Einleitung
Was hieß "Exil" im Europa des späten 18. Jahrhunderts? Ein Blick in die zeitgenössischen Wörterbücher erlaubt eine – obschon unvollständige – Antwort auf diese terminologische Frage und lenkt dabei den Blick auf die damals gültigen begrifflichen Grenzen. In der 1798 erschienenen fünften Auflage des Dictionnaire de l'Académie française wird das Wort "exil" implizit als Bestrafung politischer Art gekennzeichnet, im Gegensatz zum von einem Gericht verhängten "bannissement".1 Jenseits des Kanals galt "exile" hingegen als gleichbedeutend mit "banishment"2: Beide Begriffe bezeichneten sowohl die Verpflichtung, die Heimat zu verlassen, als auch den Zustand jener, die im Ausland haben Zuflucht suchen müssen.3 Eine solche Erkundung ließe sich auf andere Sprachen und Wörterbücher ausweiten. Deutlich hervor träte dabei der Einfluss des lateinischen exilium sowie der seit der Antike mit dem Begriff verbundenen Darstellungen. Stets bezeichnet "Exil" einen erzwungenen Ortswechsel infolge eines unliebsamen Engagements in der Öffentlichkeit.
Wenn Exil zum Zeitpunkt der Revolutionen von 1770–1800 auch kein neues Phänomen mehr war, so bleibt es doch bei der Feststellung, dass der Begriff an der Schwelle zum gegenwärtigen Zeitalter neue Bedeutungen annahm. Vor allem aber waren Exilanten bei weitem nicht die einzigen Entwurzelten jener Zeit. Neben Exilanten sprechen wir auch von "Emigranten", "Geächteten" (oder "Verbannten", frz. proscrits) und "Deportierten". Aber lassen sich diese Personenkategorien – die ja alle auf die eine andere Weise ihr Land verlassen mussten, um ihren Vorstellungen treu zu bleiben – tatsächlich über denselben Kamm scheren? Wie kam es, dass die Gestalt des Exilanten sich allmählich von anderen Opfern und Akteuren erzwungener Migration abhob? In diesem Artikel wird versucht, die Neubestimmung von Exil im 20. Jahrhundert nachzuverfolgen: vom bloßen Ortswechsel, in dem Zentralgewalt, Hof und Hauptstadt gemieden werden, hin zu einer Form internationaler Migration. Unfreiwillig war das Exil, indem es seine Opfer zwang, sich jenseits der Grenzen ihres Herkunftsstaates zu begeben, was häufig auch einen Bruch in Lebenswegen politischer, familiärer oder persönlicher Art bedeutete. Doch trotz Nötigung oder Zwang konnte das Exil für die Betroffenen in mehrerlei Hinsicht auch eine Chance bedeuten. Das Leben im Ausland erlaubte ihnen, ihr Engagement weiterzuverfolgen und es sogar zu diversifizieren. Sie fanden mitunter eine neue Öffentlichkeit für ihre Sache und konnten dabei auch die sich zunehmend verfestigenden Grenzen der Nationalstaaten überwinden.
Exil zur Zeit der "Atlantischen Revolutionen" und der Napoleonischen Kriege
Obwohl kein Zweifel bestehen kann, dass Exil im späten 18. Jahrhundert keine unbekannte Kategorie war, erfuhr diese durch die Zäsur der Revolution und danach durch die Napoleonischen Kriege doch eine tiefgreifende Verwandlung. Diese Form der politischen Strafe wurde zu einem unverzichtbaren Bestandteil repressiver Gesetzgebung in Europa und darüber hinaus. Mit den "Atlantischen Revolutionen" der Jahre 1770–1800 brach ein neues politisches Zeitalter an, zu dessen Merkmalen auch die erzwungene Emigration freier Menschen gehörte.4
Zwar hatte die Neuzeit schon bedeutende Exilbewegungen erlebt: Exil konnte über Landesgrenzen hinausführen, ebenso gut konnte es aber auch interner Art sein, etwa indem in Ungnade gefallene Personen jäh von Königs- und Fürstenhöfen oder anderen Machtzentren verjagt wurden. Für die internationale Mobilität von Exilanten gaben insbesondere religiöse Beweggründe den Ausschlag: Man denke beispielsweise an die Emigration der Hugenotten aus Frankreich[] sowohl vor als auch nach der Aufhebung des Edikts von Nantes[] durch Ludwig XIV. (1638–1715) im Jahr 1685.5
