19. Jahrhundert
Osteuropa: Polen, Russland, Ungarn
Durch die drei Teilungen Polens in den Jahren 1772, 1793 und 1795sah sich das russische Zarenreich, dem bei jeder Teilung ehemals polnische Gebiete zufielen, erstmals in seiner Geschichte mit einer stetig steigenden Zahl nicht-russischer Untertanen konfrontiert,1 da sich deren Anteil an der russischen Gesamtbevölkerung nach jeder Polnischen Teilung signifikant erhöhte.2 Dies erforderte eine klare politische Positionierung der russischen Regierung gegenüber den Nicht-Russen und zwang das Russische Reich dazu, sich auch rechtlich und institutionell mit ihnen auseinanderzusetzen. Außerdem kam hinzu, dass für die Zarin Katharina die Große (1729–1796) das Prinzip der aufgeklärten Herrschaft3 die Grundlage ihrer integrativen politischen Entscheidungen bildete, wodurch es zu Spannungen mit den traditionellen, von der russisch-orthodoxen Staatskirche mitgetragenen Formen der Gesellschaftsordnung kam.
Solange nach der ersten Teilung Polens der Zuwachs an nicht-russischen Untertanen noch überschaubar war, war es Katharina der Großen möglich, effektive, auf integrative Reformen ausgerichtete Ukaze (Verordnung der russischen Zaren) zu erlassen. Aber diese Minderheitengesetzgebung war für Katharina politisches Neuland und die von ihr erlassenen Ukaze offenbarten ihren experimentellen Charakter meist in der praktischen Umsetzung. Denn oft beharrten die regionalen, nicht-jüdischen Interessengruppen auf ihren Privilegien und den althergebrachten Gesellschafts-, Macht- und Wirtschaftsstrukturen. Deshalb wurden die von der Zarin erlassenen, integrativen Maßnahmen durch eine zunehmende Flut von Sonderregelungen unterlaufen.
Nach der zweiten und spätestens der dritten Polnischen Teilung musste die russische Regierung den Umgang mit den Ukrainern, Litauern, Deutschen, Polen, Juden und anderen Bevölkerungsgruppen, die in den annektierten, multiethnischen und -religiösen Gebieten des ehemaligen Polen-Litauen lebten, regeln. Katharinas aufgeklärte Vorstellung von der Integration aller Untertanen stand sowohl pragmatischen wie auch konservativen Auffassungen diametral entgegen: Auf Erstere wirkten die Reformen der Zarin zu idealistisch und illusorisch, die Anderen sahen dadurch die bestehende Gesellschaftsordnung gefährdet. Beispielsweise versuchte Katharina, die die jüdische Bevölkerung zum Handels- und Kaufmannsstand zählte,4 die osteuropäischen Juden nach der ersten Polnischen Teilung vermehrt in die Städte umzusiedeln, was sich aber in den 1790er Jahren erstens aufgrund der Opposition christlicher Stadtbürger und Magistrate als undurchführbar erwies.5 Zweitens war in den ländlichen Gebieten Polens die feudale Bindung (Posredničestvo/Faktorstvo)6 der jüdischen Pächter an ihre polnischen Lehnsherren aus der Szlachta (polnischer Landadel) zu gefestigt, als dass eine Zwangsumsiedlung in die Städte hätte gelingen können.
Die Regierung konnte der fortschreitenden Verarmung der jüdischen Bevölkerung, die sich auch auf die Steuereinnahmen des Russischen Reiches auswirkte, kein schlüssiges Konzept entgegensetzen. Die Verarmung der jüdischen Gemeinden war für die Zarin eine Erblast Polen-Litauens, das die Kahale (jüdische Gemeinden) als Steuerorgane gebraucht, sie aber im Lauf des 17. und 18. Jahrhunderts durch immense Erhöhungen der Steuerlast zunehmend in die Verschuldung getrieben hatte.7 Unter russischer Herrschaft blieb die Funktion der Kahale als Organe der Steuereintreibung zunächst erhalten.
In ihren letzten Regierungsjahren vernachlässigte Katharina die Große, wie später auch ihre Nachfolger, die anfangs von ihr betriebene integrative Politik8 zunehmend, die Juden wurden im Russischen Reich wie ehedem als Sondergruppe geführt. Unter massivem Druck der russischen Kaufleute wurde die Einwanderung jüdischer Bürger nach Moskau und in die Gebiete des russischen Kernlands verboten.9 Dies harmonierte mit den traditionellen russischen Vorstellungen vom ethnisch-religiös homogenen Kernland.10 In diesem Sinn führte Zar Alexander I. (1777–1825) im Jahr 1804 für die Juden in den eroberten polnischen Gebieten einen Ansiedlungsrayon (Gebiet im westlichen Teil des Russischen Reiches, über dessen Grenzen hinaus sich Juden weder ansiedeln noch arbeiten durften) ein, der später als Čerta postojannoj evrejskoj osedlosti (Grenze der dauerhaften Besiedlung für Juden) bezeichnet wurde. Die Čerta blieb bis zum Ende des Zarenreichs erhalten,11 wenn auch faktisch die strikte Durchführung der Ansiedlungsbeschränkungen in Einzelfällen vernachlässigt wurde – ein Beleg dafür, dass die offizielle zaristische Herrschaftslinie wegen der korrupten Provinzialbürokratie nicht immer und überall im Russischen Reich ihren Willen durchsetzen konnte. Es ist daher anzunehmen, dass die Čerta eher als permanente Drohung an die jüdische Bevölkerung gerichtet war und als mögliches Ventil zur kurzzeitigen Lösung soziopolitischer Spannungen eingesetzt wurde, als jemals im Sinn einer strikt zu handhabenden Ausführungsbestimmung gedacht war.12 Ein Beispiel für das Drohpotential der mit dem Ansiedlungsrayon verbundenen Bestimmungen war die Ausweisung der Moskauer Juden im Jahr 1891.13 Dies zeigt einerseits, dass die Čerta nicht sehr streng gehandhabt wurde – da Moskau außerhalb des Ansiedlungsrayons lag und trotzdem Juden in dieser Stadt gelebt hatten –, andererseits aber als soziopolitisches Instrument unter Umständen Verwendung finden konnte. Ab 1861 bestand für Juden mit Hochschulabschluss keine Bindung mehr an die Čerta.14
Im 19. Jahrhundert hatten vor allem zwei politische Beschlüsse des Russischen Reichs negative Auswirkungen auf die jüdischen Bürger: Erstens verbot die russische Regierung im Jahr 1812 den Juden die Ausübung der Propinacja (Monopol auf die Produktion und den Vertrieb von Alkohol).15 Neben der Zwangsumsiedlung in die Städte durch die russischen Zaren trug dies zur Pauperisierung der jüdischen Schicht bei, da für viele Juden durch Pachtverträge mit dem Landadel die Produktion und der Vertrieb von Alkohol die finanzielle Lebensgrundlage bildeten. Als Folge des Verbots wanderten viele verarmte jüdische Landpächter in die Städte ab.16 Im polnischen Feudalsystem war die Propinacja auch die Haupteinnahmequelle der Szlachta, die ihr Alkoholmonopol an die meistbietenden – meist jüdischen – Bewerber verpachtete. Gerade die Mittelstellung des Land- oder Monopolpächters zwischen den Adligen und den nicht-jüdischen Bauern sorgte beständig für soziale Spannungen, die zusätzlich von der Kirche, die den Sittenverfall der christlichen, leibeigenen Bauern befürchtete, moralisierend geschürt wurden.17
Zweitens beendete die Abschaffung der Kahals-Institution als örtliche Ritus- und Steuergemeinde18 im Jahr 1844 eine der ältesten jüdischen Organisationsformen in Osteuropa, was für die russische Regierung aber gleichzeitig den ersten Schritt zum modernen Verwaltungsstaat bedeutete.
