Lesen Sie auch den Beitrag "Construction of the first railway routes through the Alps (1848-1882)" in der EHNE.
Einleitung
Im Diskurs rund um den Alpentourismus lässt sich unter anderem eine Betrachtungsweise ausmachen, die den Fremdenverkehr der letzten zwei Jahrhunderte als "Drehscheibe für Begegnungen, für Erfahrung und Austausch aller Art" und sogar als Experimentierfeld im Sinn einer "Schule Europas" würdigt.1 Von wechselseitigem "Geben und Nehmen" ist die Rede, auch davon, dass die Alpen von den Zugereisten "durchaus profitiert" hätten, ökonomisch und "metaphorisch, im Sinne teils der Belebung und Stärkung, teils der Fortentwicklung und Modernisierung ihrer Kulturgestalt"2. Modernisierung ist mit Alphabetisierung, Industrialisierung, Urbanisierung, Mobilität, Komplexität und Rationalisierung verbunden3: Die Fremden kommen aus (proto-)industrialisierten und urbanisierten Regionen des In- und Auslands, sie bringen dazugehörige Lebenserfahrungen und Kenntnisse mit. Sie sind bereits alphabetisiert, können zum Beispiel Karten und Reiseinstruktionen lesen, gehen möglicherweise davon aus, dass für einheimische Wirte und Hoteliers, Bürgermeister und Bergführer der gleiche Befund gilt. Sie führen die Bereitschaft zur Partizipation an erhöhter Mobilität anhand ihrer eigenen Aktivitäten vor. Sie selbst bringen die für das eigene Leben nicht mehr ungewohnte soziale Komplexität in die verschiedenen Bergdörfer, welche die Ausgangspunkte für ihre Touren darstellen. Darüber hinaus demonstrieren sie Vertrautheit mit rationalisierten Alltagspraktiken, dies etwa im Umgang mit den Einheimischen, in der vorausschauenden Planung der Touren und in Fragen der eigenen Ausstattung.
Die Fremden importieren Unbekanntes und Neues, das die Kultur der Ortsansässigen verändert. Umgekehrt beeinflussen die Einheimischen auch die Lebenswelt der Fremden, sobald diese ihren eigenen "'grauen', großstädtischen Kreis" hinter sich lassen, "Sommerfrische, Bergluft, alpines Volkstum und alpinen Brauch bis ins Ästhetische hinein" genießen und damit "ihre Erfahrungen bereichern".4 Derartige Transformationen finden in vielen Varianten touristischen Handelns statt, eben auch im Alpentourismus, im Alpinismus, welcher Ende des 18. Jahrhunderts einsetzte und "verschiedene Formen des Bergsteigens in den Alpen und in anderen Gebirgen der Welt – vom Bergwandern ... über alpine Skitouren ... bis hin zum Sport- und Extremklettern in Fels und Eis" umfasst. Der "Durchbruch des im Zeichen des Sports und des Tourismus" stehenden, wie es heißt, "modernen" Alpinismus erfolgte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts5, was in direktem Zusammenhang mit jenen englischen Bergsteigern stand, welche sich in den 1850er und 1860er Jahren serienweise an Erstbesteigungen abarbeiteten. Diese Phase wird in der Literatur fast durchgängig als die "Goldene Zeit" des Alpinismus bezeichnet.6 Manche sprechen gar von einer "wahren Explosion von Aktivitäten", welche mit der Besteigung des Wetterhorns in den Berner Alpen durch den britischen Juristen Alfred Wills (1828–1912) im Jahr 1854 einsetzte und sich auch in organisatorischen sowie publizistischen Leistungen spiegelte: 1857 wurde in London der erste Alpenverein der Welt, der Alpine Club, gegründet, außerdem begannen erste Veröffentlichungen zu erscheinen, wie etwa der seit dem Jahr 1859 für Clubmitglieder herausgegebene Tourenführer Peaks, Passes and Glaciers.7
