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Migration und Diaspora
Migration ist ein konstitutives Element der Geschichte von Diaspora-Bevölkerungen (Diaspora: griechisch für "Zerstreuung") und eng verknüpft mit dem kontinuierlichen Austausch von Ideen und Gütern zwischen verschiedenen Zentren und Subzentren, vielfach über große Distanzen und zwischen unterschiedlichen Kulturräumen. Schon in vorchristlicher Zeit entwickelten sich innerhalb der jüdischen Diaspora eigenständige Subzentren in weit voneinander entfernten Regionen. Der Historiker Jonathan Israel hat für die kontinuierliche Bildung von neuen Zentren den Begriff von "Diasporas innerhalb einer Diaspora" geprägt. Er bezieht sich damit auf Gemeinden, die aus Spanien vertriebene Juden im sechzehnten Jahrhundert auf beiden Seiten des Atlantiks gründeten. Die atlantischen Gemeinden waren weit verstreut und äußerst vielfältig, aber sie repräsentierten nur einen sehr kleinen Teil der sich vor allem im Maghreb und Osmanischen Reich ausbreitenden sephardischen Diaspora. Der an sich korrektere Begriff für diese Untergruppe wäre also "Diasporas innerhalb der (sephardischen) Diaspora innerhalb der (allgemeinen jüdischen) Diaspora".1
Die jüdische Diaspora ist nur eine von mehreren "historischen Diasporas" wie der chinesischen oder der armenischen, deren Wurzeln sich mindestens bis in das erste Jahrtausend zurückverfolgen lassen. Keine historische Diaspora weist einen so hohen Grad an kultureller Vielfalt und Dynamik auf wie die jüdische. Die Begegnung von Juden aus unterschiedlich verfassten Subzentren der Diaspora, fast immer in Folge von Migrationsprozessen, ist einer der faszinierendsten Aspekte der jüdischen Geschichte. In der Regel trafen jüdische Neuzuwanderer auf relativ etablierte jüdische Gemeinschaften – ein Muster, das sich auch für andere Diaspora-Bevölkerungen feststellen lässt. Hinter Konflikten zwischen "Etablierten und Außenseitern" über soziale Inklusion stehen indes nur an der Oberfläche kulturelle Unterschiede. Im Kern geht es um die Umverteilung von sozialer Macht in einer sich erweiternden Gemeinde.2
Die Angehörigen von transterritorialen Diaspora-Bevölkerungen spielen traditionell eine wichtige Rolle als interkulturelle Mittler, häufig im Zusammenspiel mit Mitgliedern anderer Diasporas. In ihrer jeweiligen Gastgesellschaft bilden sie in der Regel eine kleine und exponierte Minderheit, deren Wohlergehen von der Interaktion mit anderen Gruppen, rechtlicher Sicherheit, politischer Stabilität und günstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängt. Sie besetzen wirtschaftliche Nischen überwiegend im urbanen Kontext, besitzen interkulturelle Kompetenz und häufig einen hohen Grad an Mobilität. Die Aufrechterhaltung kultureller Differenz ist Voraussetzung für die Integrität der Diaspora-Gemeinde und ihre Funktion als Mittlerin zwischen verschiedenen Kulturen. Streng religiös definierte Gebote wie Ernährungsvorschriften oder das Verbot von Mischehen sichern den Erhalt der Gemeinde über mehrere Generationen.3
In den fünfhundert Jahren zwischen 1450 und 1950 kam es in ganz Europa zu gewaltigen Bevölkerungsverschiebungen, die insbesondere in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine völlig neue Qualität und Dimension erreichten. Obwohl Juden eine sehr kleine Minderheit der Bevölkerung in Europa bildeten, lebten sie in verschiedenen Teilen des Kontinents und beteiligten sich schon im sechzehnten Jahrhundert am Überseehandel und an der Kolonialisierung der Neuen Welt. Daher eröffnet das Studium der jüdischen Migrationsgeschichte eine umfassende Perspektive auf das komplexe europäische (und globale) Wanderungsgeschehen nach 1500.