Der komplexe, multikausale Zusammenhang von Minderheitenpolitik und Wirtschaftsentwicklung im Zarenreich führte gerade durch die Schließung der Kahale zu einer frappanten Zunahme der Armut innerhalb der jüdischen Bevölkerung, zumal im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine starke Tendenz zur Urbanisierung unter den Juden zu verzeichnen ist. Das städtische Judentum, das sich traditionell aus einer kleinen Oberschicht von Kaufleuten und einer großen Zahl an Kleinhändlern und Handwerkern (z.B. Krämer, Schuhmacher, Textilienhändler u.Ä.) zusammensetzte, schwoll durch die Masse von ehemaligen Landbewohnern, die auf der Suche nach einer neuen Lebensgrundlage in die Städte gezogen waren, stark an. Dieser Prozess gestaltete sich regional unterschiedlich: Im Osten und Südosten – in den wirtschaftlich unterentwickelten Regionen – bildeten die Shtetl (Gemeinden mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil) weiterhin die Lebenswelt vieler Juden, während im polnischen und litauischen Gebiet die Industrialisierung und damit der Anreiz zum Umzug in größere Städte deutlich stärker war.19 Dadurch entwickelte sich in den Städten ein jüdisches Proletariat,20 das mit dem 1897 gegründeten Bund (Algemeyner Yidisher Arbeter Bund in Lite, Poyln un Rusland) eine eigene Arbeiterbewegung hervorbrachte, die im 20. Jahrhundert eine große politische Bedeutung gewinnen sollte.21 Diese gewerkschaftliche und kulturelle Organisation verstand sich als national- und säkularjüdisch22 und wies insofern Parallelen zur Entwicklung der anderen Nationalbewegungen in Ost- und Südosteuropa im 19. Jahrhundert auf.
Im Rahmen dieser Entwicklungen im 19. Jahrhundert kam es seit den Polnischen Teilungen zu Migrationsströmen. Das Ende Polen-Litauens bedeutete für seine Bewohner zugleich eine Grenzverschiebung zwischen den einzelnen Staaten und damit auch die neue staatliche Zuordnung der jüdischen Bevölkerungsteile. Während die Einwanderung nach Russland durch die Einführung des Ansiedlungsrayons weitgehend unmöglich war, ergab sich für die Juden Galiziens, das dem Habsburger Reich zugefallen war, und für die nun preußischen Untertanen der Provinz Posen die Möglichkeit zur Ansiedlung in Mitteleuropa. Vor allem größere Städte und die Hauptstädte Preußens und des Habsburger Reiches kamen für die jüdischen Umsiedler in Frage – nicht zuletzt wegen der guten Chancen auf dem Arbeitsmarkt in diesen deutlich industrialisierteren Regionen. Im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergrößerte sich die Zahl der möglichen Zielorte der Migration: Neben dem traditionellen Palästina eröffnete sich zusätzlich die attraktive Option, sich in Westeuropa anzusiedeln. Mit dem Ausbau der transatlantischen Infrastruktur wanderten gerade jüngere Menschen zunehmend auch in die USA23 und die lateinamerikanischen Staaten aus.24 Allein zwischen 1881 und 1897 verließen ca. eine halbe Million Juden, etwa zehn Prozent der bei der russischen Volkszählung im Jahr 1897 registrierten 5,2 Millionen Juden,25 ihre osteuropäische Heimat.26 Eine weitere Ursache dieser Massenauswanderung waren antijüdische Pogrome im Zarenreich, deren Höhepunkt in die spannungsreiche Zeit zwischen 1903 (Pogrom von Kishinev) und 1905 (ca. 500 Pogrome während des Revolutionsversuchs) fiel.27 Der Auswanderung der jüdischen Russen nach Übersee ging meist die Binnenmigration vom Shtetl in die größeren Städte voraus, wo leichter Arbeitsplätze zu finden waren.
Wegen der in Osteuropa verspätet einsetzenden Industrialisierung und der dadurch bedingten schlechten Arbeitsmarktsituation siedelten viele Juden, um nicht zu weit von ihren Familien entfernt zu sein, in die mitteleuropäischen Metropolen, allen voran Wien, um.28 Diejenigen, die nicht in Wien blieben oder die in den polnischen und galizischen Städten keine Zukunft für sich sahen, nutzten die Möglichkeit, in die USA oder andere amerikanische Staaten auszuwandern, um dort ein ganz neues Leben beginnen zu können.