Wissenschaftlicher Alpinismus
Es gibt für den Zeitraum des 18. bis 20. Jahrhunderts zwei einander nur scheinbar ablösende, sich tatsächlich jedoch überlappende Bewegungen im Umgang mit den Alpen, den früheren sogenannten Präalpinismus und den späteren sportiven Alpinismus. In der Zeit zwischen, grob gesagt, 1750 und 1850 erklomm man noch nicht sportiv Alpengipfel in Serie. Es ging noch nicht darum, die Aktivität Bergsteigen mit Rekordstreben und Wettkampf, was an das kapitalistische Wirtschafts- und Arbeitssystem erinnert8, zusammenzudenken. Im Zeitalter der Aufklärung ging es vielmehr darum, Wege und Mittel zu finden, um den "vorher nie bestiegenen 'Eiswüsten'"9 adäquat zu begegnen. Wir haben es mit der fortgeschrittenen Entdeckung und Rationalisierung der Natur, auch des menschlichen Wesens und der Kultur zu tun, welche sich in stark differenzierter Ausprägung präsentierte, hier bürgerlich-dynamisch-städtische, dort bergbäuerlich-alteingesessen-ländliche Kultur. Im Handlungsfeld Bergsteigen trafen beide Seiten in geradezu symbiotischer Weise aufeinander, denn:
Die "Bürger" erfanden die Idee, auf die höchsten Berge zu gehen, und setzten die Ziele; ohne diese Ideen und Pläne war die systematische Unterwerfung der Berge nicht denkbar. Die "Bauern" aber, die zumindest für die Systematik der Bergbezwingung keinen Sinn entwickelt hatten, wussten die Mittel, auf die Berge hinaufzukommen; ohne sie war die systematische Unterwerfung der Berge nicht machbar.10
Diese Phase, in der Regel Präalpinismus genannt, markiert den "eigentlichen Durchbruch" im Bereich des Umgangs mit dem Gebirge, weil die Akteure neue Aneignungsweisen erprobten sowie neue "Seelenbewegungen" und "Sensationen des Leibes" verspürten11, weswegen man, um die dazugehörigen Erkundungen in der Zeit zwischen Mitte des 18. und Mitte des 19. Jahrhunderts adäquater zu erfassen, mit dem Terminus "wissenschaftlicher Alpinismus" operieren sollte.12 Nicht zuletzt erinnern die dabei verfolgten Interessen deutlich an die Interessen der Kaufleute und Fabrikanten, Agrarschriftsteller und Handwerker, die sich im 18. und 19. Jahrhundert auf "Nutzreisen" mit ökonomischen, technologischen, sozialen und edukativen Zielsetzungen begaben.13
Damals ging es auch noch nicht so sehr um die interkulturelle Begegnung zwischen Einheimischen und angereisten Fremden, sondern eher um das intrakulturelle Aufeinandertreffen zweier Gruppen14, nämlich der Gruppe der Bergreisenden – Bürger, aufgeschlossene Aristokraten, Wissenschaftler und Privatgelehrte – sowie der Gruppe der einheimischen Bewohner der Alpenregion. Dies kann durchaus als das Aufeinandertreffen von zwei Kulturen gesehen werden, welche letztlich zwei verschiedene Zeitalter repräsentieren. Zu diesem Geschehen gehören auch die ersten Besteigungen des Montblanc durch den Bauern und Kristallsucher Jacques Balmat (1762–1834) und den Arzt Michel Paccard (1757–1827) im Jahr 1786 sowie durch den Genfer Geologen Horace-Bénédict de Saussure (1740–1799)[] ein Jahr später,15 die wissenschaftlich vorbereitete und begleitete Besteigung des Ortler im Auftrag des Erzherzogs Johann von Österreich (1782–1859) im Jahr 180416 sowie die in der Regel nicht näher erwähnte Beteiligung von Frauen an derartigen Unternehmungen17.
