Einleitung
Nach dem Abschluss von Flucht und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs bzw. in der unmittelbaren Nachkriegszeit lebten 1950 in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa noch rund vier Millionen Deutsche. Von 1950 bis 1975 passierten insgesamt ca. 800.000, von 1976 bis 1987 weitere etwa 616.000 als "Aussiedler" bezeichnete Angehörige der deutschen Minderheiten die westdeutschen Grenzdurchgangslager, bis mit der Öffnung des "Eisernen Vorhangs" die Massenzuwanderung begann: Von 1987 an ging die Zahl der Aussiedler vor dem Hintergrund von "Glasnost" und "Perestroika" in der UdSSR rasch nach oben, in den folgenden zwei Jahrzehnten kamen über drei Millionen Aussiedler in die Bundesrepublik Deutschland. Insgesamt wanderten damit von 1950 bis 2010 mehr als vier Millionen Aussiedler zu.1
Demgegenüber zählten das Kaiserreich und die Weimarer Republik nur einige Zehntausend Zuwanderer aus den deutschen Minderheiten, die überdies zu einem Teil in ihre Herkunftsländer zurück- oder nach Übersee weiterwanderten.2 Die folgenden Bemerkungen diskutieren zum einen Erscheinungsformen und Strukturmuster der Zuwanderung von Angehörigen deutscher Minderheiten in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa nach Deutschland von den 1880er bis zu den 1930er Jahren. Gefragt wird zum andern nach der Perzeption dieser Bewegung in Deutschland und nach der Integration – oder auch Nicht-Integration – der "Volksdeutschen fremder Staatsangehörigkeit im Reich"3 vor dem Hintergrund der fundamentalen Unterschiede in der politischen und wirtschaftlichen Situation Deutschlands in den Jahrzehnten vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Der Aspekt der Perzeption ist in der Forschung bislang nur sehr peripher diskutiert worden, deshalb können hier nur einige skizzenhafte Bemerkungen erfolgen.
Förderung des "Deutschtums" im preußischen Osten und "Rückwanderung" russlanddeutscher Siedler im Kaiserreich
Das Deutsche Reich von 1871 galt nationalistischen Kreisen insofern als unvollendet, als eine große Zahl von Siedlern aus den deutschsprachigen Gebieten Mitteleuropas in geschlossenen Gebieten außerhalb des Reiches vor allem in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa lebte. Dazu zählten auch die 1,8 Millionen Menschen "deutscher Muttersprache", die die erste Volkszählung im Zarenreich 1897 auswies.4 Vor diesem Hintergrund etablierte das späte deutsche Kaiserreich Muster der Privilegierung deutschstämmiger Zuwanderer aus dem Osten Europas. Diese Migration wurde als nationale Konsolidierung in bewusster Frontstellung gegen sogenannte fremdvölkische Zuwanderung verstanden. Bereits im Rahmen des 1886 verabschiedeten antipolnischen "Ansiedlungsgesetzes" ging die "Königliche Ansiedlungskommission für die Provinzen Posen und Westpreußen" dazu über, Deutsche im osteuropäischen Ausland zu werben, weil die Zahl der Siedlungsbewerber im Inland immer kleiner wurde. Von den 1888 bis 1914 insgesamt 21.683 angesiedelten Familien – ein Ergebnis, das weit hinter den hochgesteckten Erwartungen zurückblieb – kam mit 5.480 Familien rund ein Viertel aus dem Ausland. Darunter dominierten Familien deutscher Herkunft aus Russland (4.900) vor solchen aus dem österreichisch-ungarischen Galizien (500) und Ungarn (80). Unter den Siedlern deutscher Herkunft aus Russland kam der weitaus überwiegende Teil aus Russisch-Polen (3.540 Familien), der Rest vor allem aus Wolhynien in der nordwestlichen Ukraine.