Ob jüdische Migrationen "normale" oder außergewöhnliche Prozesse waren, wird bis heute kontrovers diskutiert. Ebenso einflussreich wie suggestiv bleibt die These, dass antijüdische Verfolgungen und Vertreibungen die eigentliche Ursache jüdischer Migrationen nach (und auch vor) 1492 gewesen seien.4 Kritiker halten dagegen, dass Migration, einschließlich gewaltsamer Vertreibungen, in der Menschheitsgeschichte der Normalfall sei, und dass jüdische Geschichte nicht von ihrem jeweiligen Kontext losgelöst gedeutet werden könne. Der jüdische Sozialhistoriker Salo Baron (1895–1989) distanzierte sich 1928 ausdrücklich von der "lachrymosen" Darstellung jüdischer Geschichte vor 1800, die auf Diskriminierung und Verfolgung abhebt und Juden auf eine passive Opferrolle reduziert: "It is, then, not surprising and certainly no evidence of discrimination that the Jews did not have 'equal rights' – no one had them."5 Der russisch-jüdische Demograph und Migrationsforscher Eugene Kulischer (1881–1956) warnte ausdrücklich davor, Migration als einen spezifisch jüdischen Habitus zu deuten. Eine solche Einordnung könnte weit verbreiteten antijüdischen Vorurteilen Vorschub leisten, nicht zuletzt der in der christlichen Tradition tief verwurzelten Vorstellung des zur immerwährenden Wanderung verdammten "Ewigen Juden" ("Wandering Jew" bzw. "Juif Errant").6
Die Normalisierungsthese hat unter den Vertretern der allgemeinen und auch der neueren jüdischen Geschichte seit den 1960er Jahren an Einfluss gewonnen. Die Migrationen von Juden und ihrer christlichen und muslimischen Nachbarn waren tatsächlich häufig eng miteinander verflochten, und wirtschaftliche Faktoren waren für jüdische Migrationen in der Regel ausschlaggebend.7 Für die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts stößt dieser Ansatz indes an seine Grenzen. Die Vertreibungen während und nach dem Ersten Weltkrieg in Osteuropa und insbesondere die systematische "Umsiedlungs-" und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten richteten sich spezifisch gegen Juden und hatten allenfalls sekundär wirtschaftliche Beweggründe. Festzuhalten bleibt, dass die Diskussion über Motive von jüdischen Migranten, unabhängig von der jeweiligen historiographischen Position, eine differenziertere Bewertung jüdischer Migrationsprozesse und eine stärkere Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes bewirkt hat.
Jüdische Migrationen zwischen 1450 und 1950 lassen sich in drei aufeinander folgende Zeiträume unterteilen, die sich an zentralen Daten der allgemeinen Geschichte orientieren:
1492–1789: Vertreibung aus Spanien und Aufstieg der osteuropäischen Diaspora
1789–1914: Massenmigration aus Osteuropa und "Metropolisierung"
1914–1948: Vertreibung, Shoah und die Gründung Israels
1492–1789: Vertreibung aus Spanien und Aufstieg der osteuropäischen Diaspora
Um 1450 hatten sich drei eigenständige und kulturell sehr unterschiedliche "Diasporas in einer Diaspora" etabliert. Innerhalb dieser jüdischen Subzentren fand ein reger Austausch statt. Das bedeutendste Zentrum befand sich auf der iberischen Halbinsel. Hier hatte sich unter muslimischer Herrschaft im Mittelalter eine blühende jüdische Kultur (Sephard) entwickelt. In Mitteleuropa (Aschkenas), dem zweiten Zentrum, lebten deutlich weniger Juden – teilweise seit dem ersten Jahrhundert aber weit verstreut über eine große Region. Nach brutalen Verfolgungen während der Kreuzzüge und der Vertreibung aus den meisten Territorien im Westen des Kontinents im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert häuften sich um 1450 in weiten Teilen des Heiligen Römischen Reiches gewaltsame Ausschreitungen und Vertreibungen. Das dritte und älteste Zentrum befand sich in den muslimischen Metropolen und Hafenstädten im Vorderen Orient und Persien. Kleinere, relativ isolierte Gemeinden existierten im Süden der arabischen Halbinsel, in Mittelasien, und sogar an der Westküste des indischen Subkontinents.8
Wachsende Verfolgung und wirtschaftliche Not erklären, warum sich das aschkenasische Zentrum im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert schrittweise von Mitteleuropa nach Polen-Litauen und nach Südosteuropa in Gebiete unter osmanischer Herrschaft verlagerte. In Polen-Litauen standen Juden unter den Schutz der Krone und fanden vergleichsweise günstige Lebens- und Arbeitsbedingungen vor. Die jüdischen Zuwanderer siedelten in kleineren und größeren Städten im Gebiet der heutigen Staaten Lettland, Litauen, Weißrussland, Polen, Moldawien, Rumänien, und dem Westteil der Ukraine. Innerhalb weniger Jahrzehnte entstand hier der bald größte und einflussreichste Schwerpunkt der jüdischen Diaspora. Kleinere Gruppen aschkenasischer Juden migrierten auch nach Südosteuropa in Regionen im heutigen Rumänien und Bulgarien, die im fünfzehnten Jahrhundert an das Osmanische Reich fielen. Muslimische Herrscher räumten Juden (und Christen) in der Regel einen Sonderstatus (Dhimmi) ein. Das bedeutete Beschränkungen wie etwa eine höhere Steuerlast, aber auch das Recht auf Ausübung der Religion, Rechtssicherheit und Handelsprivilegien.9