Dennoch veränderte sich die Lage mit den Aufständen und Umwälzungen der 1770er- und 1780er-Jahre grundlegend. Waren zuvor religiöse Motive für die Mobilität von Exilanten entscheidend gewesen, so traten nun politische Ursachen in den Vordergrund. Die Amerikanische Revolution und der Unabhängigkeitskrieg gaben den Anlass zur Mobilität nicht nur von Kriegsfreiwilligen, sondern auch von 1783 unterlegenen Loyalisten, von denen ungefähr 60 000 die neu gegründeten Vereinigten Staaten verließen, um in Großbritannien oder anderen Gebieten des britischen Weltreichs Zuflucht zu finden.6 Unterdessen nahmen auch auf dem europäischen Kontinent die Spannungen zu. In der heutigen Schweiz führte die Niederschlagung einer Revolution im Kanton Freiburg durch Bern zum Exil zahlreicher Aufständischer; wenig später erlebte die Republik Genf vergleichbare Unruhen. Mit den amerikanischen Loyalisten gehörten die Genfer zu den ersten "von den revolutionären Erschütterungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts hervorgebrachten Exilanten"7 und fungierten zudem als revolutionäre Mittelsleute im umfänglichen Sinn.8
Dieses Phänomen der durch politische Repression, ob nun revolutionärer oder gegenrevolutionärer Art, verursachten räumlichen Zirkulation wurde durch die Französische Revolution weiter verstärkt. Die für das Jahrzehnt der Revolution (1789–1799) prägende Kollektivbewegung war zweifellos jene, die als "l'Émigration" bezeichnet wird, wobei das große "E" die Eigenart der Emigration der Gegenrevolutionäre und ihres Gefolges hervorhebt.9 Die ersten Émigrés verließen Frankreich schon im Sommer 1789. Diese Fluchtbewegung dauerte bis an den Anfang des 19. Jahrhunderts und betraf gut 150 000 Personen, die es nicht nur ins europäische Ausland verschlug, sondern auch nach Nordamerika und in die Karibik.10 Waren es anfangs vor allem Fürsten und Adelige, die vor der Revolution flohen, weitete sich diese vielfältige und stufenweise Bewegung bald auf andere Akteure aus.
Die Konjunkturen dieser Fluchtbewegungen veränderten sich mit dem Übergreifen des revolutionären Kriegs auf den europäischen Kontinent im Frühjahr 1792. Die Émigrés standen zunehmend vor dem Problem, an den Grenzen Pässe vorzeigen zu müssen,11 während in den Zielländern Gesetze verabschiedet wurden, um dem Zustrom der Exilanten Einhalt zu geben. Ein Beispiel bietet Großbritannien, wo zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Ausländergesetzes (Aliens Act) 1793 etwa 12 000 französische Emigranten sich am Land aufgehalten haben sollen.12 Doch das revolutionäre Frankreich war nicht nur Flucht-, sondern auch selbst Zielland und Asyl für vielfältige Exilanten. In der Ära des Direktoriums traf man dort etwa auf niederländische "Patrioten", die schon seit 1787 ins Land kamen,13 auf Spanier, die vor dem Krieg 1793–1795 flohen, sowie auf Republikaner aus Mainz oder Neapel.14 Dennoch gerieten Ausländer im französischen Exil ab dem Sommer 1793 zunehmend in Verdacht, Hassfiguren wie den Verräter oder den Spion zu verkörpern und fielen wie die Franzosen selbst der Repression zum Opfer. Beispielhaft hierfür steht das Schicksal von Anacharsis Cloots (1755–1794)[], dem selbsternannten "Botschafter der Menschheit" auf dem Föderationsfest (Fête de la Fédération) am 14. Juli 1790, der gut vier Jahre später öffentlich guillotiniert wurde.
"Exil" und "Emigration" standen somit für zwei Wirklichkeiten, die zwar unterscheidbar, aber doch untrennbar miteinander verbunden waren. Beide gingen aus der revolutionär-gegenrevolutionären Gemengelage hervor, die seit Mitte der 1770er-Jahre in Europa geherrscht hatte. Zugleich ist "Exil" von einer anderen Form der erzwungenen Mobilität zu unterscheiden, nämlich der "Deportation", mit der strafrechtliche ebenso wie politische Vergehen geahndet werden konnte. In Großbritannien wurden hauptsächlich Sträflinge mit der sogenannten "transportation" belegt, doch konnte sie auch als politische Strafe dienen.15 Deportiert wurden auf diese Weise etwa irische Aufständische: Die irische Rebellion von 1798 mündete in eine Phase schwerer Repression; unter dem Kriegsrecht waren britische Offiziere befugt, über Leben und Tod der Aufständischen zu entscheiden. Wer am Leben blieb, unterlag häufig der "transportation". Auf diese Weise wurden zwischen 1798 und 1802 3450 politische Gefangene aus Irland nach New South Wales in Australien verbracht.