Mit dem rasanten Bevölkerungswachstum der Juden verschlechterte sich ihre wirtschaftliche Situation in Osteuropa massiv. Berichte von Verwandten, die schon ausgewandert waren, beispielsweise in die USA, vermittelten ein attraktives Bild von den ökonomischen und individuellen Möglichkeiten dieses Landes.29
Gesondert von den eben beschriebenen Entwicklungen in Russland muss Ungarn betrachtet werden. Dort siedelten sich Juden in großer Zahl erst nach den drei Teilungen Polens, in erster Linie aus dem nun zur Habsburger Monarchie gehörigen Galizien, an. Diese Einwanderungswelle erreichte Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Um 1910 lebten schätzungsweise 930.000 Juden in Ungarn, was etwa fünf Prozent der Bevölkerung ausmachte.30 Der Sonderweg, den Ungarn in seinem Umgang mit den jüdischen Bürgern einschlug, zeigte sich im 19. Jahrhundert vor allem an der hier verfolgten Magyarisierung, wodurch sich vor allem in Budapest eine große ungarisch-aufgeklärte jüdische Schicht herausbildete. Diese Entwicklung fand ihren Ausdruck in der raschen Ausbildung eines liberalen Judentums (sogenannte Neologie) mit einem reformierten Ritus; den Neologen standen die orthodox bzw. chassidisch geprägten Peripheriegebiete in den Südkarpaten und in einzelnen Regionen des heutigen Rumänien gegenüber.
Südosteuropa: Das Osmanische Reich
Die politischen Voraussetzungen auf dem Balkan waren völlig andere als in Osteuropa. Im 19. Jahrhundert geriet der Vielvölkerstaat des Osmanischen Reichs zunehmend in ethnische und wirtschaftliche innere Krisen. Unter dem Einfluss der Nationalbewegungen sagten sich die Einzelvölker sukzessive von der Hohen Pforte (Regierung des Osmanischen Reichs) los und gründeten eigene Nationalstaaten. Die eruptive Kraft der Opposition gegen die Herrschaft der Sultane ergab sich aus dem ethnoreligiösen Nationenverständnis vieler nicht-islamischer Untertanen, die ihre Identität als mit der eigenen Religionsgemeinschaft verzahnt verstanden.31 Das Millet-System regelte zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert den Minderheitenstatus der Nichtmuslime und die Autonomie von Religionsgemeinschaften im Osmanischen Reich. Die Millets (Religionsgemeinschaften) wurden nicht auf der Basis von ethnischen, sondern allein religiösen Gesichtspunkten gebildet. Mit der Unterscheidung von Muslimen und Dhimmis ("Schutzbefohlene", also Christen und Juden, die nach dem islamischen Recht als Angehörige einer Schriftreligion besonderen Bestimmungen unterlagen) wurde diese gesellschaftspolitische Bevölkerungsstrukturierung aus der Frühen Neuzeit im 19. Jahrhundert zum Anstoß für die Separationsbestrebungen der meisten Einzelvölker in Südosteuropa. Die bisherige Trennung von Volks- und Religionszugehörigkeit ließ sich mit dem modernen Verständnis von Nation und Nationalstaat nicht verbinden. Die Juden nahmen allerdings einen Sonderstatus ein, da sie keinen Territorialanspruch auf dem Balkan geltend machen konnten.
In der Tanzimatperiode (1839–1876), die im Jahr 1839 mit dem Reskript von Gülhane einsetzte, wurde das Millet-System reformiert. Sultan Abdülmecid I. (1823–1861) beendete die bisherige gesellschaftliche Grundunterscheidung zwischen muslimischen Untertanen und Dhimmis. Er führte ein modifiziertes System verschiedener Millets ein, das bei den Dhimmis nicht mehr primär nach der religiösen Zugehörigkeit zum Christentum bzw. Judentum unterschied, sondern die Klassifizierung nach dem Nationalbewusstsein der unterschiedlichen Volksgruppen vornahm. Diese Volksgruppen behielten zwar ihre Autonomie innerhalb des Osmanischen Reichs, sollten aber durch die Garantie des offenen Bildungs- und Ämterzugangs gesamtgesellschaftlich gleichberechtigt werden. Diese Reformen kamen vor allem dem griechischen und armenischen Millet, aber auch den Juden, zugute:32 Beispielsweise wurde im Jahr 1835 das Amt des Haham başı33 in Istanbul eingeführt und mit Abraham Levi Paşa (im Amt von 1835−1839) besetzt. Auch andere Städte im Osmanischen Reich besaßen eigene Oberrabbiner, aber der Primus inter pares war der Oberrabiner von Istanbul, der zugleich als offizieller Repräsentant der Judenheit im Osmanischen Reich fungierte. Die Tanzimatperiode wurde 1856 mit dem İslahat fermanı (Reformreskript) bekräftigt, aber danach setzte mit Sultan Abdülhamid II. (1842–1918), der von 1876 bis 1909 regierte, und dessen konservativer politischer Linie das Ende der Reformperiode ein.34 Die Modernisierung des Reichs erstreckte sich weniger auf die Integration der verschiedenen Völker im Osmanischen Reich, als vielmehr auf die drei Bereiche Militär (in dem die Macht der Janitscharen eine ständige Bedrohung für den Hof bedeutete), Zulassung zur staatlichen Verwaltung und Bildung sowie zeitgemäße Infrastruktur.
Letztlich jedoch erwies sich die Neufassung des Millet-Systems als in sich selbst widersprüchlich. Im Zuge der nationalen Bewegungen wollten die Millets auf dem Balkan nicht auf eine Emanzipation im Osmanischen Reich warten, sondern eigene Nationalstaaten gründen. Die Separationsbestrebungen durch die ethnoreligiöse Differenzierung der einzelnen Völker erwiesen sich als zu stark und die Reformen der Hohen Pforte wurden zu spät durchgeführt, um diese einzudämmen.