Der Aufstieg Osteuropas als neues Hauptzentrum der Diaspora fiel zusammen mit dem dramatischen Niedergang des spanischen Zentrums. Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts lebten die meisten spanischen Juden schon seit mehreren Generationen unter christlicher Herrschaft. Im Gegensatz zu Muslimen wurden Juden zunächst als Andersgläubige toleriert; kleinere Gruppen migrierten schon in dieser Zeit nach Nordafrika. Doch seit Ende des vierzehnten Jahrhunderts wurden immer mehr Juden gezwungen zum Christentum überzutreten, andere konvertierten freiwillig. Nicht wenige der so genannten Conversos praktizierten ihr Judentum im Verborgenen. Mit dem Auftakt der 1478 einsetzenden Inquisition erreichte die antijüdische Gewalt eine neue Qualität. Die Eroberung von Granada im Jahr 1492, der letzten spanischen Stadt unter muslimischer Herrschaft, bedeutete den Abschluss der Reconquista. Im gleichen Jahr ordnete das Herrscherpaar Isabella I. (1451–1504) und Ferdinand II. (1452–1526) die Vertreibung aller Juden aus Spanien an. Das spanische Vertreibungsedikt erstreckte sich auch auf Süditalien und Sizilien. Die einzige Alternative zur Flucht war die Konversion zum Christentum.10
Portugal, der buchstäblich naheliegendste Zufluchtsort, erließ unter spanischem Druck 1497 ein ähnliches Dekret, das jedoch zunächst nicht sehr streng ausgelegt wurde. Der Großteil der sephardischen Juden flüchtete nach Nordafrika. Die Mehrheit siedelte in einem über mehrere Generationen andauernden Wanderungsprozess rund um das Mittelmeer, von Marokko im Westen bis zur kleinasiatischen Küste, dem heutigen Nordgriechenland, Bosnien und Bulgarien. Sephardische Juden gründeten zahlreiche prosperierende Gemeinden. Im Handel mit Gewürzen und Tuchen aus Südasien übernahmen sephardische Kaufleute im Mittelmeerraum eine lukrative Mittler-Rolle zwischen muslimisch und christlich beherrschten Territorien. In einigen Städten wie Salonica (Thessaloniki) repräsentierten sie einen signifikanten Teil der Bevölkerung.11
Im östlichen Mittelmeer, in Südosteuropa und Norditalien trafen die sephardischen Juden auf Mitglieder der orientalischen und aschkenasischen Diaspora. Auch wenn sie von außen vielfach als Einheit wahrgenommen und behandelt wurden, fiel es den Mitgliedern der jeweiligen Gruppen häufig schwer, religiöse und kulturelle Unterschiede zu überbrücken. In der florierenden Handelsrepublik Venedig kamen Mitglieder aller drei Gruppen zusammen. Die Errichtung des Ghettos im Jahre 1516 illustriert die formelle Anerkennung von Juden als eigenständigen Akteuren im transmediterranen Handelsnetz von Venedig. Das Ghetto ist lange als Symbol für die Separierung und formelle Diskriminierung von Juden gedeutet worden. Neuere Forschungen zeigen jedoch ein differenzierteres Bild. Nach den willkürlichen Verfolgungen und Vertreibungen im späten Mittelalter war das Ghetto eher ein rechtlich verbrieftes Zugeständnis an jüdische Gemeinden. Juden wurden als Teil der städtischen Wirtschaft formell zugelassen, blieben aber von der städtischen Gesellschaft demonstrativ getrennt. Das Ghetto garantierte Juden auch ein hohes Maß an kultureller Autonomie – in einem klar demarkierten Raum, aber innerhalb der Stadtmauern.12
Während die meisten sephardischen Flüchtlinge und ihre Nachkommen im Maghreb und im östlichen Mittelmeer eine neue Heimat fanden, entstanden in Nordwesteuropa und in der Neuen Welt zwei weitere Zentren. Beide verdankten ihren Aufstieg dem Entgegenkommen protestantischer Herrscher und attraktiven wirtschaftlichen Bedingungen. In Amsterdam etablierte sich im späten sechzehnten Jahrhundert eine bald einflussreiche sephardische Gemeinde, deren Mitglieder überwiegend Conversos aus Portugal waren. Aufgrund vielfältiger Kontakte öffneten sephardische Juden der Amsterdamer Kaufmannschaft das Tor zum lukrativen Handel mit den spanischen und portugiesischen Kolonien in Südamerika. Kleinere, mit Amsterdam vernetzte Gemeinden entstanden auch in Bordeaux, Altona, London und teilweise noch früher auf der westlichen Seite des Atlantiks.13
Weitverzweigte sephardische Familiennetzwerke beteiligten sich erfolgreich an der Erschließung der Neuen Welt. Entgegen weit verbreiteten Vorurteilen waren jedoch nur wenige Juden in den transatlantischen Sklavenhandel involviert. Nach der Eroberung der holländischen Kolonie Recife (Brasilien) durch portugiesische Truppen traten 23 Juden 1654 die Reise nach Neu-Amsterdam (ab 1664 New York) an, wo sie ihr Recht auf Ansiedlung erfolgreich durchsetzten und die erste jüdische Gemeinde in Nordamerika gründeten. Im siebzehnten Jahrhundert migrierten die ersten aschkenasischen Juden nach Amsterdam und in die Neue Welt. Während einzelne Zuwanderer in New York und Philadelphia relativ schnell in bestehende sephardische Gemeinden aufgenommen wurden, stießen sie (auch aufgrund ihrer größeren Zahl) in der Amsterdamer Gemeinde auf deutliche Ablehnung und bildeten lange eine separate Gruppe.14
Im Rückblick besitzt das Datum 1492 vor allem für amerikanische Juden eine hohe symbolische Bedeutung. In der Katastrophe der Vertreibung eröffnete sich mit der Entdeckung Amerikas eine neue Perspektive der Freiheit. Doch die Vertreibung aus der kulturellen Heimat und die weite Ausbreitung der Subdiaspora führten zum langfristigen Verlust der kulturellen und religiösen Eigenständigkeit der Sephardim.