Sportiver Alpinismus
Zum späteren sportiven Alpinismus gibt es eine ganze Reihe von Erklärungsversuchen, die als Ursachen für das Aufkommen planmäßigen Bergsteigens die Erreichbarkeit der Alpen mittels des neuen Verkehrsmittels Eisenbahn oder den romantischen Blick auf die Natur oder den Zwang der neuentstandenen Bourgeoisie, sich eine eigene Identität durch "character building, healthy bodies, or hegemony" zu verschaffen, anführen.18 Doch es gibt auch einen gegenläufigen Erklärungsversuch, der vom Aufkommen eines ganzen Bündels von militärischen Krisenherden in der Mitte des 19. Jahrhunderts ausgeht und sich auf den Krimkrieg (1853–1856), auf den Sepoy-Aufstand (1857–1858) gegen die britische Kolonialmacht in Nordindien, auf den Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865),19 auf Aufstände Einheimischer in Jamaika (1865) und Neuseeland (1860–1865)20 sowie weitere Ereignisse bezieht, die in ihrer Gesamtheit zu einer Erschütterung des britischen Großmacht-Habitus sowie zu Auseinandersetzungen um dessen Niedergang geführt hä21 Dies wurde etwa mit dem Absingen der britischen Nationalhymne God Save the King nach erfolgreichem Erklimmen eines alpinen Gipfels demonstriert.22 Dazu passt die Beschreibung der Ankunft auf einer der geradezu umkämpften Bergspitzen am 14. Juli 1865: "At 1.40 P.M. the world was at our feet, and the Matterhorn was conquered."23 In ähnlicher Weise ging es in einem weiteren Tourenbericht darum, "am nächsten Morgen den Zmuttgrat anzugreifen"24, ganz so wie es in dem Herkunftsland der Bergsteiger vorher darum gegangen war, ganze Länder und Regionen anzugreifen und zu erobern. Allerdings wurde im konkreten Fall zum Zeichen des Triumphes nicht die britische Nationalflagge gehisst. Stattdessen musste ein Kleidungsstück des – welche Ironie! – französischen Bergführers Michel Auguste Croz (1830–1865) dafür herhalten.25
Derartige Angaben sagen allerdings nichts darüber aus, ob, wann und gegebenenfalls wie oft Einheimische wie auch Wissenschaftler im Zusammenhang mit der Ausübung ihrer Berufe diese Berge nicht längst erklommen hatten: "Der Trick, mit dem die Alpinisten sich das Erstgeburtsrecht der Gipfelbesteigungen gegen Geometer, Hirten und Gamsjäger sichern, ist eine Wortklauberei: Es zählt nicht die erste Ersteigung überhaupt, sondern nur die erste touristische."26
Die als Eroberungen ausgegebenen Aufstiege stellen nichts anderes dar als die Fortführung imperialer Politik mit anderen Mitteln, zunächst in den westlichen Teilen, dann, zeitlich etwas verschoben, in den östlichen Teilen der Alpen,27 was in der Forschung immer wieder in Formulierungen wie "Invention of Mountaineering in Mid-Victorian Britain"28 oder "How the English made the Alps"29 zum Ausdruck kommt – und damit in Stereotypvorstellungen, "die entweder völlig oder zumindest partiell konträr zur Wirklichkeit"30 stehen, in welcher der Alpentourismus nämlich nicht ohne die direkte oder indirekte Mitwirkung der Einheimischen zustande kam.31
Inmitten der skizzierten politischen Großwetterlage diente der erste Alpenverein mit seiner Freizeitorientierung und sportlichen Ausrichtung als Vorbild für weitere einschlägige Vereinsgründungen – 1862 in Österreich, 1863 in der Schweiz, 1867 in Italien, 1869 in Deutschland, 1874 in Frankreich – und letztlich auch für Konkurrenzgründungen, etwa 1869 die des Oesterreichischen Touristenclubs, 1872 der Società degli Alpinisti Tridentini, 1875 der Société des Touristes du Dauphiné sowie 1878 des Oesterreichischen Alpenclubs.32 Das soziokulturelle Modell des Alpenvereins ist somit als britisches Importprodukt zu betrachten, wie diese spezifische Form von "Wir-Handeln"33 auch insgesamt auf vor allem britische Traditionen der besonders seit dem 17. Jahrhundert tätigen bürgerlich-emanzipatorischen Clubs und Societies als direkte Vorläufer des Vereinswesens zurückgeht.34
Die Mitglieder des Alpine Club setzten sich in der ersten Zeit vorwiegend aus Juristen (28,1 Prozent), aus Geschäftsleuten (17,4 Prozent), Angehörigen unterschiedlicher Bildungsvermittlungsberufe (12,5 Prozent) sowie zu jeweils geringfügigeren Anteilen aus staatlichen Verwaltungsbeamten, Geistlichen, Ärzten, Offizieren und anderen zusammen, aus Mitgliedern der sogenannten "professional middle classes" also,35 die bisweilen gar als "wealthy elite" kategorisiert werden.36
Die britischen Bergsteiger verfügten nicht nur über ökonomisches Kapital, mit dem sie ihre Kletterurlaube finanzieren konnten, sondern auch über kulturelles Kapital.37 Sie waren tätig als Naturwissenschaftler und Politiker wie John Ball (1818–1889), als Theologieprofessor und Schriftsteller wie der Vater Virginia Woolfs (1882–1941), Leslie Stephen (1832–1904)[], als Physikprofessor wie John Tyndall (1820–1893), als Graveur und Schriftsteller wie Edward Whymper (1840–1911)[] oder als Kaufmann wie Horace Walker (1838–1908), um nur einige wenige zu nennen.38 Sie können durchaus als "Repräsentanten der städtisch-intellektuellen Welt" und somit als genuin bürgerliche Akteure betrachtet werden.39 Demgegenüber waren die einheimischen Bergführer zunächst keineswegs "professional guides"40 und auch nicht nur "local peasants"41, sondern Gemsenjäger oder sogenannte "Älpler", also Alpenhirten,42 konkret Schaf- und Ziegenhirten, aber auch Holzschnitzer und Steinmetze,43 die in jedem Fall in der Anfangsphase des Alpinismus noch über keinerlei touristisches Verständnis von der eigenen alpinen Welt verfügten.