In Kontinentaleuropa, in Frankreich ebenso wie in seinen Nachbarländern, verstärkte sich die zwangsweise Mobilität von Bevölkerungen noch einmal in der napoleonischen Ära. Betroffen waren diesmal allerdings nicht vorrangig Ausgestoßene der bereits geschilderten Art, sondern vielmehr die zum Heer Napoleons eingezogenen Männer: Deserteure und Fahnenflüchtige ebenso wie Kriegsgefangene.16 Mitunter führte der Rückzug der Franzosen zu massenhaften politischen Exilbewegungen, so etwa in Spanien. Mit König Joseph Bonaparte (1768–1844) flohen gut 12 000 Spanier, die sich durch Zusammenarbeit mit dem Besatzungsregime kompromittiert hatten und nun jenseits der Pyrenäen Zuflucht suchten.
Verbannung in Kongresseuropa: "das Jahrhundert der Exilanten"
Im Gefolge der napoleonischen Kriege und der Schlussakte des Wiener Kongresses (beide 1815) wuchs die Zahl der aus politischen Gründen aus ihrer Heimat Verbannten. Im Französischen wurden diese zunehmend als "exilés" (Exilierte) oder "proscrits" (Verbannte oder Geächtete) bezeichnet. Wie Victor Hugo (1802–1885)[] später in Les Travailleurs de la mer (Die Arbeiter des Meeres, 1866) schreiben sollte, trug schon dieses Vokabular dazu bei, die als "proscriptions" (Verbannungen) bezeichneten Migrationen freiheitlich-national gesinnter Personen von den "émigrations" (Emigrationen) der Gegenrevolutionäre im Zuge der Französischen Revolution zu unterscheiden.17 Zu Beginn der 1820er-Jahre, als vielerorts in Europa die monarchische Restauration herrschte und Napoleon Bonaparte (1769–1821) im Exil von Saint Helena[] verstarb, mussten sich im Zuge der südeuropäischen Revolutionen griechische, italienische und spanische Exilanten auf Wanderschaft begeben.18 Verstärkt wurden diese Bewegungen im folgenden Jahrzehnt durch die Niederschlagung der Revolutionen in Warschau und Mittelitalien im Jahr 1831. Es war die tausendfache Flucht polnischer Patrioten vor russischer Unterdrückung nach Frankreich – 1832 bezogen 7000 von ihnen Hilfen von der Regierung – durch die sich die Julimonarchie veranlasst sah, erstmals ein Gesetz über "ausländische Flüchtlinge" zu verabschieden. Zwar blieb die Begriffsbestimmung im auf April 1832 datierten Gesetzestext noch mehrdeutig, doch beinhaltete dieser ausführliche Regelungen zum behördlichen Umgang mit dieser unter besonderer Kontrolle stehenden Personengruppe.19 So kam der "Flüchtling" in Westeuropa als neue Verwaltungskategorie zu Prominenz, was freilich diejenigen, die hatten fliehen müssen, nicht an der Inanspruchnahme anderer Bezeichnungen hinderte, beispielsweise "exilé" im Französischen, "exile" im Englischen oder "esule" im Italienischen.20
Hatten die Revolutionen der 1830er-Jahre die politische Ordnung Europas bereits erschüttert und dabei erhebliche Bevölkerungsverschiebungen verursacht – insbesondere nach der Beschneidung der Autonomie "Kongresspolens" durch Russland21 – so führten die Revolutionen von 1848/49 zu weitaus tieferen Verwerfungen auf dem gesamten Kontinent. Das nahezu gleichzeitige Ausbrechen von Revolutionen in Neapel, Paris, Berlin, Mailand, Wien und Budapest zwischen Januar und März 1848, überall nach demselben Handlungsschema, gab den Anstoß zu neuen Exilbewegungen durch ganz Europa und darüber hinaus.