Das dichter vernetzte aschkenasische Zentrum in Osteuropa dagegen erlebte im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert eine Blütephase und ersetzte Spanien als das bevölkerungsreichste und kulturell bestimmende Zentrum der Diaspora. Doch erst Mitte des achtzehnten Jahrhunderts überstieg die Zahl aschkenasischer Juden die der sephardischen und orientalischen Juden. Juden genossen in Polen-Litauen ein vergleichsweise hohes Maß an Autonomie, das seinen Ausdruck im Vier-Länder-Sejm fand. Die wichtigsten Gemeinden entsandten Vertreter in dieses regelmäßig tagende Protoparlament der polnischen Judenheit.15
Während der Westfälische Friede im Jahr 1648 in Mittel- und Westeuropa eine Phase (relativer) politischer Stabilität einläutete, steht das gleiche Jahr in der osteuropäischen Geschichte für den Beginn einer lang anhaltenden Krise. Der 1648 von Bohdan Chmelniecki (1595–1657) angeführte Kosakenaufstand gegen die polnische Krone erschütterte die jüdische Subdiaspora in Osteuropa schwer und löste eine massive Flüchtlingswelle innerhalb Osteuropas aus. Die Unruhen schwächten die Macht der Krone und setzten jüdische Gemeinden wachsender Gefahr aus. Vor dem Hintergrund der politischen und wirtschaftlichen Krise wird die Anziehungskraft eines Shabtai Zvi (1626–1676) [] verständlich, der als "Messias" Mitte des siebzehnten Jahrhunderts zehntausende Anhänger in seinen Bann und buchstäblich mit sich zog. Der Aufstieg des Chassidismus Mitte des achtzehnten Jahrhunderts im Gebiet der heutigen Westukraine war eine Reaktion auf die Legitimationskrise des traditionellen Judentums. Im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts verlor Polen seine politische Selbständigkeit und wurde von Preußen, Österreich und Russland aufgeteilt .16
Schon im siebzehnten Jahrhundert setzte eine jüdische Ost-West-Wanderung ein, die vor allem wirtschaftliche Ursachen hatte. Vor dem frühen neunzehnten Jahrhundert umfasste diese Migration nur einige hundert Personen im Jahr. Neben zum Teil sehr wohlhabenden jüdischen Kaufleuten aus Polen, die regelmäßig die Leipziger Messe besuchten, erhofften sich ärmere Juden im Westen bessere Chancen. Doch Ansiedlungsrestriktionen, die ablehnende Haltung etablierter Gemeinden wie in Amsterdam und die mit einer langen Reise verbundenen Kosten und Gefahren erklären, warum nur einzelne Juden den Weg nach Mittel- und Westeuropa oder sogar in die Neue Welt fanden. Gleichzeitig zogen junge Männer aus Mitteleuropa noch bis in das neunzehnte Jahrhundert an osteuropäische Yeshivot (Talmudhochschulen), um bei hoch angesehenen Rabbinern den Talmud zu studieren.17
Das Jahr 1789 stellt im Rückblick einen entscheidenden Einschnitt dar. Die Ideale der Französischen Revolution waren für die meisten Juden in Europa durchaus ambivalent. Die Vision von Freiheit und Gleichheit eröffnete Juden (und Christen) als Individuen ungeahnte Möglichkeiten. Aber das Projekt der Emanzipation stellte den Kern jüdischer Gemeinschaft und der Diaspora in Frage, die jüdische Gemeinde (Kehillah). Die Erosion der Autonomie bedrohte die kulturelle Differenz jüdischer Diaspora-Gemeinden.18
1789–1914: Massenmigration aus Osteuropa und "Metropolisierung"
Das lange neunzehnte Jahrhundert war ein Jahrhundert der Bewegung. Millionen von Europäern und Asiaten verließen ihre Heimat und zogen in nahe gelegene Städte oder ferne Kontinente. Globalisierende Märkte und technische Innovation ermöglichten immer mehr Menschen die sichere Reise über immer größere Distanzen in immer kürzerer Zeit. Wanderungsbeschränkungen verloren bald nach 1800 an Einfluss oder wurden schlicht ignoriert. Zielländer wie die Vereinigten Staaten warben um europäische Siedler. Zwischen 1850 und 1900 sank die durchschnittliche Reisezeit von einem Dorf in Mitteleuropa zu jedem Ort in Nordamerika, der an das Eisenbahnnetz angeschlossen war, von mehreren Monaten auf weniger als drei Wochen. Die großen Ozeanliner, die ihre Jungfernfahrten bald nach 1880 antraten, überquerten den Atlantik in einer knappen Woche. Plötzlich lag "Amerika" buchstäblich vor der Haustür, und die Reise war selbst für einfache Leute erschwinglich geworden. Die antijüdischen Pogrome im Russischen Reich im Jahr 1881 gaben für manche Juden den Ausschlag, ihre Heimat zu verlassen, auch wenn wirtschaftliche Faktoren letztlich entscheidend waren. Aber das sich rapide nach Osten ausbreitende Eisenbahnnetz machte die jüdische Massenmigration aus Osteuropa erst möglich.19
Seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts nahm die Bevölkerung in Europa stark zu. 1870 war die Zahl der Juden in verschiedenen Regionen im Russischen und im Österreichisch-Ungarischen Reich und in Südosteuropa auf vier Millionen angewachsen; die meisten lebten in kleinen Städten, den so genannten Shtetlach. Sie repräsentierten mehr als zwei Drittel der jüdischen Weltbevölkerung. Deutschland, die größte Gemeinde außerhalb von Osteuropa, beherbergte rund 450.000 Juden. Hier hatten sich in einigen Städten wie Frankfurt am Main oder Fürth und in ländlichen Regionen wie Franken jüdische Gemeinden seit dem Mittelalter halten können. Die relativ hohe Zahl war eine Folge natürlichen Wachstums und der preußischen Annexion von polnischen Gebieten wie dem Großherzogtum Posen im späten achtzehnten Jahrhundert. Die teilweise noch von sephardischen Juden dominierten Gemeinden in Westeuropa, im Mittelmeerraum, im Orient und in den Vereinigten Staaten waren deutlich kleiner.20
In Westeuropa wurden die meisten Juden in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts emanzipiert. In Deutschland kam die Emanzipation erst mit der Reichsgründung 1871 zum Abschluss. In den Vereinigten Staaten genossen jüdische Männer wie alle anderen weißen Amerikaner spätestens nach der Ratifizierung der Verfassung 1790 auf Bundesebene die vollen Bürgerrechte. Daher nahmen Juden ebenso wie christliche Landbewohner aus Europa, die zuvor feudalen Beschränkungen unterworfen gewesen waren, ihre Emanzipation in die eigene Hand, indem sie nach Amerika zogen. Stellvertretend für viele Amerikaauswanderer mag die Stimme eines jungen Juden sein, der sich über die äußerst restriktiven Judengesetze in seiner bayerischen Heimat beklagte. Während eines kurzen Aufenthaltes in Mainz 1845 antwortete er auf die Frage, ob er sich eine Rückkehr in die Heimat vorstellen könne: "Ich werde nicht eher zurückkehren, als bis Nordamerika baierisch wird!"21
Als neue Staatsbürger identifizierten sich Juden mit ihrem jeweiligen Heimatstaat. Es ergaben sich neue Trennungslinien, vor allem unter Aschkenasim. Während Juden in der Frühen Neuzeit in christlich (und muslimisch) beherrschten Territorien vom Militärdienst ausgeschlossen blieben, begegneten sie sich nun als Bürgersoldaten auf den europäischen Schlachtfeldern des neunzehnten Jahrhunderts. Die Loyalität zum jeweiligen Nationalstaat wog dabei mehr als die Identifikation mit der Diaspora. Neben Nationalität trennte Juden in Europa ein sich stetig ausweitendes Spektrum unterschiedlicher Auffassungen von jüdischer Identität in der modernen Gesellschaft. Die jüdische Reformbewegung, die ihre Ursprünge im Deutschland der Aufklärung hatte und sich vor allem in den Vereinigten Staaten entfaltete, distanzierte sich vom traditionellen Judentum und vertrat den Anspruch einer eigenen Plattform für das Judentum in der modernen Gesellschaft. In Osteuropa fanden säkulare und ethnische Konzepte jüdischer Identität in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts großen Anklang. Der Zionismus war eine Antwort auf den wachsenden Antisemitismus und nationalistische Strömungen in Osteuropa, die schon sehr früh Juden aus ihren Reihen ausschlossen. Doch erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Zionismus zur Massenbewegung. Die Zahl zionistischer Siedler in Palästina blieb vor 1914 relativ gering.22
Die jüdische Auswanderung aus Mitteleuropa Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war im Gegensatz zur osteuropäisch-jüdischen Massenmigration eine Randerscheinung der gewaltigen transatlantischen Migration. Sie war eng mit der starken Amerika-Migration aus Südwestdeutschland, Böhmen und Posen verknüpft und hatte primär wirtschaftliche Ursachen. Die Auswanderer repräsentierten jedoch einen signifikanten Teil der jüdischen Bevölkerung. 1816 befanden sich 260.000 Juden (1.09% der Gesamtbevölkerung) auf dem Gebiet des späteren Kaiserreiches. 1871 hatte sich ihre Zahl aufgrund natürlichen Wachstums fast verdoppelt (470.000/1.2%). Im gleichen Zeitraum hatten rund 100.000 Juden die deutschen Staaten (und Elsass-Lothringen) verlassen, vor allem in Richtung Nordamerika.23