Da sich die Anwerbetätigkeit der Kommission unter den Angehörigen deutscher Minderheiten vornehmlich auf die Zeit nach 1900 konzentrierte,5 blieben in den anderthalb Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg die Anteile der Siedler aus dem Ausland überproportional hoch. Das Spitzenjahr bildete 1905 mit 42 Prozent. Hans-Siegfried Weber, der mehrfach mit Untersuchungen zur Ansiedlung Russlanddeutscher im Kaiserreich hervorgetreten war, urteilte in einer kurz vor dem Ende des Ersten Weltkriegs erschienenen knappen Überblicksdarstellung zum Thema:
Nur durch die deutschen Rückwanderer war es der Ansiedlungskommission möglich, eine Besiedlungstätigkeit größten Stils durchzuführen, da wir in Deutschland selbst nicht das genügende Menschenmaterial für die Zwecke der Ansiedlung hatten.6
Kaum kleiner als diese Gruppe war jene der vornehmlich für die landwirtschaftlichen Güter des preußischen Ostens angeworbenen Landarbeiter aus den deutschen Minderheiten. Auch hier ging es um die Verdrängung der Polen, in diesem Fall aber nicht der preußischen Staatsangehörigen polnischer Nationalität, sondern der jährlich zu Hunderttausenden in die preußische Landwirtschaft strömenden Arbeitswanderer aus dem russischen Zentralpolen und dem österreichisch-ungarischen Galizien.7 Insgesamt rund 26.000 Russlanddeutsche brachte der 1909 in Berlin mit massiver Unterstützung preußischer Regierungsstellen gegründete "Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderer" im Jahrfünft vor dem Ersten Weltkrieg nach Deutschland.8 Die Zahl der russlanddeutschen Landarbeitskräfte blieb allerdings deutlich hinter den jährlichen Zuwanderungen auslandspolnischer Landarbeiter zurück, die 1909 rund 216.000 betrugen und bis 1914 auf ca. 251.000 anstiegen.9
Das Ziel der Anwerbung von als "Rückwanderern" bezeichneten Angehörigen der deutschen Minderheiten wurde klar formuliert: Die Folgen der "Landflucht" könnten für die ostelbische Landwirtschaft durch die Zuwanderung gedämpft, unerwünschte ausländisch-polnische Saisonarbeitskräfte10 ersetzt und den "patriarchalischen Beziehungen zwischen Gutsherrschaft und Arbeiterschaft, die heute schon so oft fehlen, eine neue Grundlage gegeben werden". Außerdem habe die Rekrutierung russlanddeutscher Landarbeiter auch eine innenpolitische Stabilisierungsfunktion:
Wir dürfen nicht vergessen, daß die sozialdemokratische Partei ihre Anstrengungen mit aller Energie darauf richtet, den Mangel an Landarbeitern zu einer dauernden Erscheinung zu machen. Die Agenten der Partei sind neuerdings besonders organisiert zum Zweck der Aufhetzung der ausländischen landwirtschaftlichen Saisonarbeiter. Durch richtige Behandlung der deutschen Rückwandrer kann diesen Bestrebungen ein fester Damm entgegengesetzt werden.11
Darüber hinaus wurde in der vor allem vom extrem nationalistischen Alldeutschen Verband unterstützten Werbung für die Rekrutierung der "Rückwanderer" betont, dass die zuwandernden russlanddeutschen Familien sehr kinderreich seien. Dieser Sachverhalt biete nicht nur eine langfristige Perspektive für das Ziel einer Verdrängung der Polen, sondern auf diesem Weg werde dem preußischen Heer auch eine stattliche Anzahl Rekruten zugeführt, die sonst in ausländischen Heeren ihrer Dienstpflicht hätten genügen müssen.12 Der Gründer und Leiter des Fürsorgevereins für deutsche Rückwanderer, Alfred Borchardt, zuvor landwirtschaftlicher Sachverständiger an der deutschen Botschaft in Sankt Petersburg, fasste die Argumente zugunsten der Beschäftigung russlanddeutscher Landarbeiterinnen und Landarbeiter zusammen:
Die Vorzüge sind das im Kern unverdorbene Deutschtum, die Festigkeit im Glauben, das patriarchalische Familienleben, die tiefverwurzelte Liebe zum Landleben und der große Kinderreichtum.13
Zur Umsetzung der Ziele war die politische Führung bereit, hohe außenpolitische Risiken auf sich zu nehmen; denn die Anwerbung von Arbeitskräften und Siedlern blieb im Zarenreich verboten. In einem Immediatbericht an Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) zeichnete der Oberpräsident der Provinz Posen, Wilhelm von Waldow (1856–1937), die anfänglichen Anwerbeaktionen in Russland nach: Die Reichsleitung habe zwar seit den 1890er Jahren die Anwerbung in Russland forciert, angesichts möglicher außenpolitischer Verwicklungen wegen des russischen Anwerbe- und Abwanderungsverbots "aber nur unter der Bedingung, daß die Agitation sehr vorsichtig betrieben werde, lediglich als private erscheine und jeden Schein einer Beziehung zur Ansiedelungskommission vermeide". Seit 1901 seien in diesem Sinne Tausende von Flugblättern in den deutschen Minderheitengebieten verteilt und dort zugleich unter anderem mit Hilfe des Alldeutschen Verbandes Adressen gesammelt worden: "Die Flugblätter gingen sämmtlich unter Deckadressen, zum großen Teil wurden sie vom russischen Gebiete aus versandt, um die Aufmerksamkeit der russischen Behörden nicht zu erwecken." Die Werbemaßnahmen der Ansiedlungskommission seien erfolgreich gewesen, betonte Oberpräsident von Waldow, bei den russlanddeutschen Kolonisten habe "das Flugblatt der Ansiedlungskommission die Sehnsucht nach der alten deutschen Heimath" geweckt, wo sie "als Deutsche unter Deutschen leben" könnten.14