Allerdings sahen die Juden im Osmanischen Reich diese Separationsbestrebungen kritisch. Die jüdischen Einwohner auf dem Balkan und im Westen Kleinasiens waren vor allem sephardisch geprägt. Durch das Alhambra-Edikt aus dem Jahr 1492 waren die sephardischen Juden von der iberischen Halbinsel vertrieben worden und viele hatten sich im Osmanischen Reich niedergelassen. Dieses war für sie der Garant für Frieden und Sicherheit. Die neu entstehenden Nationalstaaten dagegen wurden von den sephardischen Einwanderern als potentielle Träger von Antisemitismus gesehen, weshalb diese den Fortbestand des zerfallenden Osmanischen Reichs unterstützten. Innerhalb der jüdischen Bevölkerung verschafften sich zur gleichen Zeit traditionskritische Reformvorhaben Geltung: Der anachronistisch erscheinende Ritualmordprozessvon Damaskus35 im Jahr 1840 führte zur Unterstützung der südosteuropäischen Juden durch westliche Regierungen und der dort ansässigen haskalah-orientierten Kreise.36 Unter der Vermittlung der Francos37 und Aschkenasen im Osmanischen Reich38 wurde außerdem eine große Anzahl von Schulen in Trägerschaft der Alliance Universelle Israélite (AUI)gegründet. Diese sollten den osmanischen Juden durch eine westliche Ausbildung bessere Berufsaussichten und einen modernen Zugang zur eigenen Tradition ermöglichen. Auch wenn die AUI in den orthodoxen Gemeinden im Osmanischen Reich weithin nicht akzeptiert wurde,39 war der Erfolg dieser Schulen doch gewaltig. Mit ihren pragmatischen Bildungsprogrammen trugen sie dazu bei, die im 19. Jahrhundert einsetzende Pauperisierung der jüdischen Bevölkerung zu kompensieren, deren Ursache in der wirtschaftlichen Konkurrenz zu den Armeniern und im generellen Abschwung des Handelssektors lag.
Die Nationalstaaten Serbien, Griechenland, Bosnien, Kroatien
Serbien war das erste Land, das sich im 19. Jahrhundert vom Osmanischen Reich lossagte. Die Serben errangen im Zweiten Serbischen Aufstand (1815–1817) unter Miloš Obrenović (1783–1860) einen autonomen Status, standen jedoch weiterhin unter osmanischer Suzeränität. Erst 1867 konnte sich die Obrenović-Dynastie endgültig von der Hohen Pforte lösen. In Serbien waren aber bereits in den Jahren 1846 und 1861 die ersten antijüdischen Gesetze, die sich gegen die jüdische Landbevölkerung richteten, erlassen worden. Den serbischen Juden wurde der Erwerb von Grund und Boden verboten, um damit ihre Vertreibung aus den ländlichen Gebieten zu initiieren. Als Folge davon emigrierte der Großteil der jüdischen Landbevölkerung in die Hauptstadt. Einige rechtliche Garantien wurden den Juden zwar in der Verfassung von 1869 zuerkannt; die tatsächliche Integration erfolgte aber erst im Jahr 1888 durch zunehmenden außenpolitischen Druck. Serbien wurde gezwungen, die Vereinbarungen des Berliner Kongresses von 1878und des Abkommens mit dem Osmanischen Reich von 1887 zum Schutz der Juden in Serbien zu erfüllen.
Griechenland wurde 1830 unabhängig, allerdings nur als Rumpfstaat, zu dessen Gebiet die große jüdische Gemeinde von Saloniki nicht gehörte. Der Streit um diese Stadt wurde später während des Ersten Weltkriegs politisch virulent (siehe Abschnitt 2.10).
Bosnien wurde im Jahr 1878 von Österreich-Ungarn okkupiert und im Jahr 1908 annektiert. Die große jüdische Gemeinde in Sarajevo und die bosnischen Muslime gehörten nun zum Habsburger Reich. Einige aschkenasische Juden aus Kroatien siedelten deshalb in die bosnische Hauptstadt um.
In Kroatien selbst ist zu unterscheiden zwischen den ehemals venetianisch-italienisch beeinflussten Juden in Dalmatien und den Juden im Norden des Landes, der seit dem Jahr 1102 zu Ungarn gehört hatte. Die neuzeitliche Ansiedlung von Juden in der Hauptstadt Zagreb begann erst im 19. Jahrhundert.40 Die Entwicklung der aschkenasischen Judenheit im Land lief in weiten Strecken zu der in Ungarn parallel: Seit dem Jahr 1841 spaltete sich die jüdische Gemeinde in die Mehrheit der reformgesinnten Neologen und in eine kleine Gruppe von Orthodoxen auf, die erst im Jahr 1873 offiziell als Kultusgemeinde anerkannt wurde, aber diese Anerkennung schon im Jahr 1906 wieder verlor.41 Nach der Okkupation Bosniens durch Österreich-Ungarn im Jahr 1878 siedelten sich in Zagreb auch einige sephardische Familien an. Seitdem bestand die jüdische Gemeinde aus den drei Gruppen der aschkenasischen Neologen, die die Mehrheit bildeten, der ebenfalls aschkenasischen, segregationistischen Orthodoxie und den Sepharden. Im Gegensatz zur Situation in Sarajevo gehörte der Großteil der Juden, ebenso wie in Ungarn, der städtischen Mittelschicht an.42 Statt sich des Ungarischen oder Kroatischen zu bedienen, kommunizierten sie im täglichen Umgang auf Deutsch, um ihre Identifikation mit dem Habsburger Reich, aus dessen deutschsprachigen Gebieten sie ursprünglich stammten, zu betonen.
20. Jahrhundert
Einführung
Die Entwicklung in Ost- und Südosteuropa in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen weist in Bezug auf die jüdische Bevölkerung sowohl Länder und Landstriche übergreifende Gemeinsamkeiten als auch einzelstaatliche Unterschiede auf. Gemeinsam ist allen nach dem ersten Weltkrieg entstandenen Nationalstaaten – sofern sie nicht schon im 19. Jahrhundert entstanden waren –, dass sie aus den großterritorialen Monarchien der Habsburger-Dynastie, des russischen Zarenreichs oder des Osmanischen Reichs hervorgingen. Dementsprechend wurden die neu gegründeten Nationalstaaten nicht nur durch nationale Identitäten, sondern immer noch implizit durch die alten regionalen Zuordnungen strukturiert.
Das Judentum, das sich im 19. Jahrhundert in Ost- und in Südosteuropa mit den Regierungen der Großstaaten arrangiert hatte, musste sich nach dem Ersten Weltkrieg gesellschaftlich und politisch neu orientieren. Die tendenziell konservativ ausgerichteten Aschkenasen und Sepharden hielten zunächst an den Ordnungen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg fest und gerieten so in Spannung zu den neuen Staatsauffassungen, zumal Integrationskonzepte wie in der Vorkriegszeit für die Juden in den meisten Ländern nicht mehr in Frage kamen.