Während die Juden in der Habsburgermonarchie 1867 vollständig emanzipiert wurden, allerdings in weiten Teilen des Reiches, insbesondere in Galizien, in großer Armut lebten, verschlechterte sich die Lage der jüdischen Bevölkerung in Russland und Rumänien im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts drastisch. Neben der elenden wirtschaftlichen Situation, enormem Bevölkerungswachstum, begrenzten Ressourcen und politischen Spannungen waren Juden mit zahlreichen Restriktionen und zunehmender Gewalt konfrontiert. Die jüdische Migration aus Osteuropa, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einsetzte, definierte in wenigen Jahren das seit der Vertreibung der Juden aus Spanien etablierte System der Zentren der jüdischen Diaspora vollkommen neu. Fast drei Millionen Juden verließen Osteuropa zwischen 1870 und den frühen 1920er Jahren. Mehr als zwei Millionen zogen in die Vereinigten Staaten, das schon um 1900 dank der Migration wichtigste Zentrum jüdischen Lebens außerhalb Osteuropas. Die jüdische Migration aus Osteuropa war eine globale Bewegung, sie führte zur Gründung zahlreicher neuer Gemeinden. In vielen älteren Zentren der Diaspora stellten die Neuzuwanderer innerhalb weniger Jahre die Mehrheit, unter anderem in den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Südafrika, Argentinien und Palästina. Die Rückwanderung war relativ gering aber nicht bedeutungslos.24
Das starke Bevölkerungswachstum in Ost- und Mitteleuropa sowie in den Vereinigten Staaten marginalisierte die nicht-aschkenasischen Juden: Um 1900 war die jüdische Bevölkerung auf zehn Millionen weltweit angewachsen; davon waren neun Millionen Aschkenasim. Die Migration aus dem Russischen Reich, der Habsburger Monarchie und Rumänien verschob nicht nur die Balance zwischen den Zentren der jüdischen Diaspora innerhalb und außerhalb Europas, sie war die treibende Kraft hinter der "Metropolisierung" der Juden. Mit diesem Begriff beschrieb der Zionist und Soziologe Arthur Ruppin (1876–1943) nicht die starke jüdische Land-Stadt-Wanderung nach 1800, sondern die Präferenz jüdischer Migranten für eine Handvoll europäischer und amerikanischer Metropolen: New York, Warschau, Chicago, Philadelphia, Budapest, Łódź, Odessa, London, Wien, Berlin. Eine Metropole stellte alle anderen in den Schatten: 1880 lebten rund 60.000 Juden in New York und Brooklyn, 1925 waren es über eine Million – sogar fast zwei Millionen, wenn man den Großraum New York mit einbezieht; das waren über zehn Prozent der jüdischen Weltbevölkerung. Mehrere Metropolen befanden sich in Ost- und Mitteleuropa, ein Indiz für die starke jüdische Binnenwanderung innerhalb dieser Staaten.25
Die globale Massenmigration traf auch auf Widerstände. Schon in den 1880er Jahren schlossen die Vereinigten Staaten Chinesen von der Einwanderung faktisch aus und begannen, unerwünschte Einwanderer auszuweisen. Juden gerieten früh in das Visier von Einwanderungsgegnern, die sich vor allem in Großbritannien, Frankreich und dem Kaiserreich antisemitischer Stereotype bedienten. Zwischen 1885 und 1914 schob Deutschland wiederholt tausende von unerwünschten "Ostjuden" nach Russland ab. Transnational agierende und eng miteinander kooperierende jüdische Hilfsorganisationen wie die Pariser Alliance Israélite Universelle, die New Yorker HIAS (Hebrew Sheltering and Immigrant Aid Society) oder der Berliner Hilfsverein der Deutschen Juden setzten sich in der Öffentlichkeit erfolgreich für jüdische Migranten aus Osteuropa ein und bauten entlang der Haupttransitrouten ein effizientes Versorgungsnetz auf.26
1914–1948: Vertreibung, Shoah und die Gründung Israels
Der Erste Weltkrieg steht in der Geschichte jüdischer Migrationen weltweit für einen tiefen Einschnitt. Der Krieg traf das große jüdische Siedlungszentrum in Osteuropa unmittelbar und hart. Russische Militärbehörden vertrieben 1915 und 1916 zehntausende Juden und deutschsprachige Protestanten als potentielle Kollaborateure ins Landesinnere; deutsche Besatzungstruppen verpflichteten tausende von Juden und Polen als Zwangsarbeiter; in der Habsburgermonarchie setzte nach massiven Zerstörungen in Galizien eine Flüchtlingswelle nach Wien und Budapest ein. Während der Krieg im Westen 1918 endete, begann nach dem Zusammenbruch der multiethnischen Imperien im Osten Europas eine Serie von militärischen Konflikten, die bis in die frühen 1920er Jahre andauern sollte. Nach einer konservativen Schätzung fielen allein 1918/1919 mindestens 60.000 Juden vor allem im Gebiet der heutigen Westukraine gezielten Pogromen zum Opfer. Millionen Osteuropäer verloren ihre Heimat, darunter mehrere hunderttausend Juden. Größeren Gruppen gelang die Flucht nach Westen, aber hier standen die meisten vor verschlossenen Toren.27