Kulturkontakt – Kulturkonflikt
Die früheren wissenschaftlichen und ebenso die späteren sportlichen Aktivitäten brachten die Entstehung eines höchst komplexen intra- und interkulturellen Handlungsfelds mit sich, zu dem direkte Kulturkontakte und Kulturkonflikte zwischen vorübergehend Zugereisten und ansässigen Einheimischen ebenso gehörten wie umfangreiche alltagsbezogene Kulturtransfers44 von Dingen und Handlungen,45 also von materieller Kultur und Sozialkultur.46 Wie das konkret aussah, überliefern uns unter anderem anschauliche Beschreibungen aus den Federn renommierter Bergsteiger, die sich der Quellengattung Autobiographie ebenso zuordnen lassen wie der Quellengattung Reise- bzw. Tourenbericht.
Es gibt Hinweise darauf, dass sich Hotelbauten aus der Zeit vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert "in Form und Inneneinrichtung" den Bedürfnissen ihrer britischen Gäste anpassten, und darauf, dass man in Grindelwald im Berner Oberland zunächst im Hotel Bär einen Saal für anglikanische Gottesdienste einrichtete und später, 1886, mit Hilfe von britischen und einheimischen Spenden, wie anderswo auch, eine anglikanische Kirche baute.47 Zu denken ist in diesem Zusammenhang etwa an die Britannia-Hütte oberhalb von Saas Fee im Kanton Wallis, die – finanziert von der Vereinigung britischer Mitglieder des Schweizer Alpen-Clubs – im Jahr 1912 errichtet und später immer wieder erweitert wurde.48
Es gibt weitere Formen von materieller Kultur, welche etwa die britischen Touristen in die hochalpinen Regionen mitbrachten, so beispielsweise im späten 19. Jahrhundert optische Instrumente, von denen sich heute eine Auswahl im Besitz des Deutschen Alpenvereins in München befindet.49 Im Reisebericht des Matterhornbezwingers Edward Whymper stößt man auf eine fast schon komische Beschreibung seines letztlich gelungenen Versuchs, von Großbritannien kommend, eine Art zusammenschiebbarer Feuerwehrleiter für künftige Bergbesteigungen nach Frankreich und Italien einzuführen: "My luggage was highly suggestive of housebreaking".50
Die zunehmende Zahl der Bergsteiger spiegelte sich in diversen Hinterlassenschaften, die wir heute "Umweltverschmutzung" nennen. Da gibt es einen "alten verrosteten Mauerhaken" von früheren Aufstiegen,51 ganze Massen leerer Sardinen- und Fleischbüchsen,52 verloren gegangene Hüte, Stöcke und Tabakspfeifen.53 Außerdem grub man Flaschen in einen selbst errichteten Steinhaufen auf der Spitze eines gerade bestiegenen Berges ein, was einem durchaus informativen Zweck diente, beherbergten sie doch Notizen mit dem Datum der Erstbesteigung sowie den Namen der Leistungsträger.54 In anderen Fällen allerdings wurden sie, ihres Inhalts entleert, einfach als Müll zurückgelassen55 oder aber, um der gebirgsspezifischen Akustik nachzuforschen, zu Tale geworfen: "Throw a bottle down to the Tiefenmatten – no sound returns for more than a dozen seconds".56
Unklar bleibt, ob diese Form von Umgang mit der Natur irgendwelche Auswirkungen auf das Verhalten der Einheimischen zeigte, was durchaus im Bereich des Möglichen liegen könnte, sind doch einige von ihnen, als Bergführer und Träger, bei den Touren präsent gewesen und fungierten damit gleichsam als Zeugen. Oder passten sich, umgekehrt, die Bergsteiger diesbezüglich eher den einheimischen Bergführern an?