Die jüdische Distanz gegenüber einer voreiligen Assimilation weckte in den jeweiligen Mehrheitsbevölkerungen einen offenen oder latenten Antisemitismus, der noch teilweise mit der Angst vor der starken, als jüdisch wahrgenommenen Sowjetmacht im Osten oder mit der Abneigung gegen den Zionismus gekoppelt war. Aber obwohl autoritär-nationalistische Regierungen in den meisten ost- und südosteuropäischen Ländern an der Macht waren, konnte sich keine Staatsführung etablieren, die eine antisemitische Ideologie zur Staatsraison hätte erklären und in Wahlen die Mehrheit der Bevölkerung hätte gewinnen können. Das tragische Schicksal der aschkenasischen Juden in Osteuropa und der Sepharden auf dem Balkan, die über Jahrhunderte hinweg in diesen Gebieten fest verwurzelt waren und das Gros der jüdischen Diaspora bildeten, kam durch Druck von außen zustande – durch die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und die Expansion des nationalsozialistischen Deutschland: Die Nationalstaaten wurden direkt unterworfen oder es wurden Marionettenregime installiert, die mit dem Hitler-Regime mehr oder weniger kooperierten.
Die Zweite Polnische Republik
Polen konnte sich im Jahr 1918 erstmals seit den drei Polnischen Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts wieder als unabhängiger Nationalstaat etablieren. Nach den Ukrainern bildeten die Juden die zweitgrößte Minderheit im Staat. Das polnische Judentum war, bedingt durch die geschichtlichen Entwicklungen, ausgesprochen inhomogen und bestand aus vier Gemeinschaften: den galizischen Juden aus dem ehemaligen Österreich-Ungarn, den Juden im industrialisierten Kongresspolen,43 den Juden aus den von Russland annektierten Gebieten an der litauischen Grenze und in Wolhynien sowie den ehemals preußischen Juden, die gleichfalls einen hohen Akkulturationsgrad aufwiesen.
Durch die Intervention vor allem amerikanischer Delegierter auf der Friedenskonferenz in Versailles wurden den Juden in Polen im Jahr 1919 weitgehende Minderheitenrechte zugestanden. Diese umfassten etwa das Recht auf eigene Schulen und die Freiheit der selbstbestimmten Religionsausübung einschließlich des Rechts, die eigenen Feiertage öffentlich einzuhalten. Die letzten Gesetze, die jüdische Mitbürger diskriminierten, wurden in Polen erst 1931 abgeschafft.44
Das Judentum im Zwischenkriegspolen erwies sich im Vergleich zu den Nachbarstaaten als am stärksten politisch aktiv, gleichzeitig war es aber auch gespalten, vor allem in der Frage des Zionismus: Die jüdischen Parteien lassen sich in vier Kategorien einteilen. Die Orthodoxen (d.h. auch die Chassidim) formierten sich am erfolgreichsten in der Partei Agudas Yisroel (Agudat Israel), um das Ziel einer kulturell und gesellschaftlich abgesicherten traditionellen Lebenswelt zu verwirklichen, was die Pflege der jiddischen Sprache einschloss.45 Den Bundisten, der säkularistischen jüdischen Arbeiterpartei, die ebenfalls (aber aus Gründen eines säkularen Volksverständnisses) das Jiddische fördern wollte, gelang erst in den 1930er Jahren – letztlich zu spät – die Kooperation mit den polnischen Sozialisten (PPS).46 Weiterhin existierten die in sich wieder mehrfach gespaltenen Zionisten, allen voran die Partei Poale Zion ("Arbeiter Zions"), die mit dem Zionismus auch das Neuhebräische förderten.47 Außerdem gab es die Assimilationswilligen, die sich aber nicht parteipolitisch gruppierten.
In Polen konnte kein eigener, diese verschiedenen Richtungen integrierender, jüdischer Dachverband gegründet werden, so dass sich die jüdische Parteipolitik als zu schwach und von außen lenkbar erwies.48
Nach den innenpolitisch relativ friedlichen 1920er Jahren erfolgte in Polen noch vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs in den 1930er Jahren ein antisemitisch konnotierter Rechtsruck, der sich nach dem Tod des führenden Politikers Józef Piłsudski (1867–1935) im Jahr 1935 zuspitzen sollte: Der Sejm (Kammer des polnischen Parlaments) verabschiedete im Jahr 1936 ein Schächtungsgesetz, das in Regionen mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil von unter drei Prozent die rituelle Schlachtung stark einschränkte. Es folgten Maßnahmen zur "Förderung" der Auswanderung von Juden und verschiedene Boykottaktionen jüdischer Läden,49 bevor Polen durch den Überfall des nationalsozialistischen Deutschland am 1. September und den Angriff der Sowjetarmee am 17. September 1939 seine Unabhängigkeit wieder verlor.
Litauen nach dem Ersten Weltkrieg
Litauen war in der Zwischenkriegszeit ein agrarisch geprägter Kleinstaat, der seine eigentliche Hauptstadt Vilnius (deutsch: Wilna, polnisch: Wilno) an Polen verloren hatte. Stattdessen wurde Kaunas (russisch: Kovno; polnisch: Kowno) der provisorische Regierungssitz. Dies bedeutete auch für die litauischen Juden den Verlust ihres geistigen Zentrums, und der jüdische Bevölkerungsanteil schrumpfte auf 7,3 Prozent.50 Andererseits setzen die Juden große Hoffnungen in diesen Staat, der zu Beginn große Kooperationsbereitschaft zeigte und ihnen weitgehende Autonomierechte gewährte. Der jüdische Bevölkerungsanteil wurde als nationale Minorität eingestuft, und der junge Staat – der im Gegensatz zu Polen noch ein geringes Nationalbewusstsein entwickelt hatte – förderte in den ersten Jahren unter Augustinas Voldemaras (1883–1942), der 1918 Ministerpräsident wurde, die Gleichberechtigung der Juden. Symbolkraft besaßen jene Verordnungen, die in Kaunas sogar eine Straßenbeschilderung in hebräischen Buchstaben einführten und das Jiddische im litauischen Parlament zuließen. Die Hoffnung der Juden auf ein "East European Switzerland"51 erwies sich jedoch als trügerisch, da die für die Juden vorteilhaften Bedingungen auf einer "marriage of convenience only"52 zur Gründungszeit des Staates beruhten, als die litauischen Delegierten für die internationale Unterstützung eines eigenständigen litauischen Staates auf die Hilfe zionistischer Interessengruppen gesetzt hatten. Mitte der 1920er Jahre wurden die Rechte der jüdischen Minderheit schrittweise wieder eingeschränkt. Trotzdem pflegte Litauen einen vergleichsweise positiven Umgang mit den Juden bis weit in die 1930er Jahre hinein.53 Das jüdische Kulturschaffen florierte und so auch die vom Staat bezuschussten eigenen Schulen, besonders diejenigen in zionistischer Trägerschaft, die in Litauen stark verbreitet waren.