Hinter den amerikanischen Einwanderungsrestriktionen von 1921, die sich primär gegen Ost- und Südeuropäer sowie Asiaten richteten, standen nicht nur die Furcht vor Ausbreitung des Bolschewismus, sondern ausdrücklich auch rassistische und antisemitische Vorurteile. Andere traditionelle Einwanderungsländer wie Kanada und Argentinien erschwerten die Einwanderung ebenfalls; Großbritannien hob die im Krieg eingeführten Mobilitätsrestriktionen gar nicht erst auf. Nach 1917/1918 konnten internationale Grenzen nur mit gültigen Pässen überquert werden. Viele Staaten verlangten Visa und Transitvisa, die sich häufig nur mit großen Schwierigkeiten beschaffen ließen. Das erwies sich insbesondere für viele Bürger des ehemaligen Russischen und Osmanischen Reiches sowie der untergegangenen Habsburgermonarchie als verhängnisvoll. Die Regierungen der Nachfolgestaaten weigerten sich nicht selten, Angehörigen unerwünschter Minderheiten Pässe auszustellen. Ohne Papiere hatten Staatenlose das Recht auf Freizügigkeit verwirkt. Zehntausende Juden aus Osteuropa befanden sich ebenso wie Armenier und Gegner der Bolschewiki über viele Jahre in einem Zustand, der am besten als permanenter Transit charakterisiert werden kann. Jüdische Flüchtlinge strandeten in Flüchtlingslagern und innerstädtischen Elendsquartieren in ganz Europa. Nicht wenige dieser Menschen gerieten nach 1939 mangels gültiger Papiere in die Fänge der NS-Verfolgungsmaschinerie.28
Wenige Länder standen Migranten aus Osteuropa nach 1918 noch offen. Neben der Weimarer Republik, die eine relativ liberale Politik gegenüber Flüchtlingen verfolgte, war das vor allem Frankreich. Paris konnte seine Armee nicht demobilisieren und benötigte dringend Arbeitskräfte für den Wiederaufbau im Norden und für die Industrie. Palästina gewann in den 1920er Jahren erheblich an Bedeutung. Doch die schwierigen Lebensbedingungen im britischen Mandatsgebiet erklären, warum schon in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre die Zahl der Rückwanderer fast so hoch wie die der Zuwanderer war. In der Sowjetunion setzte eine starke jüdische Land-Stadt-Wanderung ein. Nicht wenige Juden wurden im Zuge der stalinistischen Zwangskollektivierung Ende der 1920er Jahre nach Osten "umgesiedelt". Lange vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten suchten jüdische Hilfsorganisationen verzweifelt eine neue Heimat für tausende jüdischer Flüchtlinge. Schon in den 1920er Jahren gewannen Ziele wie Shanghai, Brasilien oder Mexiko an Bedeutung. Niemand beschrieb die Ausweglosigkeit jüdischer Flüchtlinge und Migranten aus Osteuropa in der Zwischenkriegszeit eindringlicher als der aus Galizien stammende jüdische Journalist und Schriftsteller Joseph Roth (1894–1939), insbesondere in seinem Essay Juden auf Wanderschaft (1927). Doch selbst in dieser Krise waren jüdische und andere Flüchtlinge und Migranten nicht nur passive Opfer staatlicher Politik. Juden und andere Osteuropäer hatten maßgeblichen Anteil am kulturellen Boom im Berlin der Zwanziger Jahre. Berlin war für wenige Jahre eine wichtige Schnittstelle der jiddisch- und hebräischsprachigen Diaspora zwischen Osteuropa und Nordamerika.29
Die Weltwirtschaftskrise entzog zahllosen Menschen die materielle Grundlage zur Migration. Viele Länder, insbesondere die Vereinigten Staaten, verschärften die Zuwanderungsrestriktionen zusätzlich. Dies stellte deutsch-jüdische Emigranten und Flüchtlinge nach 1933 vor große Hindernisse. 