. Jahrhundert). Später dominierten die Tataren von Kazan, die zwischen 1245 und 1480 im Bündnis mit den Mongolen über die Hälfte der russischen Länder beherrschten.
Spontan könnte man geneigt sein, den Status von altaischen Sprachen auf europäischem Boden als den von Importsprachen zu werten. Es gilt allerdings zu bedenken, dass die Ethnogenese verschiedener türkischer Völker, wie der Tataren, Tschuwaschen und Gagausen auf europäischem Boden stattgefunden hat, und dass deren Sprachen somit als ebenso einheimisch zu betrachten sind wie deren Kontaktsprachen (d.h. Russisch, Bulgarisch und Moldauisch).28
Gruppierungen in Europa:
- Türkisch
- westliche Turksprachen: Tatarisch, Baschkirisch, Tschuwaschisch, Nogaisch, Karatschai-Balkarisch, Kumykisch, Gagausisch
- südliche Turksprachen: Aserbaidschanisch, Krimtatarisch
Mongolisch: Kalmykisch
Das Kalmykische (Kalmükische) ist die östlichste der Sprachen Europas und der einzige Vertreter des mongolischen Sprachzweiges in Europa.29 Die Kalmyken werden auch als europäische Oiraten bezeichnet. Die nah verwandten asiatischen Oiraten leben im Norden Chinas. Das Verbreitungsgebiet der Kalmyken ist die Küstenregion im Nordwesten des Kaspischen Meeres, Kalmykien (Chalm-Tangsch), wo die meisten Kalmyken beheimatet sind. Dieses Territorium gehört administrativ zur Russischen Föderation. Die Kalmyken sind aus ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten im Norden der Mongolei abgewandert und haben sich im 17. Jahrhundert an der unteren Wolga niedergelassen. Kalmykisch wird nicht in den Sprachenlisten Asiens aufgeführt.
Afroasiatische Sprachen
Von den Sprachzweigen dieser Familie ist das Semitische in Europa vertreten. Vier semitische Sprachen sind hier heimisch geworden, das Hebräische, das Arabische, das Maltesische und das Neuaramäische (Aissor).
Das Hebräische ist als Sakralsprache des Judentums verbreitet. Dies gilt für die jüdische Bevölkerung mit ihren europäischen Identitätsmarkern, die aschkenasischen Juden und die sephardischen Juden.30
Die Sepharden
Als Sepharden (Sefardim) werden die spanischen Juden bezeichnet (nach dem hebräischen Namen für das mittelalterliche Spanien, Sefarad). Die Juden auf der Pyrenäenhalbinsel erlebten ihre kulturelle Blüte unter der maurischen Herrschaft Spaniens. Sephardische Juden wohnten vor allem in den Städten Sevilla, Córdoba und Granada.31 In diesem multikulturellen Milieu, wo die beiden Kultursprachen Hebräisch und Arabisch florierten und in Schriftform die romanische Volkssprache, das Mozarabische, überdachten, entstand nicht nur eine reiche Originalliteratur in hebräischer Sprache, sondern ebenfalls ein Übersetzungsschrifttum. Die traditionelle Sprache der Sepharden ist das Ladino (Juden-Spanisch), eine mit Hebraismen durchsetzte Variante des mittelalterlichen Spanisch, das nach der Vertreibung der Sepharden aus Spanien im Jahr 1492 mit den Flüchtlingen nach Südosteuropa transferiert wurde.32
Die Aschkenasen
Die Muttersprache der aschkenasischen Juden ist das Jiddische. Das seit dem 16. Jahrhundert allgemein als Sprache der Aschkenasen verstandene Jiddisch ist eine Fusionssprache auf der Basis des Mittelhochdeutschen, mit massiven Einflüssen des Hebräischen, Polnischen und Russischen.33 Als Aschkenasim wurden im Mittelalter die Juden in Westeuropa (Deutschland, Frankreich, England) bezeichnet. Zwischen 1050 und 1300 dominierten bevölkerungsmäßig und kulturell die Juden im deutschsprachigen Raum. Später, nachdem die Juden aus Westeuropa vertrieben worden waren und in Polen und Russland eine neue Heimat gefunden hatten, wurde der Name Aschkenasim auf alle Juden Europas (mit Ausnahme der Sepharden auf der Pyrenäenhalbinsel) bezogen.
Arabisch ist als Sakralsprache in den muslimischen Gemeinden verbreitet und in gesprochener Form ist es Muttersprache von Arbeitsimmigranten und Asylanten aus arabischen Ländern (Algerier in Frankreich, Marokkaner in Spanien, Italien und Deutschland, Ägypter in England). Allein in Frankreich sind rund fünf Millionen Muslime beheimatet. Das Arabische hat seit dem Mittelalter eine wichtige Rolle als Kultursprache in Europa gespielt. Seine Präsenz ist nicht an eine bestimmte Region gebunden, sondern rangierte in historischer Zeit von West- bis Osteuropa.