Die Sowjetunion
Ein ähnlicher Wandel, allerdings unter anderen Vorzeichen, lässt sich in der Sowjetunion beobachten: Die antijüdischen Pogrome der Vergangenheit wurden nach der Oktoberrevolution im Jahr 1917 von den Bolschewiki verurteilt,54 so dass die junge jüdische Generation innerhalb Russlands Sympathien für das neue System entwickeln konnte. Gemäß der frühen leninistischen Politik wurde den Juden der Zugang zu den höchsten Staats- und Parteiämtern geebnet.55 Selbstverständlich ging dies mit einer atheistisch verstandenen Säkularisierung der betreffenden Generation einher.56 Durch die Aufhebung des zaristischen Ansiedlungsrayons nach der Februarrevolution entstand eine Massenmigration innerhalb der Sowjetunion, so dass im Jahr 1939 ca. 40 Prozent der Juden aus der Čerta ausgewandert waren. Dies zeigte sich im Jahr 1926, als der jüdische Bevölkerungsanteil in Moskau auf 6,5 Prozent anstieg.57 Das Programm der Korenizacija58 in den 1920er Jahren diente der Systemstabilisierung durch die Aufnahme loyaler Nicht-Russen in die Führungskader. Andererseits entfernte dies die Juden von ihrer Religion und Geschichte und führte zum Anstieg des Antisemitismus in der nicht-jüdischen Bevölkerung.59 Gerade zionistische Ambitionen wurden nun verfolgt und das Hebräische zugunsten des Russischen (und gelegentlich des Jiddischen) verdrängt.60 Etwa ab dem Ende der 1920er Jahre änderte sich die Judenpolitik im Land, als im parteiinternen Machtkampf Josef Stalin (1879–1953) gegen das jüdische Triumvirat aus Lew Trotzkij (1879–1940), Grigori Sinowjew (1883–1936) und Lew Kamenew (1883–1936) siegte. Seinen Höhepunkt erreichte dieser Wandel während der Säuberungen Stalins seit 1948 und hielt bis zu seinem Tod im Jahr 1953 an, sodass bereits ab 1939 Juden gezielt aus den Führungspositionen entfernt wurden. Stalins Gründe für sein Misstrauen gegenüber den Juden waren in erster Linie der Spionageverdacht in den Zeiten des Kalten Krieges und die Gründung des Staates Israel, die ihn an der jüdischen Loyalität in den eigenen Reihen zweifeln ließ. Die Diskriminierung und Verfolgung von Juden in der Sowjetunion galt offiziell als antizionistisch und nicht als antisemitisch motiviert. Bereits in den 1920er Jahren glaubte die sowjetische Führung den Antisemitismusvorwurf mit der Begründung, die Demontage der alten jüdischen Welt sei vor allem die Tat jüdischer Bolschewiki gewesen, von sich weisen zu können.61
Die Tschechoslowakei
Das Judentum in der Tschechoslowakei war, wie der Staat selbst und seine konstitutiven Völker, inhomogen. Dies zeigte sich in einem West-Ost-Gefälle mit drei faktisch verschiedenen Judentümern. In Tschechien gab es eine Mehrheit von reformorientierten und säkularisierten Juden, die sich kulturell an die vergangene Habsburgerdynastie und die deutsche Sprache anlehnten und im deutschen Kulturschaffen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wichtige Positionen innehatten (z.B. Franz Kafka (1883–1924), Victor Ullmann (1898–1944)). In der Slowakei gab es eine starke Orthodoxie aus den ehemaligen ungarischen Kronlanden mit Bratislava (Preßburg) als Zentrum. Schließlich gab es in Subkarpathien den Chassidismus unter vormals galizischem Einfluss. Auch statistisch ist ein Gefälle bemerkbar, da im Jahr 1921 die Juden in Tschechien einen Bevölkerungsanteil von nur 1,1 Prozent ausmachten, während der Anteil im Osten auf bis zu 14,1 Prozent anstieg.62 Das liberale tschechische Judentum war eine städtische Minderheit, während die überwiegende Mehrheit der jüdischen Einwohner in der Slowakei und in Subkarpathien in Dörfern und Kleinstädten lebte. Auch der Umgang mit der jüdischen Minorität unterschied sich in beiden Landesteilen: Tschechien besaß eine lange säkulare Tradition, während in der Slowakei der katholische Klerus eine große Bedeutung in der Gesellschaft hatte und es hier in der Zwischenkriegszeit oft einen öffentlichen, religiös motivierten Antijudaismus gab.
Tonangebend war in den 1920er Jahren die offene Politik des ersten Staatspräsidenten Tomáš Masaryk (1850–1937), und noch während des Folgejahrzehnts war die Tschechoslowakei das reichste osteuropäische Land, in dem es keine bedeutenden ökonomischen Spannungen gab, die sich antisemitisch hätten entladen können.63 Mit dem Zweiten Weltkrieg änderte sich die Situation schlagartig, da die Slowakei nach dem Münchner Abkommen im Jahr 1938 autonom wurde und eine klerikalfaschistische Regierung einsetzte, die für viele dortige Juden der Anlass zur Auswanderung nach Ungarn werden sollte. In Anlehnung an Ungarn (siehe Abschnitt 2.6) wurde ein Judengesetz erlassen, bevor unter dem Staatspräsidenten Jozef Tiso (1887–1947)64 im Zweiten Weltkrieg die Deportationen in die Vernichtungslager einsetzten.
Ungarn
Nach dem Ersten Weltkrieg schrumpfte Ungarn durch den Vertrag von Trianon im Jahr 1920 auf einen Bruchteil seiner ehemaligen Größe zusammen.65 Es entstand ein Nationalstaat ohne die großen nationalen und religiösen Minderheiten, die Ungarn zuvor besessen hatte. Bereits 1919 war es zu einem kurzen sozialistischen Intermezzo mit der Räterepublik Béla Kuns (1886–1939) gekommen, in dessen Regierung 20 von 26 Ministern jüdische Wurzeln hatten, was in dem Staat, der nach der Räterepublik entstand (auch 1919), zu einer antisemitischen Atmosphäre in der Gesellschaft beitrug.