Während die Zahl der von unfreiwilligen Wanderungsbewegungen betroffenen Menschen anwuchs, so wurden auch die Ursprungs- und Zielorte vielfältiger. 1849 – das Jahr, in dem die Repression ihren Sieg feierte – erweist sich in dieser Hinsicht als entscheidend: Gut 11 000 republikanisch gesinnte Deutsche suchten Asyl in der Schweiz, wo sie finanzielle Hilfen erhielten, ehe sie gezwungen waren, eine neue Zuflucht jenseits des Atlantiks, in den Vereinigten Staaten, zu finden. Im Osten Europas ließen sich über 5000 ungarische Soldaten sowie zahlreiche Italiener und Polen, die an ihrer Seite gekämpft hatten und bei Világos geschlagen worden waren, zeitweise im Osmanischen Reich nieder,22 das damit noch mehr als ohnehin schon die Rolle eines Asylgebers einnahm. Andere Länder hingegen verloren diese Funktion zusehends, so etwa Frankreich, das vom Asyl- immer mehr zum Exilland wurde. Der Grund hierfür lag in einer 1849 einsetzenden konservativen Wende und vor allem im Staatsstreich Louis-Napoleon Bonapartes (1808–1873) gegen die Republik im Dezember 1851.23 Während dieser Jahre mussten gut 10 000 Franzosen ins Exil gehen, im Wesentlichen nach Belgien, in die Schweiz, auf die Kanalinseln und ins Vereinigte Königreich.
Die 1850er- und 1860er-Jahre: Massenströme nach Osteuropa
Auf die Revolutionen von 1848/49 folgten Nachbeben in Form lokaler Aufstände, die auch den 1850er-Jahren noch vielfache Wanderungsbewegungen verursachten, ob in Form von Exil, Verbannung oder Vertreibung. Dennoch bildeten Liberale oder Demokraten, die um den Aufbau ihres jeweiligen Vaterlandes kämpften, nicht mehr die Mehrheit der Exilierten. Andere Motive für Wanderungsbewegungen gewannen Mitte der 1850er-Jahre an Bedeutung. Im Vordergrund standen weniger Revolutionen als die Konflikte zwischen den europäischen Mächten sowie deren ethnisch-religiöse Antriebe. So kam es im Zug des Krimkriegs (1853–1856), der größtenteils auf der gleichnamigen, 1783 von den Russen annektierten Halbinsel ausgetragen wurde, zu bedeutenden Migrationsbewegungen – so etwa dem massenhaften Exil der Krimtataren. Diese dort beheimatete muslimische Bevölkerungsgruppe galt den Russen als feindlich gesinnt und sah sich ab 1854 gezwungen, in großer Zahl in der von Truppen der britisch-französischen Allianz, 1776 besetzten Zone Zuflucht zu suchen. Diese Bewegungen betrafen zwischen 20 000 und 25 000 Tataren und fanden erst 1857 ein Ende, ein Jahr nach dem Pariser Frieden.
Auch im darauffolgenden Jahrzehnt führte russische Repression zu neuen Migrationen, die sich als Exil begreifen lassen. Im Januar 1863 kam es zu einem Aufstand in Warschau, der im Gegensatz zum Novemberaufstand von 1830 auch stark von der Arbeiterschaft mitgetragen wurde. Die 1864 endgültig geschlagenen Aufständischen brachen gen Westen auf, so etwa Jaroslaw Dombrowski (1836–1871)[], der im Frühjahr 1871 eine entscheidende militärische Rolle im Aufstand der Pariser Kommune spielen sollte. Doch die Grenzen der traditionellen Zufluchtsländer Westeuropas standen Polen nicht mehr so offen wie noch zehn Jahre früher, zu Zeiten der "Großen Emigration".24 Die Vermutung liegt nahe, dass die neuen polnischen Exilanten aufgrund ihres geringen sozialen Status auf größere Vorbehalte trafen.
Von ehrenwerten Exilanten zu potentiellen Verbrechern
Das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts markiert einen Wendepunkt im europäischen Umgang mit Menschen, die ihre Heimat aufgrund ihrer Überzeugungen verlassen mussten.25 Den Ausschlag gab hier insbesondere die Niederschlagung der Pariser Kommune infolge der blutigen Maiwoche (21.–28. Mai 1871). In Paris wurden 41 000 Personen festgenommen,26 darunter 1554 im Ausland geborene.27 Einige dieser Männer und Frauen wurden hart bestraft, doch viele Urteile ergingen in Abwesenheit, da die Angeklagten untergetaucht oder ins Ausland geflohen waren. Ein solcher Fall war Jules Vallès (1832–1885), der sich zunächst in Montparnasse versteckte und im August 1871 Belgien erreichte, ehe er sich nach London retten konnte, wo er einem im Juli 1872 in Abwesenheit verhängten Todesurteil entging. Die mehreren Tausend Männer und Frauen, die vor der Niederschlagung der Pariser Kommune geflohen waren, wurden in ihren Asylländern – insbesondere in Großbritannien und der Schweiz – allenfalls geduldet und mithin als potentielle Terroristen diffamiert. Mit der zunehmenden transnationalen Zirkulation von Anarchisten wurde diese Tendenz immer stärker: Politisch Verfolgte waren kaum mehr willkommen; statt als Helden begrüßt wurden sie nun oft als Verbrecher beargwöhnt.