Die Pyrenäenhalbinsel als arabische Kulturprovinz
Vom 8. Jahrhundert bis zum Jahr 1492 dominierte das Arabische als Kultursprache in weiten Teilen Spaniens. Zwar engte die von den christlichen Königreichen des Nordens getragene, kontinuierliche Südbewegung der reconquista (Rückeroberung der vormals christlichen Gebiete) den politischen Machtbereich der maurischen Herrscher sukzessive ein, arabische Sprache und Schrift hatten aber auch Bedeutung in den christlichen Kulturzentren. Im Jahr 1130 wurde unter dem Patronat des Erzbischofs von Toledo, Raymund, eine Übersetzerschule gegründet, deren Aufgabe es war, Hauptwerke des arabischen Schrifttums ins Lateinische zu übersetzen. Das Besondere an dem arabischen Schrifttum, für das sich die gelehrte Welt der Christen interessierte, war die "Entdeckung" der Werke antiker Autoren, deren griechische oder lateinische Originale in Europa verschollen waren. Verschiedene Werke des Aristoteles gehörten zu diesem Kreis, beispielsweise sein Traktat De anima, das im 12. Jahrhundert aus dem Arabischen ins Lateinische übertragen wurde. Die Übersetzungstätigkeit ist als "Renaissance des antiken griechischen Ideenguts im Westen"34 gepriesen worden, und über das übersetzte Schrifttum wurden bedeutende Werke der Antike gleichsam über arabische Vermittlung nach Europa "heimgeholt".
Sizilien, die Wolgaregion und die Balkanländer als arabische Kulturprovinzen
Arabischer Kultureinfluss machte sich unter der Regierungszeit (1210–1250) des Stauferkaisers Friedrich II. (1194–1250) geltend. An seinem Hof in Palermo wurde lateinisch-christliche und arabisch-islamische Kultur gepflegt.35
Die islamisierten Kulturen der Turkvölker an der mittleren Wolga haben seit dem Mittelalter unter arabischem Einfluss gestanden. Das Arabische war und ist bis heute die heilige Sprache der türkischen Muslime. Die Schriftsysteme des Tatarischen, Baschkirischen und anderer Turksprachen basierten bis zum Beginn der Sowjetära auf dem arabischen Alphabet.36
Die arabische Schriftkultur hat sich während der osmanisch-türkischen Herrschaft in Südosteuropa verbreitet. Das Arabische selbst blieb auf die Verwendung in den Koranschulen und in den Moscheen (Koran- und Gebetstexte) beschränkt. Die arabische Schrift, mit der das Türkische bis in die 1920er Jahre geschrieben wurde, wurde auch von einigen lokalen Sprachen des Balkans adaptiert. So entstand ein Schrifttum in albanischer, serbischer, bosnischer und tatarischer Sprache, dessen Texte mit arabischen Buchstaben geschrieben worden sind.
Zur Schreibung des Bosnischen entwickelte sich (neben einer Ableitung des kyrillischen Alphabets) eine arabische Schriftvariante, die arebica, die dem Lautsystem dieser südslawischen Sprache angepasst war. Heutzutage wird die Schreibung des Bosnischen in einer Variante der Lateinschrift bevorzugt, obwohl auch das kyrillische Alphabet in Gebrauch ist.37
Das Maltesische, die Nationalsprache Maltas, ist eine lokale Variante des Arabischen, die sich aufgrund der kulturellen Sonderentwicklung des Inselarchipels zwischen Sizilien und Nordafrika von den übrigen Varianten des Arabischen unterscheidet.38 Die Malteser sind römisch-katholische Christen und haben über ihre religiöse Orientierung Anteil an den kulturellen Strömungen Westeuropas.
Aisor oder Neuassyrisch ist eine moderne Variante des Aramäischen, der Muttersprache des historischen Jesus.39 Kleinere Sprechergruppen (ca. 15.000) dieser Sprache, die von insgesamt 0,33 Millionen Menschen in zahlreichen Enklaven im Iran, Irak, in Syrien und der Türkei gesprochen wird, leben in Georgien und Armenien, auch in einigen Städten Russlands (Moskau und St. Petersburg). Die Sprecher des Aisor sind orientalische Christen, von denen die meisten als Minderheiten in einer muslimischen Mehrheitsbevölkerung leben. In Georgien und Armenien sind die Neuassyrer eine christliche Minderheit mit eigenen Traditionen innerhalb einer anders-christlichen (georgischen bzw. armenischen) Mehrheit. Aisor wird auch "Neusyrisch" genannt, und zwar wegen der Schrift, mit der diese Sprache geschrieben wird. Es ist das Estrangelo, eine Variante der alten nestorianischen Schrift, die in frühchristlicher Zeit in Syrien verwendet wurde.