Kulturtransfer fand auf jeden Fall auch in umgekehrter Richtung statt. So wurden Steigeisen in der alpinen Landwirtschaft "seit Jahrhunderten" verwendet, bevor sich auch die britischen Bergsteiger ihrer bedienten.57 Das gleiche gilt für das, was bis zum Beginn des Alpentourismus schlicht "der Stock" und nun "Alpenstange" oder "Alpenstock" hieß, Letzteres auch im Englischen und im Italienischen, und jenen "übermannshohen, festen Stab aus Eschen- oder Haselholz" meint, der unterschiedliche Funktionen zu erfüllen hatte.58 Das Gleiche galt schließlich für den Eispickel, ungeachtet dessen, wie sehr dessen Konstruktion für die konkreten Verwendungszwecke beim Bergsteigen eine Modifizierung erfahren musste.59
Im Bereich der Sozialkultur kommt mit den Begegnungen zwischen zugereisten Bergsteigern und alpenländischen Einheimischen zwangsläufig jener Themenkomplex zur Sprache, der heute interkulturelle Kommunikation genannt wird und dessen konkrete Ausprägungen sich anhand von Beschreibungen zumindest ansatzweise bestimmen lassen: Wie sieht der Kulturkontakt aus, zumindest aus der Sicht der Autoren, und welche Konflikte lassen sich dabei erkennen? Im konkreten Fall dienen dabei die Bergführer als Repräsentanten der einheimischen Bevölkerung.
Über den Kontakt mit Bergführern, die das Führen sowie Gepäcktragen nur als Nebentätigkeit betrieben,60 wurden widersprüchliche Befunde veröffentlicht. Einerseits hieß es: Die Einheimischen handelten selbstständig;61 sie stellten Bedingungen und hielten ihre britischen Arbeitgeber nicht unbedingt für vertrauenswürdig, ja, sie ließen sich von diesen beschimpfen und schimpften ihrerseits durchaus zurück. Sie hätten keine Ahnung vom Gelände, täuschten die fremden Bergsteiger, beraubten sie sogar. Sie würden versuchen, den tödlichen Absturz von vier Bergsteigern bei der Erstbesteigung des Matterhorns ökonomisch für sich auszuschlachten. Im Übrigen sprächen sie unverständliche, barbarische und dem Chinesischen ähnliche Dialekte.62 Manchmal zauderten sie, wenn es darum ginge, einen bestimmten Gipfel zu erklimmen. Sie seien zu fromm und abergläubisch und versuchten ansonsten, über ihren jeweiligen Herrn zu bestimmen.63 Darüber hinaus wurden auch die hygienischen Bedingungen in den Dörfern, aus denen die Bergführer stammten, kritisiert.64
Andererseits verfügten manche Bergführer im Urteil etwa von Whymper und des englischen Alpinisten und Autors Albert Mummery (1855–1895) über langjährige Erfahrung, hervorragende Fertigkeiten und auch Manieren.65 Sie seien stark und robust, deshalb unersetzbar. In den Augen der Reisenden kooperierten sie untereinander problemlos und wurden deshalb von diesen hochgelobt.66 Sie gäben Nachhilfe, ließen sich bisweilen aber auch von ihrem jeweiligen, wie es hieß, Herrn helfen. Sie galten als Vertraute oder Gefährten, auch als Freunde – von "wir" ist dann die Rede.67 Es wurde davon ausgegangen, dass ein freundschaftliches Verhältnis von Vorteil für beide Seiten sei, allerdings ein solches, bei dem einseitig wirkende Akkulturation als Voraussetzung der konkreten Kommunikation, nicht aber beidseitig wirkende Transkulturation die Basis bildete,68 was sich jedoch in der Alltagspraxis als unrealistisch erwies.