Die Anwesenheit von Anarchisten führte in Großbritannien zu zunehmender Kritik am Umgang mit potentiellen "Terroristen" ausländischer Herkunft. Die Konservativen warfen dem System zum Schutz politischer Exilanten übertriebene Großzügigkeit vor. Die Polizeiarchive zeichnen hingegen das Bild eines "effizienten und diskreten Überwachungssystems, das in diametralem Gegensatz zum damals von den britischen Behörden verbreiteten 'liberalen Mythos' stand".28 Aus den Überwachungsberichten geht hervor, dass zwischen 1880 und 1914 rund 450 französische Anarchisten im Londoner Exil lebten, wo sie sich in den Vierteln Soho und Fitzrovia konzentrierten. Vor diesem Hintergrund, zu dem auch die Anwesenheit einer viel größeren Anzahl vor den antisemitischen Pogromen im Zarenreich geflohener Juden gehört, unternahm das britische Parlament bereits 1894 die ersten Versuche einer Beschränkung des Zuzugs von Ausländern. Doch erst mit dem 1905 verabschiedeten Aliens Act trugen diese Bemühungen Früchte. Der Gesetzestext zielte auf eine deutlichere Unterscheidung zwischen Wirtschaftsmigranten und verfolgten Flüchtlingen. Er ging von der Annahme aus, dass Ausländer a priori als unerwünscht zu gelten hätten, wenn sie nicht "strafrechtliche Verfolgung aus religiösen oder politischen Gründen" zu befürchten hätten.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Schutz von Flüchtlingen also ein vielerorts in Europa heiß diskutiertes Thema. Einerseits trugen jüdische Migrationen aus Ost- und Mitteleuropa zur Vermischung der Kategorien "Flüchtlinge" und "Emigranten" bei, andererseits stellte die Zirkulation von Anarchisten den in den traditionellen Asylländern Europas (Großbritannien, Frankreich, Belgien und Schweiz) linken und linksextremen Exilanten gewährten Schutz in Frage.
Der Weg zu einem internationalen Umgang mit Flüchtlingen
Mit den zwei Balkankriegen (1912–1913) und später den beiden Weltkriegen markierte das 20. Jahrhundert eine Ära, in der bewaffnete Konflikte den wesentlichen Grund für erzwungene Migrationen über Ländergrenzen hinweg bildeten – in weitaus stärkerem Maße als die Niederschlagung von Aufständen und Revolutionen. Exil war nicht mehr das Schicksal nur politischer Oppositioneller im engeren Sinn, sondern betraf nun große zivile Populationen, die vor Kämpfen flohen oder massenhaften, politisch motivierten Vertreibungen zum Opfer fielen. Mit den Balkankriegen begann eine Zeit, in der die erzwungene Massenmigration von Zivilisten, die vor Verfolgung, Enteignung oder Vergewaltigung flohen, noch nicht per se als Form politischen Exils galt. So verhielt es sich auch zu Beginn des Ersten Weltkriegs, als der deutsche Überfall auf das neutrale "arme kleine Belgien" rund 1,5 Millionen Menschen und damit gut 20 Prozent der Bevölkerung des Landes in Bewegung setzte, die sich weitgehend auf Frankreich, die Niederlande und das Vereinigte Königreich verteilten.29 Doch politisch keineswegs nebensächlich war der Umstand, dass Belgien seine Exilregierung symbolisch nach Frankreich verlegte, nach Sainte-Adresse[] (unweit der Hafenstadt Le Havre). Die Exilregierung kümmerte sich um die Belange der belgischen Flüchtlinge in Frankreich und anderswo in Europa und beteiligte sich in vollem Umfang am "Kreuzzug" gegen die als "boches" oder "krauts" bezeichneten Deutschen.30