Baskisch
Das Verbreitungsgebiet des Baskischen ist das politisch in eine französische und in eine spanische Zone aufgeteilte Baskenland. In früheren Jahrhunderten war das Verbreitungsgebiet des Baskischen ausgedehnter (siehe unten). Das Baskische ist eng mit dem schon in der Antike ausgestorbenen Aquitanisch verwandt. Für das Baskische lässt sich keine direkte Verwandtschaft mit irgendeiner anderen lebenden Sprache der Welt nachweisen, das heißt, es ist genealogisch isoliert.40 Seit mehr als hundert Jahren sind die Baskisch-Sprachigen bereits in der Minderheit. Noch 1868 sprachen 54 Prozent der Bevölkerung in den baskischen Provinzen Baskisch. Ihr Anteil ist bis zum Jahr 1991 auf 23,7 Prozent zurückgegangen. Von den insgesamt 2,873 Millionen Bewohnern der sieben baskischen Provinzen (Labourd, Basse Navarre und Soule auf französischer Seite, Vizcaya, Guipúzcoa, Alava und Navarra auf spanischer Seite) sprechen 0,681 Millionen Baskisch.41
Das Sprachenmosaik Europas (Entwicklungsphasen)
Die große Mehrheit der in Europa verbreiteten Sprachen gehört genealogisch zu Makrogruppierungen (Sprachfamilien), die autochthon sind. Diese Sprachfamilien haben sich also auf europäischem Boden formiert, und die Ausgliederung der Einzelsprachen hat sich in mehreren Entwicklungsschüben in Europa vollzogen.
Altsprachen
Die ältesten, noch heute lebenden Sprachen in Europa sind solche an den Peripherien, und zwar das Baskische im Westen und die kaukasischen Sprachen im Osten. Das Entstehungsgebiet der kaukasischen Sprachen ist in der Region zu suchen, die namensgebend dafür war.42 Zu dieser ältesten Sprachschicht Europas ist noch eine Anzahl weiterer Sprachen zu zählen, die aber sämtlich während der Antike ausgestorben sind. Diese Sprachen waren überwiegend im Mittelmeerraum verbreitet. Wahrscheinlich gehörten diese vorrömischen Sprachen zu einer altmediterranen Sprachfamilie. Von Osten nach Westen sind hier zu nennen:43
- Eteokyprisch auf Zypern
- Minoisch auf Kreta
- Lemnisch auf der Insel Lemnos in der Ägäis (verwandt mit dem Etruskischen)
- Etruskisch in Etrurien
- Reste vor-indoeuropäischer Sprachen auf Sizilien
- Paläosardisch auf Sardinien
- Camunisch in den norditalienischen Alpen
- Rätisch in den Schweizer Alpen
- Ligurisch in der Region von Genua
- Aquitanisch in Südwestfrankreich
- Iberisch in Nordostspanien
- Kantabrisch in Nordspanien
- Tartessisch in Südspanien
- Lusitanisch in Südportugal
Die Indoeuropäisierung Europas
Die formative Periode der indoeuropäischen Sprachfamilie liegt in der Zeit zwischen ca. 7000 und ca. 5000 v. Chr. Dies ist auch in etwa die Zeitspanne, während der sich die uralische Sprachfamilie formiert hat. Das Ursprungsgebiet der indoeuropäischen Sprachen liegt im östlichen Europa, und zwar im südlichen Steppengürtel zwischen der Wolga und dem Don.44 Die Urheimat der uralisch-sprechenden Populationen lag westlich des Gebirgszuges (Ural), der dieser Sprachfamilie den Namen gab, und zwar in der Waldzone nördlich der indoeuropäischen Urheimat.45 Der indoeuropäische und der uralische Komplex haben sich, in Nachbarschaft zueinander, aus einer noch älteren Sprachschicht ausgebildet, der ältesten, die für die Sprachenwelt Eurasiens zu identifizieren ist. Diese älteste Schicht wird nostratisch bzw. eurasiatisch genannt. Auf die gemeinsame Sprachschicht deuten eine Reihe sehr alter Konvergenzen im Wortschatz und im grammatischen Bau des Indoeuropäischen und Uralischen, die nicht auf Entlehnung beruhen.46
Die Herkunft der Indoeuropäer und die Ausgliederungsprozesse der indoeuropäischen Sprachen waren lange Zeit umstritten. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass diese komplexen Fragen nicht ausschließlich mit den Erkenntnissen einer Einzeldisziplin erschöpfend beantwortet werden können. Die historische Sprachwissenschaft reicht für eine schlüssige Theorienbildung über die prähistorischen Vorgänge im Zusammenhang mit den Indoeuropäern nicht aus. Vielmehr bedarf es der Auswertung von Erkenntnissen aus verschiedenen Wissenschaftszweigen – der Sprachwissenschaft, Archäologie, Kulturwissenschaft und Humangenetik – zur Formulierung einer schlüssigen Theorie über die prähistorischen Prozesse, die für die Entstehung der indoeuropäischen Sprachenwelt verantwortlich sind. Aus den verschiedensten Gründen können heutzutage Annahmen von einer anatolischen Urheimat der Indoeuropäer ebenso verworfen werden wie Vorstellungen, die Indoeuropäer hätten schon immer in Westeuropa gesiedelt.47