Während des Ersten Weltkriegs wuchs das Interesse an der Zuwanderung aus den deutschen Minderheiten. Der Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderer brachte insgesamt etwa 60.000 Russlanddeutsche ins Reich, darunter 30.000 Wolhyniendeutsche, von denen rund 25.000 vor allem der Landwirtschaft in Ostpreußen zugewiesen wurden. Der größte Teil kam seit 1916 ins Deutsche Reich. Dabei ging es nicht primär, wie der Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderer herauszustellen suchte, um eine Aufnahme von Flüchtlingen aus humanitären Erwägungen. Vielmehr stand die gezielte Rekrutierung von Arbeitskräften zur Verminderung des kriegsbedingten Arbeitskräftemangels in Deutschland im Vordergrund. Die Maßnahme zielte darauf, wie der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Karl C. Thalheim (1900–1993) rückblickend formulierte, "die Menschenverluste des Kriegs ohne Inanspruchnahme fremdstämmiger Arbeitskräfte" auszugleichen und neu eroberte Gebiete mittels als zuverlässig geltenden Siedlern zu sichern: "Eine solche Möglichkeit glaubte man in der Rückführung der in Südrussland und an der Wolga siedelnden deutschen Bauern zu entdecken."15
In Thalheims Einschätzung klingen bereits die zwei Diskussionsstränge an, die im Ersten Weltkrieg im Vordergrund standen und zum Teil auch die Debatte in der Nachkriegszeit bestimmten: Zum einen ging es um die Frage von Möglichkeiten und Nutzen der "Rückwanderung" in das Reich, wobei die Entwicklungschancen nach einem siegreichen Ende des Krieges den Kern bildeten. Zum andern war "Rückwanderung" vornehmlich aus Russland ein Thema in dem weiten Diskussionsfeld der Kriegsziele im Allgemeinen und der Bevölkerungspolitik in den zu annektierenden Gebieten im Besonderen. "Rückwanderung" wurde bereits im ersten Kriegsjahr im Zuge der annexionistischen Planungen für die Einrichtung eines "Grenzstreifens" im Osten intensiv diskutiert.16 Dabei ging es aufgrund von militärischen und wirtschaftlichen, aber auch ethno-nationalen Erwägungen um die Annexion russischer Territorien entlang der preußischen Grenze von Ostpreußen im Norden bis Schlesien im Süden. In Fortsetzung der Ansiedlungspolitik im preußischen Osten der Vorkriegszeit schien eine solche Inbesitznahme nur in Verbindung mit einer Siedlungspolitik die Erwartungen – die Aufrichtung "eines sicheren deutschen Grenzwalls durch Siedlungskolonisation" – erfüllen zu können.17
Mitte 1915 bereits diskutierte die politische und militärische Führung erste Maßnahmen der Siedlungspolitik, die auf die "Germanisierung" des "Grenzstreifens" zielten. Dabei kamen auch erstmals die russlanddeutschen Kolonisten zur Sprache, denen eine wichtige Rolle in diesem Projekt zugewiesen wurde.18 Anfang 1917 galt diesen Fragen erneut die Aufmerksamkeit der zuständigen preußischen und Reichsressorts sowie der Obersten Heeresleitung und dem Oberkommando Ost. Angestrebt wurde, den Besitz "russisch-orthodoxer Eigentümer", die nach der Annexion ohnehin "von dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit ausgeschlossen bleiben" sollten, zu enteignen. Eine Entschädigung werde hierfür vonseiten des russischen Staates zu leisten sein.19 Dem Ziel der Annexion eines mit Hilfe deutscher Kolonisten aus Russland "germanisierten" "Grenzstreifens" entlang der preußischen Ostgrenze – nach umfangreichen "Umsiedlungen" der ansässigen Bevölkerung – hatten damit alle beteiligten Ressorts zugestimmt.20
Der weitere forcierte Vormarsch der deutschen und österreichisch-ungarischen Truppen 1917 und Anfang 1918 schien eine in ihren Zielen weit ausgreifende deutsche Annexionspolitik in Ostmittel- und Osteuropa immer realistischer werden zu lassen. Auf einer Konferenz zur Regelung der ethno-national motivierten Privilegierung der "Rückwanderung" Russlanddeutscher am 2. März 1918 wurde beschlossen, "eine Organisation zu schaffen und so auszugestalten ..., daß sie allen Anforderungen gewachsen sei". Die Aufgaben einer solchen im Rahmen einer ethno-national orientierten Migrationssteuerung tätigen Organisation seien vielfältig: Sie habe die Bereitschaft zur "Rückwanderung" von Angehörigen der deutschen Minderheiten zu fördern, Zahl, Qualifikationen und Vermögen der Personen, die sich zur "Rückwanderung" entschlossen hä