Das Judentum in Ungarn machte 1920 etwa 5,9 Prozent der Bevölkerung aus,66 davon lebte die Hälfte in Budapest, dessen Einwohnerschaft sich zu einem Viertel aus Juden zusammensetze. Die Mehrheit der Budapester Juden waren Neologen, während das Zentrum der Orthodoxie an der tschechoslowakischen Grenze im Norden des Landes lag. Im Zusammenhang mit der Magyarisierungspolitik des 19. Jahrhunderts war das Ungarische die Alltagssprache der dortigen Juden geworden,67 Jiddisch sprach man nur in den orthodoxen Peripheriegebieten an der slowakischen und rumänischen Grenze. Die wohlhabenderen Juden waren zum Großteil in den freien Berufen (Juristen, Ärzte) und im Bankwesen tätig.68 Außerdem waren Mischehen weit verbreitet. Man kann daher von einem an Ungarn orientierten, patriotischen Judentum im Land sprechen, das dem Zionismus sehr skeptisch gegenüberstand.
Gleichwohl war Ungarn ein Staat, der von Beginn an judenfeindliche Gesetze erließ, wie etwa die Einführung eines Numerus clausus an den Universitäten entsprechend dem Bevölkerungsanteil der Juden. Allerdings hielt sich die Diskriminierung in den 1920er Jahren unter Miklós Horthy (1868–1957) in Grenzen, da zu dieser Zeit die Vertreter der Vorweltkriegselite an der Macht waren, die eine eher moderate Position befürworteten.
1932 allerdings ernannte Horthy den Kriegsminister Gyula Gömbös (1886–1936) zum Regierungschef, der später mit dem nationalsozialistischen Deutschland kooperierte. Im Mai 1938 – also während der Krisensituation vor dem Zweiten Weltkrieg – wurde in Ungarn ein Judengesetz erlassen, das einigen Staaten in der Region (z.B. der Slowakei oder dem SHS-Staat) zum Vorbild für gleichartige Gesetzestexte wurde. Es erlegte den Juden wirtschaftliche Sanktionen auf, unter anderem Berufsverbote. Diese Politik wurde durch das zweite Judengesetz im Folgejahr verschärft.69 Die Juden in Ungarn – nun ein Satellitenstaat Deutschlands – wurden Opfer der Shoah. An diesen Ereignissen konnte auch eine befristete Ausnahmeregelung, die für Budapest galt und der die alte, noch aus der k.u.k.-Zeit stammende Unterscheidung zwischen "ungarischen" und "fremden" Juden zugrunde lag, nichts ändern.
Rumänien
Die größten Gebietsgewinne nach dem Ersten Weltkrieg konnte Rumänien verzeichnen, das sich nach den Bestimmungen von Trianon (1920) im Norden und Westen ausdehnen konnte. Dies bedeutete allerdings auch, dass nunmehr lediglich zwei Drittel seiner Bevölkerung rumänisch waren, denen große Minoritäten aus verschiedenen Nachbarnationen gegenüberstanden. Auch die Juden in Rumänien waren bunt gemischt: Abgesehen vom Kernland (Regat), in dem Sepharden wohnten, lebten in Bessarabien und der Bukowina aschkenasische Juden und die ehemals ungarischen Juden im Banat und in Transsilvanien (Siebenbürgen). Diejenigen jüdischen Gruppen aus den ehemaligen Nachbarstaaten, die nun Staatsangehörige Rumäniens geworden waren, orientierten sich aber weiterhin an ihren "Herkunftsländern".70 Die diskriminierende Unterscheidung der Regierung zwischen "einheimischen" Juden und jenen, die nach dem Ersten Weltkrieg hinzugekommen waren, bekam aufgrund der anhaltenden Immigration russischer Juden nach Bessarabien, die vor den Sowjets flohen, eine immer größere Relevanz. Praktisch wirkte sich diese Benachteiligung z.B. dadurch aus, dass von den eingewanderten russischen Juden im Jahr 1939 über 270.000 wieder ausgebürgert wurden.
Auch in Rumänien ging die konservativ-moderate Politik in eine rechtsgerichtete über: zunächst nach dem Putsch König Carols II. (1893–1953) im Jahr 1938, dann mit der Antonescu-Diktatur ab 1940. Nach tumultartigen Boykotts jüdischer Läden läutete im Januar 1941 ein Pogrom in Bukarest (das die Garda de Fier71 organisiert hatte) die Judenverfolgung ein.72 Auch während der Shoah wurde in Rumänien die Aufteilung der Juden in zwei Klassen aufrechterhalten:73 Die Juden der neuen Gebiete wurden nach Transnistrien verschleppt und in die chaotisch organisierten Lager gebracht;74 die Regater Juden blieben durch die Unterstützung ihres Dachverbandes UER75 jedoch weitgehend verschont und konnten sogar Hilfskonvois in die Lager organisieren.76 Der Wechsel Rumäniens auf die Seite der Alliierten 1944 konnte noch einer relativ großen Zahl der rumänischen Juden das Überleben sichern.77
Der SHS-Staat (Jugoslawien)
Das erste Jugoslawien – der SHS-Staat78 – vereinigte Juden aus den Gebieten des früheren Habsburgerreiches, des autonomen Serbiens und des Osmanischen Reichs, also sowohl Aschkenasen wie auch Sepharden. Ähnlich wie im gesamten Land herrschte auch bei den Juden ein wirtschaftliches Nord-Süd-Gefälle bezogen auf die drei jüdischen Zentren Zagreb, Belgrad und Sarajevo. Die Zagreber Aschkenasen wählten parallel zu den Juden in Ungarn einen integrationistischen, an der Haskalah orientierten Zugang zur Gesellschaft. Sie legten das Deutsche bzw. Ungarische im Lauf der Jahre zugunsten des Kroatischen ab und besaßen auch kein eigenes jüdisches Wohnviertel, sondern gehörten mehrheitlich der städtischen Mittelschicht an. Die Sepharden Sarajevos hingegen waren traditionsorientiert, lebten in einem jüdischen Milieu, das noch aus der osmanischen Zeit stammte, und sprachen im Alltag meistens Ladino.79 Die Juden in Belgrad nahmen eine Mittelposition ein und besaßen gute Kontakte zu ihren serbischen Nachbarn – nicht zuletzt weil die identity patterns des serbischen Selbstverständnisses schon seit dem Mittelalter teilweise judaisierende Züge aufwiesen.80 Die Haltung gegenüber der jüdischen Minderheit im SHS-Staat war wohlwollend und weitgehend zuvorkommend: Den Juden wurde ein Autonomiestatus zuerkannt, zu dessen Ausübung sich die Gemeinden der besagten drei Städte im Jahr 1921 zu einem Dachverband mit Sitz in Belgrad zusammenschlossen. 1928 wurde in Sarajevo zur Ausbildung sephardischer und aschkenasischer Geistlicher ein Rabbinerseminar gegründet. Im Jahr 1929 erließ König Aleksandar I. (1888–1934) ein Judengesetz, das unter anderem die Selbstverwaltung der jüdischen Gemeinden erneut bestätigte und den Juden eine Subventionsquote zugestand, die im Vergleich zu den Subventionsquoten für andere Religionsgemeinschaften prozentual am höchsten lag. Außerdem wurden nach diesem Gesetz die jüdischen Feiertage in bestimmten Kontexten staatlich berücksichtigt und jüdischer Religionsunterricht in staatlichen Schulen gewährleistet.81 Zu dieser Zeit vollzog sich in den jüdischen Gemeinden ein Generationenwechsel hin zu einer jüngeren, deutlich politisierteren Generation. Während die Oberschicht dieser jüngeren Generation oft mit dem Kommunismus sympathisierte, folgte die Mittelschicht tendenziell dem Zionismus.