1939 war die Zahl der jüdischen Weltbevölkerung auf siebzehn Millionen angewachsen – rund vierzehn Millionen Juden waren Aschkenasim. Mit über acht Millionen Juden war Osteuropa immer noch das mit großem Abstand wichtigste Zentrum, gefolgt von den Vereinigten Staaten (ca. 4,8 Millionen). Deutschland (ca. 200.000) war in dieser Rangliste deutlich zurückgefallen. Rund 250.000 Juden gelang nach der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten die Emigration, vielfach nach Verlust ihres Besitzes, nach Monaten und Jahren des Wartens und auf komplizierten Wegen. Die Konferenz von Évian im Juni 1938, die vom amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt (1882–1945) einberufen worden war, um über Möglichkeiten zu beraten, die Auswanderung von deutschen und österreichischen Juden zu vereinfachen, markierte einen Tiefpunkt. Trotz der brutalen antisemitischen Ausschreitungen in Wien nur wenige Monate zuvor war keine der 32 Teilnehmernationen bereit, mehr als einige wenige jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Die bedrohliche Lage für Juden in Osteuropa war nicht einmal Thema der Verhandlungen. Viele osteuropäische Staaten, insbesondere Polen, verfolgten Mitte der 1930er Jahre eine antisemitische Politik und behandelten ihre jüdischen Bürger als de facto staatenlos.30
Mit dem Ausbruch des Krieges verschärfte sich die Situation. Es blieben nur wenige Schlupflöcher wie Shanghai, die für viele längst unerreichbar waren. Im Oktober 1941 verbot der SS-Reichsführer Heinrich Himmler (1900–1945) die jüdische Auswanderung aus den von deutschen Truppen kontrollierten Gebieten. Zu diesem Zeitpunkt hatten Einsatzgruppen – unter Mithilfe der Wehrmacht und verbündeter Truppen wie aus Rumänien – im Westen der Sowjetunion bereits hunderttausende Juden ermordet. Kurz danach fiel die Entscheidung zur "Endlösung". Die nach einem genau ausgearbeiteten Fahrplan organisierte Deportation von Millionen Juden aus ganz Europa in die Vernichtungslager stellt die extreme Form der Zwangsmigration dar. Die Shoah löschte das wichtigste Zentrum der jüdischen Diaspora in Osteuropa in nur vier Jahren vollständig aus. Unter den Opfern der Shoah waren auch Sephardim, vor allem aus Griechenland, Jugoslawien und Tunesien. Etwas mehr als zwei Millionen Juden in der Sowjetunion wurden vom deutschen Terror nicht erreicht, manche nur, weil sie nach dem sowjetischen Einmarsch nach Ostpolen 1939 in den Gulag verschleppt worden waren. Eine Minderheit der jüdischen Bevölkerung in Südosteuropa, etwa die Juden in Bulgarien, blieb von der Deportation verschont.31
Nach der Befreiung waren jüdische Flüchtlinge und Überlebende ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg für Jahre im permanenten Transit gefangen, allerdings unter dem ausdrücklichen Schutz der U.S. Army. Nur wenige Länder waren bereit jüdische "Displaced Persons" – den Begriff hatte Kulischer 1943 geprägt – aufzunehmen. In den Vereinigten Staaten durchkreuzten Einwanderungsgegner wie der mächtige antisemitische Senator Patrick McCarran (1876–1954) Versuche, jüdische Überlebende in höherer Zahl als in den Einwanderungsquoten festgelegt ins Land zu lassen. In Palästina versuchten die Briten die Einwanderung zu verhindern. Die Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948 veränderte die Situation. Doch die meisten Staaten des Mittleren Ostens erklärten Juden zur unerwünschten Minderheit und wiesen sie aus, teilweise noch während des israelischen Unabhängigkeitskrieges. Damit verschwanden innerhalb weniger Monate jahrhundertealte Siedlungszentren in Nordafrika und im östlichen Mittelmeerraum von der Landkarte. Jüdische Gemeinden in Damaskus, Bagdad und im Jemen, die nun kurzfristig, teilweise gewaltsam aufgelöst wurden, lassen sich sogar bis in die vorchristliche Zeit zurückverfolgen.32
Nach der Shoah waren die Vereinigten Staaten das größte, wenn auch nach Gründung des Staates Israels nicht mehr das bedeutendste Zentrum der jüdischen Diaspora. Die Bevölkerung Israels überstieg die im Großraum New York erst Mitte der 1960er Jahre. Der territoriale Nationalstaat löste das Problem von Millionen staatenloser jüdischer Flüchtlinge oder als de facto staatenlos behandelter jüdischer Minderheiten, denen ab 1914 weitgehend das Recht auf Bewegungsfreiheit genommen worden war und die überwiegend der Shoah zum Opfer fielen. Es bleibt eine Ironie der Geschichte, dass die Erfahrung palästinensischer Flüchtlinge bei allen Unterschieden speziell im Hinblick auf ihre Staatenlosigkeit nach 1948 Parallelen zur der jüdischer Flüchtlinge in den drei Jahrzehnten vor 1948 aufzeigt. In den 1970er Jahren setzte eine Migration von Juden aus der Sowjetunion ein. Nachdem anfangs primär politisch Verfolgte in geringer Zahl ausreisen konnten, stehen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 wirtschaftliche Motive im Vordergrund. Bis 2010 sind rund anderthalb Millionen Juden nach Israel, in die Vereinigten Staaten und Deutschland gezogen.33