Der Waffenstillstand vom 11. November 1918 besiegelte noch nicht ganz das Ende der Auseinandersetzungen in Europa und damit der erzwungenen Migrationen. Im Gefolge der bolschewistischen Oktoberrevolution von 1917 betrafen diese nun vor allem Menschen, die ihrer Überzeugungen wegen verfolgt oder die – was noch viel häufiger vorkam – ihre Staatsbürgerschaft verloren. Im nachrevolutionären Russland herrschte ein Bürgerkrieg, in dessen Zug bis in die frühen 1920er-Jahre hunderttausende Menschen über die Grenzen des ehemaligen Zarenreiches vertrieben wurden.31 Ihr Weg führte häufig zunächst über Konstantinopel in die Balkanstaaten und von dort vielfach weiter nach Deutschland – insbesondere nach Berlin, wo sich ein Großteil des Bildungsbürgertums niederließ – und nach Paris. Während die aus den Eliten des ehemaligen Zarenreichs bestehende weißrussische Emigration in Westeuropa eine freundliche Aufnahme fand, galten Zivilisten aus der Arbeiterschaft, die vor dem Krieg und/oder antisemitischen Pogromen flohen, gemeinhin als "schlechte" oder "falsche" Flüchtlinge.32
Solche Unterscheidungen, in denen sich die soziale Stellung der Exilanten widerspiegelte, waren nichts gänzlich Neues. Ungewöhnlicher war hingegen das Phänomen der Staatenlosigkeit, dem viele Exilrussen zum Opfer gefallen waren. Das erste sowjetische Dekret, das den im Ausland lebenden Russen die Bürgerrechte entzog, trat im Dezember 1921 in Kraft, mehr als ein Jahr nach dem Rückzug der weißen Truppen aus dem Süden Russlands. Auf diese Zunahme der staatenlosen Bevölkerung reagierte eine neue internationale Organisation mit globalem Anspruch, der 1919 in Genf gegründete Völkerbund, mit der Einrichtung eines Hochkommissariats für Flüchtlinge. Unter dessen erstem Vorsitzendem, dem norwegischen Polarforscher Fridtjof Nansen (1861–1930)[], gab diese Behörde – an der neben dem Völkerbund auch Staaten und private Organisationen beteiligt waren – den sogenannten "Nansen-Pass" heraus. Dieses Ausweis- und Reisedokument galt zunächst für russische Flüchtlinge und wurde nach und nach auf andere Nationalitäten ausgeweitet. Es war wegweisend in der Geschichte internationaler Schutzmaßnahmen: Dank dem Nansen-Pass erhielten Flüchtlinge ein Ausweisdokument, das die Folgen der Staatenlosigkeit wenigstens abzumildern half.
Wie die russischen Exilanten waren auch die vom Osmanischen Reich verfolgten und zur Flucht gezwungenen Armenier staatenlos geworden und erhielten an 1924 Nansen-Pässe. Viele von ihnen zogen in den Südosten Frankreichs, insbesondere nach Marseille, wo das überfüllte Flüchtlingslager Camp Oddo auch Feindseligkeiten seitens der örtlichen Bevölkerung auf sich zog. In einem erschreckenden Bericht beschrieb der Journalist Albert Londres (1884–1932) es als eine "Ecke im Königreich der Gestrandeten".33
Fanden Flüchtlinge im Westeuropa der 1920er-Jahre nicht ohne Schwierigkeiten oder Spannungen Aufnahme, so markierte die Erfassung von Flüchtlingen in der Zwischenkriegszeit tatsächlich einen historischen Bruch. Mithilfe des Völkerbunds und seinem Hochkommissariat für Flüchtlingsfragen wurde "Flüchtling" als Rechtsbegriff festgeschrieben, wobei Nationalität das Leitkriterium bildete. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe entschied darüber, ob Exilanten einen Nansen-Pass erhalten konnten. Die Vergabe der Zertifikate erfolge in den Aufnahmeländern durch von den Flüchtlingen selbst geleitete Büros, beispielsweise das für die Exilrussen zuständige Zemgor, das 1921 gegründet wurde und in 17 Staaten vertreten war. Doch nicht alle politischen Exilanten kamen in den Genuss dieser Frühform einer internationalen Schutzmaßnahme. Die russischen und armenischen Flüchtlinge der 1920er-Jahre hatten es in dieser Hinsicht besser als andere nationale Exilgruppen, etwa italienische Antifaschisten auf der Flucht vor dem Regime Benito Mussolinis (1883–1945) oder Spanier, die der Diktatur Primo de Riveras (1870–1930) entkommen waren.