Mit dem Zweiten Weltkrieg setzte die Judenvernichtung von zwei Seiten ein: Der kroatische Marionettenstaat der Ustaše (NDH-Staat),82 dem Bosnien einverleibt wurde, deportierte die Juden Zagrebs und Sarajevos in deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager und in das eigene KZ in Jasenovac. In Serbien dagegen, das im Jahr 1941 direkt von Deutschland okkupiert wurde, wurde als einem der ersten Staaten in der Region die jüdische Bevölkerung nahezu vollständig in die Vernichtungslager verschleppt. In Kroatien konnten sich aufgrund des Klerikalfaschismus noch viele Konvertiten "Arierrechte" erwerben, um dem Tod zu entgehen.83
Bulgarien
Bulgarien besaß eine relativ geringe Zahl an Juden.84 Die Regierungspolitik in der Zwischenkriegszeit war geprägt von einer Bulgarisierung der Minderheiten. In jüdischen Schulen wuchs eine bilinguale Generation heran, die sowohl Bulgarisch als auch Ladino sprach. Obwohl das Land im Zweiten Weltkrieg zu den Achsenmächten gehörte, gab es keine Deportationen von Juden nach Deutschland, wofür der Regierungsstil König Boris' III. (1894–1943), der Protest des Heiligen Synods der bulgarisch-orthodoxen Kirche sowie alliierter Druck auf das Land verantwortlich waren. Dies galt nicht für das besetzte Mazedonien (1941−1944), dessen Juden als Staatenlose galten und deportiert wurden, wenn sie nicht nach Italien flüchten konnten.
Saloniki
Im Jahr 1912 wurde Saloniki von Griechenland, das von Eleftherios Venizelos (1864‒1936) regiert wurde, annektiert, wodurch sich die Situation für die Stadt selbst und die jüdische Mehrheit im "Jerusalem des Balkans" grundlegend wandelte. Das jüdische Ansinnen, Saloniki nicht Griechenland zuzuschlagen, sondern als internationale freie Stadt anzuerkennen, scheiterte.85 Im Jahr 1913 wurde Saloniki durch den Vertrag von Bukarest endgültig griechisch. Der eigentliche Wandel setzte nach dem katastrophalen Brand im Jahr 1917 ein, der drei Viertel der Stadt zerstörte. Venizelos nutzte diese Katastrophe dazu, die Stadt im hellenischen Stil wiederaufzubauen, wobei er das bisherige jüdische Siedlungsgebiet an griechische Käufer vermittelte und so die Juden an die städtische Peripherie drängte. Durch den Bevölkerungsaustausch Anfang der 1920er Jahre (sieh Abschnitt 2.11) wurden Griechen aus dem türkischem Territorium in Saloniki angesiedelt, so dass bereits im Jahr 1926 80 Prozent der Einwohner Salonikis Griechen waren.86 Auch der Zustand der Wirtschaft trug zur Verarmung der jüdischen Gemeinde Salonikis bei: Nachdem das Feuer viele Familien in den Ruin getrieben hatte, wirkte sich in den Folgejahren auch noch die Weltwirtschaftskrise auf die Stadt aus, und die Tabakindustrie ging zugrunde.87 Der Einmarsch deutscher Truppen am 9. April 1941 war der Anfang vom Ende der Juden Salonikis: Es wurden zwei Ghettos eingerichtet, und Juden wurden in die umliegenden Arbeitslager gebracht. Im März 1943 begannen die insgesamt 19 Transporte in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau; dabei wurden fast 50.000 Juden ermordet. Schon im August desselben Jahres lebten keine Juden mehr in Saloniki.88
Die Türkei
In der Türkei war die jüdische Gemeinde vor allem auf die Städte Istanbul, Edirne und Izmir konzentriert; die Juden waren vom Bevölkerungsaustausch mit Griechenland seit 1923 nicht betroffen, wohl aber die Dönme,89 die aus ihrer Hochburg Saloniki in die Türkei emigrieren mussten, da sie aufgrund ihrer "muslimischen" Religion zu den Türken gerechnet wurden. Der Vertrag von Lausanne aus dem Jahr 1923 sah weitgehende Rechte für religiöse Minoritäten vor, die jedoch besonders in den 1930er Jahren durch den kemalistischen "state's exclusivist nationalism"90 eingeschränkt wurden. Obwohl die Türkei im Zweiten Weltkrieg ihre Neutralität erklärte,91 wurden auch hier Gesetze erlassen, die gegen die Minderheiten gerichtet waren – so vor allem horrende Steuererhöhungen, die bei Nichtzahlung eine Abarbeitung in Arbeitslagern vorsahen und wohl den Höhepunkt der Turkifizierungspolitik darstellten. Dieses Gesetz wurde auf diplomatischen Druck bald wieder zurückgenommen, ließ aber viele jüdische Einwohner der Türkei verarmt zurück.