Die heute verfügbaren linguistischen, archäologischen und humangenetischen Fakten lassen sich dagegen sinnvoll miteinander verknüpfen, wenn man davon ausgeht, dass sich die alte indoeuropäische (= protoindoeuropäische) Kultur in der Steppenzone Südrusslands entfaltet hat und später aus diesem Raum kleine Gruppen von Nomaden an der westlichen Peripherie in die Gebiete mit agrarischer Bevölkerung vorstießen, wo sie sich als Eliten etablierten. In weiteren Schüben kamen Migranten aus der Steppe, die sich in den Ackerbaugebieten niederließen und sich allmählich an eine nahrungsproduzierende Lebensweise gewöhnten. Als Eliten übten die ehemaligen Steppennomaden weitgehenden Einfluss aus, und die bodenständige agrarische Bevölkerung nahm die Sprache der Herrschenden, das Indoeuropäische an.48 Spätere Wanderbewegungen haben die Frühformen dieses aus kulturell-sprachlicher Fusion entstandenen Indoeuropäischen weiter nach Westen transferiert. Die prähistorischen Migranten, die regionale Varianten des Indoeuropäischen sprachen, waren assimilierte Alteuropäer und akkulturierte Indoeuropäer. Die Kelten, die sich im 1. Jahrtausend v. Chr. in Westeuropa ausbreiteten und auf die britischen Inseln migrierten, waren bereits reine Ackerbauern.
Die Geschichte Europas ist die Geschichte seiner Indoeuropäisierung. Heutzutage sind die meisten Sprachen in Europa mit der indoeuropäischen Sprachfamilie affiliiert. Das Panorama der indoeuropäischen Einzelsprachen hat sich im Lauf der Zeit erheblich verändert. Viele der in vorrömischer Zeit verbreiteten Sprachen sind im Lauf der Antike, spätestens im frühen Mittelalter, ausgestorben. Von den zahlreichen italischen Sprachen ist nur das Lateinische übriggeblieben, dessen gesprochene Variante sich später in die romanischen Sprachen transformiert hat. Thrakisch, Dakisch, Mazedonisch, Illyrisch, Venetisch, Lepontisch, Gallisch und zahlreiche andere Frühformen des Indoeuropäischen sind ausgestorben.
Im Zuge der Indoeuropäisierung Europas haben sich viele Alteuropäer assimiliert. Die Assimilationsprozesse, die in vorrömischer Zeit abgelaufen sind, können nur bruchstückhaft aus den Relikten erschlossen werden, die vor-indoeuropäische Sprachen hinterlassen haben. Im Wortschatz des Altgriechischen beispielsweise gibt es eine breite Schicht von Entlehnungen aus der Sprache der vorgriechischen Bevölkerung Südosteuropas, von den Griechen Pelasger genannt. Dazu gehören viele Ausdrücke der Webterminologie, für Ackerbau und Töpferei, für Metallverarbeitung und die natürliche Umwelt.49
Besser bekannt ist der Sprachwechselprozess bei den Etruskern, die sich über eine längere Periode der Zweisprachigkeit ans Lateinische assimilierten. Das Etruskische hat vor seinem Verschwinden als gesprochene Sprache deutliche Spuren im Lateinischen hinterlassen.50 Hierzu gehören nicht nur Entlehnungen des Spezialwortschatzes wie die lateinischen Begriffe histrio (Schauspieler) oder atrium (Vorhalle eines römischen Hauses), sondern auch weit verbreitete Elemente des Kulturwortschatzes wie caerimonia ([religiöse] Zeremonie), columna (Säule), persona (Person, Individuum) u.a., die etruskischer Herkunft sind. Über das Lateinische sind diese etruskischen Sprachrelikte in lautlich transformierter Gestalt in den Kulturwortschatz unserer modernen Sprachen vermittelt worden (z.B. "Volk": lateinisch: populus, italienisch: popolo, französisch: peuple, englisch: people usw.). Der etruskische Hintergrund vieler Elemente selbst unseres alltäglichen Wortschatzes, nicht nur der Kulturwörter, ist uns nicht bewusst, weil unsere Schulausbildung sich nicht darauf einstellt und unser kulturelles Gedächtnis nicht entsprechend konditioniert ist. Wer würde bei Ausdrücken wie Käse, Fenster, Zisterne, Taverne oder Nummer vermuten, dass sie etruskischer Herkunft sind?