Im Sinne der Ergebnisse dieser Besprechung wurde am 29. Mai 1918 die "Reichsstelle für deutsche Rückwanderung und Auswanderung" offiziell eingerichtet. Ihr Vorsitzender sah rückblickend das Motiv für die Gründung der Reichswanderungsstelle in der "Notwendigkeit, dafür zu sorgen, daß diese Mengen wertvollen Deutschtums sich nicht planlos über Deutschland ergössen". Ziel sei es gewesen, "eine zentrale Stelle im Reiche zu schaffen, die dem Wanderungsstrom Wege und Ziele weisen sollte".21 Es ging bei der Reichswanderungsstelle also nicht primär um Hilfen für Russlanddeutsche in der Kriegssituation, sondern um die ethno-national orientierte Suche nach Arbeitskräften und Siedlern. Die Reichswanderungsstelle war damit eine minderheiten- und bevölkerungspolitisch motivierte Gründung mit dem Ziel, Kriegsfolgen durch Migrationssteuerung zu bereinigen. Deshalb sollte sie für die "Rückwanderung" wie für die überseeische Auswanderung aus Deutschland zuständig sein. Alle Aufgabenbereiche, die in den Kontext der Auswanderung fielen, wurden angesichts der Kriegssituation aber zurückgestellt. Die Reichswanderungsstelle fungierte also zunächst als eine reine "Rückwandererstelle" mit dem Auftrag, die Zuwanderung und Ansiedlung von Angehörigen deutscher Minderheiten nach Kriegsende vorzubereiten.22
Die Gründung der "Reichswanderungsstelle" erfolgte auf dem Höhepunkt der deutschen Annexionspolitik, in einer Phase, in der die Oberste Heeresleitung die Federführung in diesem Feld vollständig übernommen hatte, wie zuletzt auch die "Denkschrift über den polnischen Grenzstreifen" vom 5. Juli 1918 deutlich machte. Sie fasste noch einmal alle militärischen, wirtschaftlichen und ethno-nationalen Argumente für die aus Sicht der Obersten Heeresleitung notwendige, weit ausgreifende Grenzverschiebung nach Osten zusammen. Auch für die Positionierung in der Frage der "Rückwanderung" und für die Festlegung der Aufgaben der "Reichswanderungsstelle" war eine Denkschrift General Erich Ludendorffs (1865–1937) maßgeblich:
Wir haben für die Jahre nach dem Kriege mit einem Strom deutscher Rückwanderer zu rechnen, und es liegt ... vollkommen in der Hand der Staatsbehörden, diesen Strom so zu lenken, wie es das Interesse des Deutschen Reiches erfordert ... Allein die Zahl der aus Rußland zur Rückwanderung entschlossenen Deutschen wird auf 1 ½ Millionen = 300.000 Familien geschätzt ... Für alle diese Rückwanderer muß Platz geschaffen werden. Das geringe noch vorhandene Siedlungsland im Reiche sowie das neu hinzutretende Siedlungsland im Baltenlande und in Litauen reichen nicht aus, um für diese Rückwanderer Platz zu schaffen. Auch dazu ist die Erwerbung des Grenzstreifens notwendig.23
"Rückwanderung" als Gefahr für die deutsche Nachkriegsgesellschaft und die Minderheitenpolitik des Reiches
Die Kriegsniederlage des Reiches 1918 ließ eine Umsetzung der im letzten Kriegsjahr entwickelten Konzeptionen zur "Rückwanderung" Russlanddeutscher unmöglich werden: Im März 1919 machte die Reichswanderungsstelle deutlich, dass "vom Nützlichkeitsstandpunkt der deutschen Politik das Weiterverbleiben der Kolonisten ..., und zwar wie bisher als ukrainische oder russische Staatsbürger ..., in Anbetracht der derzeitigen politischen Verhältnisse" ohne Alternative sei. Zum einen verspreche das Fortbestehen der Siedlungskolonien die "Erhaltung des Deutschtums dort"; zum andern gebe es keine Möglichkeit für das Reich, eine "Rückwanderung" zu forcieren.24 Die Schlussfolgerung der im Mai 1919 zum "Reichswanderungsamt" aufgewerteten Behörde für die weitere Politik gegenüber den während des Kriegs nach Deutschland gekommenen bzw. gelockten Russlanddeutschen war eindeutig: Es bestehe "ein zwingendes Interesse ..., die Rückkehr der Flüchtlinge ins Ausland soweit irgend möglich zu fördern". Diese Einschätzung war nicht neu; eine solche Politik der Förderung der Rückkehr der während des Kriegs in das Reich übergesiedelten Russlanddeutschen galt schon seit Kriegsende 1918 und zielte darauf, den deutschen Arbeits- und Wohnungsmarkt durch die Abwanderung "völlig mittellos[er]" Menschen zu entlasten, die sich zudem zum Teil "in der dauernden Fürsorge"25 befanden.