Exil, Deportation und Vertreibung
Innerhalb des 20. Jahrhunderts als "Jahrhundert der Flüchtlinge" gelten die 1930er-Jahre manchen Historikern als neuartige Krisenzeit.34 Zwischen der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 gingen 500 000 deutsche Staatsbürger ins Exil. Sie taten dies aus politischen Gründen und/oder um den "Rassegesetzen" zu entkommen, die "nichtarische" Bürger aus dem öffentlichen und wirtschaftlichen Leben ausschlossen.35 Zu Beginn der nationalsozialistischen Repression war Frankreich das wichtigste europäische Zielland für deutsche Flüchtlinge, von denen schon 1933 rund 25 000 eintrafen. Die Entscheidung für Frankreich lässt sich aus dessen geographischer Nähe erklären, aus seiner relativen Offenheit zur damaligen Zeit sowie aus freundschaftlichen und familiären Beziehungen, insbesondere nach Paris und in das zwischen 1871 und 1918 unter deutscher Herrschaft stehende Elsass-Lothringen.36 Auch wurden diese Flüchtlinge von der französischen Regierung zunächst wohlwollend aufgenommen. Doch in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre wurden auch hier die Bestimmungen für Flüchtlinge strenger. Am 6. Februar 1935 wurde ein Gesetz zur Verschärfung der Aufenthaltsbestimmungen für Ausländer verabschiedet, unter das auch Flüchtlinge fielen. Zwar verbesserte sich deren Situation zeitweise unter der Volksfront-Regierung, doch wurde sie unter der Regierung Daladier wiederum prekärer. Diese verabschiedete (am 2. Mai und 12. November 1938) Gesetzesdekrete zur Ausländerpolizei, in denen ausländische Flüchtlinge als "unerwünschte" Personen galten, weil sie sozusagen von Natur aus eine Gefahr für den öffentlichen Frieden und die nationale Sicherheit bildeten. Damit drohte ihnen die behördlich angeordnete Internierung in "Konzentrationslagern".
Im von einer Wirtschaftskrise geschüttelten Westeuropa waren solche Verschärfungen der Asylgesetze und der Aufnahmeregeln für Flüchtlinge damals vielerorts zu beobachten. Beispielsweise hatte die Schweiz schon 1933, in einer Verordnung vom 31. März, deutsche Flüchtlinge verpflichtet, sich an der Grenze zu erkennen zu geben und äußerst knapp befristete Aufenthaltsanträge zu stellen. Etwas später, 1936, wurde in Großbritannien der Umgang mit jüdischen Flüchtlingen verschärft, indem für das seit 1920 unter britischer Mandatsherrschaft stehende Palästina ein Siedlungsstopp verhängt wurde.
Auch anderswo in Europa wurde im fraglichen Jahr das Klima für deutsche Flüchtlinge rauer. Im Juli 1936 nahm sich der Völkerbund abermals dieser Frage an und erlaubte ihnen in einem internationalen Abkommen die Beantragung eines Nansen-Passes.37 Damit war allerdings eine restriktive Definition des Flüchtlingsbegriffs verbunden, der von vornherein alle deutschen ausschloss, die aus "persönlichen" Gründen ihre Heimat verlassen hatten. Doch gerade im Kontext des "Dritten Reiches" war die Grenze zwischen persönlichen und im engeren Sinne politischen Beweggründen oft schwer zu bestimmen.