Die Basken sind das einzige Volk Europas, das seine Sprache seit der Antike bewahrt hat, und dies trotz eines Jahrhunderte anhaltenden assimilatorischen Drucks indoeuropäischer Sprachen (Lateinisch, Französisch, Spanisch). Allerdings hat die baskische Sprachgemeinschaft seit dem Mittelalter erhebliche Einbußen ihres Verbreitungsareals erlebt. Die Entstehungszeit einer baskischen ethnischen Identität reicht in die vorrömische Antike zurück, und das Baskische ist die älteste noch lebende Sprache Europas. In dem Sprachmaterial (Namen, Appellativa) aus dem Norden Hispaniens, das aus römischer Zeit überliefert ist, finden sich bereits die typischen phonetischen und morphologischen Eigenheiten des Baskischen.
Die Erkenntnisse der modernen humangenetischen Forschung verdichten sich zu dem Bild, dass die heutigen Basken in ethnischer Hinsicht entfernte Nachfahren der Eiszeitbevölkerung sind. Anders ausgedrückt, diejenigen Menschen, die die Höhlen von Altamira, Lascaux, Pech-Merle usw. ausgemalt haben, waren entfernte Vorfahren der heutigen baskischen Bevölkerung.51 Insofern hat das Element des Stolzes auf besonders alte Wurzeln und Traditionen, das bis heute in der nationalen Selbstidentifizierung der Basken lebendig geblieben ist, einen historischen Kern. Die verwandtschaftliche Beziehung zwischen Baskisch und Aquitanisch ist noch nicht endgültig geklärt. Das Aquitanische ist vielleicht ein später ausgestorbener Dialekt des Baskischen. Es kann sich beim Aquitanischen allerdings auch um eine entwicklungsmässig ältere Vorstufe des jüngeren Baskisch handeln. Einiges spricht für die letztere Annahme.
Seit dem Ende der Antike ist die baskische Population in einem Prozess stetiger Schrumpfung begriffen, was bedeutet, dass sich einerseits das Verbreitungsgebiet des Baskischen beständig verkleinert und dass andererseits die Zahl der Baskisch-Sprachigen ständig zurückgeht. Es wäre allerdings voreilig, ein Ableben des Baskischen vorherzusagen. Vor zweihundert Jahren hat sich der deutsche Forscher Wilhelm von Humboldt (1767–1835), der Begründer der wissenschaftlichen Studien zum Baskischen, skeptisch über die Zukunft dieser Sprache geäußert. Humboldt prophezeite das Aussterben des Baskischen bis 1900 und hat sich gründlich geirrt. Heute, über hundert Jahre nach dem vermuteten baskischen "Verfallsdatum", reden nur die Panikmacher vom Aussterben.
Die Manipulation der Sprachenvielfalt Europas im Kult der Nationalsprachen
Die Europäer haben seit jeher im Bewusstsein der Vielfalt ihrer Sprachen und Kulturen gelebt. Es konnte angesichts des konkreten Erlebens von Sprachbarrieren nicht ausbleiben, dass diese auch in das Blickfeld politisch-staatlicher Interessen rückten. Die Sprachenvielfalt der Europäer ist seit dem Mittelalter in ihrem Verhältnis zu den Gemeinschaften ihrer Sprecher thematisiert worden. Isidor von Sevilla (ca. 560–636), den man auch den "Schulmeister" des mittelalterlichen Europas genannt hat, stellte fest: "Die Völker sind aus den verschiedenen Sprachen entstanden, nicht die Sprachen aus den verschiedenen Völkern".52 Hier liegt der Keim für den späteren Diskurs über das Verhältnis der Sprachen und Völker. Der mittelalterliche Begriff der gens wurde transponiert in den der Nation, und die wurde schon früh in ihrer Sprachgebundenheit verstanden.
Bis heute weit verbreitet sind Vorstellungen, wonach die Geschichte der Nationalsprachen in Europa im 18. Jahrhundert als eine der Strömungen der Aufklärung einsetzt, erste Blüten im Nationalsprachenkult treibt und im 19. Jahrhundert ihre Politisierung in der Nationalstaatenideologie erlebt. Solche Auffassungen sind dringend revisionsbedürftig. Die geistige Vorbereitung auf die Nationalisierung der europäischen Sprachkulturen beginnt schon Jahrhunderte vor den aufklärerischen Erörterungen über den Eigenwert von Geschichte und Sprache eines Volkes. Zudem beschränkt sich die Rolle der Nationalsprachen nicht auf ihren kommunikativen Aspekt, sondern dehnt sich weit aus in den Bereich der kulturellen Identitätsfindung ihrer Sprecher.53
Eine frühe Politisierung des Nationalsprachenkonzepts ist charakteristisch für die Länder an den Peripherien Europas, für Russland im Osten und für Spanien im Westen. Die Ablösung der russischen Fürstentümer von der Vorherrschaft der Tataren, die als Verbündete der Mongolen deren politische Interessen in Osteuropa wahrnahmen, blieb dem Fürstentum Moskau als Führungsmacht vorbehalten. In der Zeit zwischen 1380 und 1480 erhoben sich die russischen Vasallen wiederholt gegen die Tataren und schüttelten deren politische Kontrolle über Russland endgültig ab. In jener Periode stieg Moskau zur Schutzmacht aller Russen auf, und die christliche Mission, die der Moskowiterstaat erfüllte, stand im Zeichen der "Vereinigung der russischen Länder" (russ. obъedinenie russkich zemel').54 Das Russentum wurde damals schon – wie später im Zarenreich auch – definiert als die Menschen, die Russisch sprachen und Christen waren. Die Grenzen der vereinigten russischen Länder deckten sich im Idealfall mit dem Verbreitungsgebiet russischer Siedlungen. Allerdings war Russland bereits während der Periode der Sammlung der russischen Länder multikulturell und vielsprachig, denn viele Russen siedelten damals schon in Gegenden mit finnisch-ugrischer Bevölkerung.