Fazit
Das tourismusinduzierte Kulturtransfergeschehen in der Alpenregion lässt sich im fraglichen Zeitraum insgesamt in zweifacher Hinsicht kategorisieren. Wir haben es zum einen mit gleichermaßen intra- und, mehr und mehr, interkulturellen Transferprozessen und zum zweiten mit räumlichem, sozialem und, in einem engeren Sinne, kulturellem Mobilitätsgeschehen69 zu tun. Städter begaben sich in ferne Bergdörfer, um von dort aus alpine Gipfel zu erklimmen. Sie bewegten sich von einem Ort zu einem anderen und demonstrierten damit räumliche Mobilität. Sie begaben sich damit gleichzeitig in andere als die vertrauten sozialen Milieus und bewiesen horizontale soziale Mobilität. Indem sie am fremden Ort etwas unternahmen, was die eigene soziale Bezugsgruppe zuhause (noch) nicht aus eigener Erfahrung kannte, etwa die (Erst-)Besteigung eines hochalpinen Gipfels, begaben sie sich in eine Position "sozialer Überlegenheit"70 und zeigten damit auch vertikale soziale Mobilität, was genauso für den Fall gilt, wenn sie sich beispielsweise nach der Rückkehr aus dem Kletterurlaub mit Lichtbilderschauen und anderen Unterhaltungsprogrammen an ein interessiertes Großstadtpublikum wandten.71 In einem engen Zusammenhang damit steht jener Bereich, den man "kulturelle Mobilität" nennen könnte, nämlich die Bourdieusche "Inkorporierung von kulturellem Kapital", wozu auch der "Erwerb von Bildung" gehört,72 was im konkreten Fall etwa in der Erweiterung des eigenen Horizonts durch das Reisen, in der Verbesserung der eigenen Fremdsprachenkenntnisse, in der Erprobung neuer Formen von Freizeit, Körperkultur und Sport sowie in der Herausbildung neuer Sichtweisen auf die alpine Welt zum Ausdruck kam. Indem aber zu diesen, zunächst selbstbezogenen, Zielsetzungen und dazugehörigen Praktiken auch Momente des Auslebens und Vorlebens, des Verbalisierens und Propagierens gehören, nicht nur nach der Rückkehr in das eigene Herkunftsmilieu, sondern ebenso bereits im Umfeld der fremden Einheimischen als zeitweise aufgesuchtem Aufnahmemilieu, welches seinerseits neue Erfahrungen durch die Begegnung mit den Zugereisten gewinnt, "geht es hier mehr um einen Austausch nach beiden Richtungen als um einseitige Anleihe".73 Hinzu kommt, dass der Austausch nicht so sehr direkt zwischen Ausgangs- und Zielsystemen stattfindet als vielmehr zwischen speziellen Varianten derselben, nämlich zwischen der Ferienkultur auf Seiten der Zugereisten und der Dienstleistungskultur auf Seiten der Bereisten, welche zusammen im Laufe der Alpinismusgeschichte eine Art Interaktionskultur bildeten,74 was durchaus Kritik hervorrief: Fremdbestimmung und Dominanz wirtschaftlicher Interessen, Übererschließung und Zersiedelung, Umweltbelastung und ästhetische Verschandelung, Zunahme von Naturkatastrophen und eine ungewisse Zukunft des höchsten und größten europäischen Gebirges, so lauten die immer wieder verhandelten Themen.75
Mit Erstaunen kann man dann zur Kenntnis nehmen, dass sich bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert der Alpentourismus eher als "aufkommende" Aktivität abgespielt hat, dies vor allem als Kur- oder Bädertourismus,76 dass auch rund ein Jahrhundert später ein richtiggehender Massentourismus nur in bestimmten Orten oder Gegenden sowie nur zu bestimmten Zeiten in Erscheinung tritt und insgesamt eher "keine Schlüsselbranche im Alpenraum" darstellt: Rund 10 Prozent aller Alpengemeinden weisen eine touristische Monostruktur auf, weitere 10 Prozent zwar "relevanten", aber nicht dominanten Tourismus, dagegen 40 Prozent einen "geringen" sowie weitere 40 Prozent überhaupt keinen Tourismus.77 Dennoch lässt sich dem Tourismus die eingangs konstatierte Funktion, "Drehscheibe für Begegnungen, für Erfahrung und Austausch aller Art" zu sein, kaum absprechen.