Mit den Pogromen der sogenannten "Kristallnacht" (9./10. November 1938) erhöhte sich abermals der Druck auf die in Deutschland und im nunmehr "angeschlossenen" Österreich verbliebenen Juden, ins Ausland zu fliehen. Doch größer wurde zugleich auch die Schwierigkeit, in Europa eine Zuflucht zu finden. Anfang 1939 konnte von einem Nachlassen der Flüchtlingskrise um das Deutsche Reich keine Rede sein38 – im Gegenteil: Im März zerschlug Nazideutschland den Rest der Tschechoslowakei und löste damit eine neue Exilbewegung gen Westen aus: "Nach dem 15. März 1939 saßen viele Nazigegner und Juden in Prag in der Falle. Sie sahen sich nun in der Verlegenheit, im Untergrund leben zu müssen und sich gleichzeitig um ihre Ausreise zu bemühen".39
Inmitten dieser ungeklärten Lage für jüdische und antinazistische Flüchtlinge eröffnete das Ende das Spanischen Bürgerkriegs (1936–1939) "eine ganz und gar neue Front der Flüchtlingskrise".40 Wieder flohen Männer, Frauen und Kinder zu Hunderttausenden um ihr Leben. Gewonnen hatte den im Juli 1936 ausgebrochenen Krieg die nationalistische Seite, die von Nazideutschland und dem faschistischen Italien mit Truppen (rund 50 000 Italiener und 15 500 Deutsche) und Material unterstützt worden waren. Diese Niederlage der Republikaner markierte einen weiteren Schritt in der "Produktion" von Flüchtlingen seit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Dieses neue Massenexil, das seinen Höhepunkt im Retirada (Rückzug) von Januar/Februar 1939 erreichte, betraf mindestens 500 000 republikanische Spanier, deren Land nun von putschenden Offizieren unter der Führung Francisco Francos (1892–1975) regiert wurde.41 Die Umstände der Grenzüberquerung waren häufig dramatisch: Die Bevölkerung war von drei Jahren Krieg und Not geschwächt, die Pyrenäenpässe waren verschneit und die Flüchtlingstrecks auf den Straßen Kataloniens wurden von der franquistischen Luftwaffe bombardiert. Zivilisten und Soldaten mussten oft überhastet und mit wenigen Habseligkeiten aufbrechen. So erreichten sie Frankreich häufig völlig mittellos und allenfalls mit einer um die Schultern geworfenen Decke als Schutz gegen die Kälte. Die Art Asyl, mit der republikanische Spanier in der französischen Republik rechnen konnten, hat man ihrer harten Bedingungen wegen auch als "widerwilliges" Asyl bezeichnet.42 Die Männer im wehrfähigen Alter kamen in "Konzentrationslager", die Alten, Frauen und Kinder in "Unterbringungszentren". Symbolisch betrachtet verkörperten die spanischen Flüchtlinge die Figur des Flüchtlings par excellence, wovon die zahlreichen beim Grenzübertritt aufgenommenen Bilder zeugen. Um die Welt gingen beispielsweise die Photographien von Robert Capa (1913–1954) und David Seymour (1911–1956).
Schlussbetrachtung
Der Zweite Weltkrieg brachte Menschen millionenfach in Bewegung: Vertriebene oder deportierte Zivilisten, Zwangsarbeiter, Verbannte und Flüchtlinge machten zusammen gut ein Zehntel der europäischen Bevölkerung aus.43 Mit dem Waffenstillstand 1945 war die vom Krieg ausgelöste Migrationskrise noch lange nicht zu Ende. In Westeuropa war erzwungene Migration ein Massenphänomen, von dem Millionen "displaced persons" (DPs) noch Jahre nach dem Krieg zeugten. Unter diese von den Alliierten geschaffene Kategorie fielen Personen, die der Krieg aus vielfachen Gründen entwurzelt hatte: Überlebende der Konzentrationslager und befreite Kriegsgefangene ebenso wie Vertriebene aus Osteuropa. Dazu gehörten auch Gruppen von Menschen, die sich aus politischen Gründen weigerten, in ihre Heimatländer zurückzukehren – unter ihnen auch zahllose Sowjetbürger. Diese argumentierten zunehmend, das Exil in Westeuropa sei die einzige Alternative zu Festnahme und Verschleppung in den Gulag.
Während die Kategorie der DPs unmittelbar nach dem Krieg maßgeblich war, entstand die internationale Flüchtlingsgesetzgebung vor dem Hintergrund des Kalten Krieges. Die Einrichtung eines Hochkommissariats für Flüchtlinge durch die Vereinten Nationen im Jahr 1950 und die Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention in Jahr darauf stellten erneut den Flüchtling in der Exilsituation in den Mittelpunkt. Mit der Konvention von 1951 wurde erstmals eine international anerkannte und rechtsverbindliche Definition dieses Status aufgestellt, in der Verfolgung das entscheidende Kriterium bildete. Im Gegensatz zum in den 1920er-Jahren entstandenen und verfeinerten System der Nansen-Pässe, in dem der Asylstatus von der Zugehörigkeit zu einer von Staatenlosigkeit betroffenen Bevölkerungsgruppe oder Nationalität abhing, sollte Asyl nun aber aufgrund individueller Verfolgung gewährt werden. In der westeuropäischen Praxis wurde der Flüchtlingsstatus während des Kalten Krieges großzügig gehandhabt44 und blieb dabei nicht immer auf die Kriterien der Genfer Konvention beschränkt.