Sprache und Religion wurden auch zu Kernsymbolen der Nationalstaatbildung an der westlichen Peripherie Europas, auf der Pyrenäenhalbinsel. Jahrhunderte lang waren die Auseinandersetzungen zwischen den maurischen Herrschern, die lange Zeit den größten Teil Spaniens kontrollierten, und den christlichen Königreichen des Nordens weltanschaulicher Natur. Die Christen Spaniens standen stellvertretend für die Christenheit Europas gegen den Islam und drängten die Muslime in der reconquista immer weiter nach Süden ab. Im Jahr 1492 schließlich gelang es den vereinigten Königreichen Kastilien und Aragón, die Mauren von Granada zu besiegen. Damit endete die Ära der arabischen Präsenz im Westen Europas.
Dem Glaubensmonopol der römisch-katholischen Kirche war bereits vor dem Sieg über die Araber auch ein sprachliches Monopol zur Seite gestellt worden. Das Kastilische hatte sämtliche regionalen Schriftsprachen verdrängt, und im Jahr 1479 ersetzte es auch das Katalanische in dessen Funktion als Amts- und Kanzleisprache in Aragón. Der junge spanische Nationalstaat führte auch die ersten ethnischen Säuberungen der Neuzeit durch, die in den Massenvertreibungen der sephardischen Juden gipfelten. Damit gesellte sich ein drittes Monopol zu den beiden anderen: die "Reinheit des Blutes" (spanisch: pureza de sangre).55 Die Wurzeln des europäischen Rassismus sind in jener Auseinandersetzung zwischen den Weltanschauungen in Spanien zu suchen.
Konfliktreich war auch die Geschichte des Aufstiegs des Französischen zur Nationalsprache Frankreichs. Dies war ein äußerst komplexer Prozess, wobei die Monopolisierung des Sprachgebrauchs durch das Französische (d.h. die nordfranzösische Variante des Romanischen, die langue d'oïl) auf zwei verschiedenen Bahnen verlief. Zum einen löste das Franzische (Sprachform der Region von Paris) die landschaftlichen Literatur- und Amtssprachen in Nordfrankreich ab. Entscheidend für die Monopolstellung des Französischen war aber die Verdrängung der in Südfrankreich verbreiteten Kultursprache, des Occitanischen (langue d'oc). In mehreren Sprachverordnungen wurde der ausschließliche Gebrauch des Französischen als einheitliche Sprache Frankreichs festgeschrieben, von denen die Ordonnance de Villers-Cotterêts aus dem Jahr 1539 die Monopolisierung besiegelt. Im Text heißt es zum Sprachgebrauch: "... en langaige maternel françois et non autrement" ("in der französischen Muttersprache, und nicht anders").
In der traditionellen europäischen Geschichtsbetrachtung werden Perioden nach bestimmten auffälligen Hauptaugenmerken benannt. Das Zeitalter der konfessionellen Auseinandersetzungen im 16. Jahrhundert wird bis heute das "Zeitalter der Glaubenskriege" genannt. Die Kollision der protestantischen mit der katholischen Werteordnung brachte aber weit mehr hervor als eine Teilung Europas in eine traditionell katholische und eine neue protestantische Einflusssphäre. Die Förderung der Volkssprachen als Medien biblischer Texte durch die Protestanten erweiterte das Kaleidoskop der in Europa verbreiteten Schriftsprachen und leistete einer frühen Nationalisierung der Schriftkulturen Vorschub. Die Anhänger der neuen Lehre fanden von nun an ihre religiös-kulturelle Identität in ihrer Muttersprache, in einer der zahlreichen Regionalsprachen.
Für viele Sprachkulturen war diese Aufwertung ihres Eigenwerts eine solide Basis, auf die sich die Idee nationalsprachlicher Identitätsstiftung späterer Zeit gründen konnte, wie für die nordischen Sprachen, das Finnische, Estnische und die baltischen Sprachen. Die katholische Kirche richtete sich anfänglich vehement gegen die Demontage der Monopolstellung des Lateinischen als Universalsprache des Christentums und die "Profanisierung" biblischer Texte durch ihre Übersetzung in Volkssprachen. Es sollte aber kaum eine Generation nach dem Druck der ersten Wittenberger Vollbibel (1534) in Martin Luthers (1483–1546) deutscher Übersetzung dauern, bis die Katholiken nachzogen. 1561 erschien die erste vollständige Bibelausgabe in polnischer Sprache.
Der entscheidende Schritt in Richtung auf eine Ausweitung der Pflege und Wertschätzung der Muttersprache brachte die Aufklärung im 18. Jahrhundert, deren Vertreter – soweit sie sich mit Sprache befassten – den Aspekt der Gemeinschaftsbildung durch Sprache sowie deren Historizität rationalisierten. Deutsche Aufklärer wie Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) oder Johann Gottfried Herder (1744–1803) und französische Denker wie Denis Diderot (1713–1784) oder Jean-Baptiste le Rond d'Alembert (1717–1783) ebneten mit ihren Ideen den Weg für eine Verknüpfung der Sprache mit ihren Sprechern als einer sich durch ihr Kulturschaffen verwirklichenden Gemeinschaft. Die Französische Revolution von 1789 trug das Ihre dazu bei, die Grundidee vom Kulturwert der Muttersprache für die Gemeinschaftsbildung auf die ihre politischen Rechte einfordernde Gesellschaft auszudehnen. Als das einigende Band der Nation, deren Mitglieder sich in politischer Selbstverwirklichung aktiv dazu bekennen, wurde damals die Sprache postuliert.
Als Franzosen wurden nur die Bewohner Frankreichs angesehen, deren Muttersprache das Französische war. Die Sprecher von Minderheitensprachen wie Bretonisch, Baskisch, Occitanisch oder Deutsch (im Elsass) waren "unsichere Kantonisten" und ihnen wurde auch kein Stimmrecht zugestanden, als es um den Volksentscheid über die Gründung der Republik ging. Die französische Sprache wurde als nationales Symbol des Franzosentums konzipiert und als Kommunikationsmedium mit exklusiven öffentlichen Funktionen in der Gesellschaft Frankreichs deklariert. Damit wurde einerseits die Idee von der Sprache als wesentliches Kennzeichen der Nation (= Sprachnation) festgeschrieben, andererseits ein Staat aufgebaut, in dem rund ein Drittel der Bevölkerung eine andere Sprache als Französisch als Muttersprache hatte.
Das Ideengut der Französischen Revolution beinhaltet insofern zwei Kernbegriffe: Die Verknüpfung der Sprache mit dem Konzept der politisch bewussten Nation (= Sprachnation) und die Verknüpfung des Staatsgedankens mit dem der Nation (= Staatsnation nach dem etatistischen Prinzip). Die Idee der sprachgebundenen Nation koexistierte seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mit der Realität Frankreichs als Staatsnation.56
Unter dem Eindruck des Widerstandes gegen die Hegemonie Napoleons wurde die Richtung festgelegt, in der die Vertreter der intellektuellen Elite (der "Deutschen Romantik" zu Beginn des 19. Jahrhunderts) im deutschen Sprachraum die politische Verwirklichung ihrer Nation suchten. Sie träumten von der Schaffung eines Einheitsstaates, in dem jeder Bürger ein Deutscher, also ein Mitglied der deutschen Sprachgemeinschaft, wäre. Eine weitere, vom Standpunkt der Demographie Europas utopische Forderung war, dass jeder, der als Muttersprache Deutsch hatte, Bürger des deutschen Nationalstaats sein sollte. Otto von Bismarck (1815–1898) instrumentalisierte diese Bestrebungen in mehreren Kriegen des mächtigsten deutschen Teilstaats, Preußens, gegen Dänemark (1864), gegen Österreich und Bayern (1866) und gegen Frankreich (1870–1871). Dennoch blieb das Endergebnis der nationalen Staatsbildung weit hinter den Idealen zurück. Das Deutsche Kaiserreich von 1871 vereinigte bei Weitem nicht alle Deutsch-Sprachigen in seinen Grenzen. Die politische Lösung war ein Kompromiss, denn "the 1871 Empire stood halfway between a Prussian dynastic and a modern nation-state".57 Um die Grenzkorrekturen wurden weitere Kriege mit verheerenden Folgen geführt, nämlich der Erste und der Zweite Weltkrieg.
Die nationale Einigung Italiens war den gleichen Maximen verpflichtet wie die deutsche nationale Bewegung. Als einigendes Band der italienischen Nation wurde deren Sprache betrachtet, und Italiener zu sein hieß, italienische Sprachkultur zu pflegen. Dabei war die italienische Standardsprache auf toskanischer Basis vielen Italienern zunächst fremd, denn die Regionen Italiens hatten bis zur politischen Einigung des Landes im Jahr 1861 ihre Regionalsprachen (Napolitanisch, Venezianisch, Piemontesisch, Lombardisch u.a.) gepflegt, und die Wertschätzung der Regionalsprachen ist bis heute vital geblieben.58
Die kleineren Sprachnationen Europas erschienen mit zeitlicher Verzögerung auf der politischen Bühne. Wie im Fall der großen Nationen waren auch die kleineren Sprachnationen bei ihren Bestrebungen zur Schaffung von Nationalstaaten in Kriege verwickelt, so wie Griechenland, Serbien und Bulgarien im 19. Jahrhundert, ferner Finnland, Estland, Litauen und Lettland im 20. Jahrhundert.59 Die Auflösung des alten Jugoslawien in den 1990er Jahren hat uns erneut vor Augen geführt, dass Nationalstaaten, die sich auf Sprachgemeinschaften gründen, bis heute aus Kriegen entstehen: Slowenien (1991), Kroatien (1991), Bosnien-Herzegowina (1991–1995), Kosovo (1999 bzw. 2008).
Die Entwicklung des Irischen als Nationalsprache Irlands weicht markant von den anderen Fällen einer Verwirklichung der politischen Sprachnation ab. Zur Zeit der Gründung der Republik Irland (1937) hatte das Irische beim größten Teil der Bevölkerung, die sich ans Englische assimiliert hatte, nur mehr symbolischen Wert. Die meisten der heute rund eine Million Sprecher des Irischen haben die Sprache in der Schule gelernt.
Ausblick
Trotz der Auswüchse der Nationalstaatsideologie, die als politische Interessenvertretung der Sprachnationen so häufig Konflikte über die Synchronisierung politisch-territorialer mit sprachlichen Grenzen auslöste und Zündstoff für kriegerische Auseinandersetzungen lieferte, haben auch die kleineren Nationalsprachen Europas – jede mit ihrer eigenen Geschichte von Fortschritten und Rückschlägen – seit dem 19. Jahrhundert eine kontinuierliche Aufwertung ihres politischen Status erlebt, die heutzutage im Bewusstsein einer allgemeinen Anerkennung des kulturellen Eigenwerts der Regionalsprachen europaweit (wie in der "Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen" des Europarats von 1992) und auch mit globaler Verbreitung (wie in der UNESCO-Konvention zum Schutz von Regionalkulturen und -sprachen von 2005) ihre ideelle Resonanz findet.
Über die Schulausbildung in den Staaten mit multinationaler Bevölkerung – dies gilt für die allermeisten Staaten Europas – wird der Minorität die Sprache der Majorität als Zweitsprache vermittelt, falls diese nicht schon im außerschulischen Milieu gelernt wird. Über ihre Zweisprachigkeit wird das kommunikative Potential der Europäer vernetzt. Gleichzeitig wird damit auch die Verbindung zwischen der Heimkultur, in der die sprachliche Identität des Individuums verankert ist, und einem Sprachmedium mit überregionaler Verbreitung geschaffen. Beispielsweise ist bis heute bei vielen Bürgern der modernen Anrainerstaaten Russlands (Lettland, Ukraine u.a.) – trotz ihrer Eigenstaatlichkeit und der Aufwertung der Nationalsprachen als Staatssprachen – das kommunikative Kapital russischer Sprachkenntnisse bewahrt worden, die während der Sowjet-Ära von den nicht-russischen Sowjetvölkern erworben wurden.
In der Netzwerkgesellschaft unserer Zeit ist eine bestimmte Variante von Zweisprachigkeit zum kommunikativen Haupttyp aufgestiegen, die nationalsprachlich-englische Zweisprachigkeit, mit einer nationalen Sprachkomponente als Primärsprache (z.B. Deutsch, Spanisch, Schwedisch, Russisch) und dem Englischen als Zweitsprache, und die Funktionen der globalen Sprachkomponente rangieren von der mündlichen Interaktion bis hin zur virtuellen Kommunikation der digitalen Literalität (Internet, E-Mail und andere elektronische Medien). Die virtuelle Kommunikation erweitert sich in einigen Regionen Europas zu einer dreigliedrigen Konstellation (z.B. Katalanisch-Spanisch-Englisch; Tatarisch-Russisch-Englisch; Saamisch-Finnisch-Englisch).
Wer mit sprachlicher Vielfalt lebt – sei es in multilingualen Kontaktzonen, sei es im urbanen Milieu einer Interaktion zwischen einheimischen "Alteuropäern" und zugewanderten "Neueuropäern", sei es auf der Ebene der Europäischen Union mit ihren mehr als 20 Amtssprachen –, wird in der einen oder anderen Weise mit dem Konzept einer europäischen Identität konfrontiert. Vielfach wird angenommen, die europäische Identität sei ein Substitut für existente national-sprachliche Identitäten. Die einen lehnen die Idee einer europäischen Identität deshalb ab, und die anderen befürworten sie mit der Maßgabe, dass damit Formen traditioneller Identitätsfindung überwunden werden. Beide Standpunkte sind extrem verzerrt, denn das Konzept einer europäischen Identität ist weitaus vielschichtiger als die Idee eines europäischen Kulturverschnitts.60