In der Weimarer Republik trat die Diskussion um die russlanddeutschen "Rückwanderer" ganz hinter die ökonomischen und sozialen Probleme einer Nachkriegsgesellschaft zurück, in der die im Weltkrieg aufgeworfenen bevölkerungspolitischen Erwägungen und Maßnahmen immer mehr an Gewicht verloren. Nur gelegentlich wurde in publizistischer Diskussion, politischer Debatte oder administrativen Regelungen nach der gegenüber den "Rückwanderern" einzuschlagenden Politik gefragt. Die Weimarer Politik folgte gegenüber Angehörigen deutscher Minderheiten einer zentralen Maxime: Dauerhafte Einwanderung in das Reich sei zu verhindern, dagegen seien die Siedlungsschwerpunkte in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa aus innen-, außen- und wirtschaftspolitischen Erwägungen zu erhalten, notfalls auch gegen humanitäre Interessen. Die deutschen Minderheiten galten zum einen als Instrumente deutscher Einflussnahme auf die jeweilige Innenpolitik der Staaten im Osten Europas; zum andern waren sie ein außenpolitisches Druckmittel, das vor allem über den Völkerbund eingesetzt wurde. In der innenpolitischen Debatte in Deutschland symbolisierten diese seit dem Friedensvertrag von Versailles außerhalb der deutschen Grenzen lebenden Minderheiten zugleich das "Versailler Unrechtssystem".26 Deutsche Minderheiten in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa erschienen der deutschen Außenpolitik daher nur dann als nützlich, wenn sie ihre Siedlungsgebiete nicht verließen. Angesichts dieser wesentlichen Funktion lag die Stabilisierung dieser Minderheiten durch vielfältige Hilfeleistungen, zumeist über verdeckte Finanzoperationen, im deutschen Interesse.27
Selbst existenzbedrohende wirtschaftliche, soziale und politische Krisen, wie etwa für die Russlanddeutschen die Hungerkrise 1921 bis 1924 und die Kollektivierung der Landwirtschaft ab Ende der 1920er Jahre führten nicht zu einer offeneren Aufnahmepolitik der Weimarer Republik. Die schwere russische Hungersnot 1921/1922, die Folge des Russischen Bürgerkriegs sowie erster sowjetischer Maßnahmen zum Umbau der Wirtschaft war und wahrscheinlich fünf Millionen Opfer forderte,28 betraf auch die Siedlungsgebiete Russlanddeutscher an der Wolga und am Schwarzen Meer. Zehntausende ihrer Bewohner flüchteten vor dem Hunger in Regionen, die eine bessere Nahrungsmittelversorgung zu gewähren schienen: Sibirien, Zentralasien, die Kaukasusregion, Teile der Ukraine und Zentralrusslands. Einigen Tausend unter ihnen gelang aber auch der Weg nach Mitteleuropa, möglicherweise 2.000 bis 3.000 wolgadeutsche Hungerflüchtlinge konnten in Deutschland Aufnahme finden, obwohl die Reichsregierung nach einem Bericht des Magistrats der Stadt Frankfurt an der Oder vom 10. Dezember 1921 die Grenzen für diese Gruppe rasch abgeriegelt hatte.29
Außenminister Walther Rathenau (1867–1922) formulierte die neue politische Grundlinie in einem Schreiben an Reichskanzler Joseph Wirth (1879–1956) am 1. März 1922: Hilfsaktionen gegenüber den hungernden Russlanddeutschen seien in jedem Falle zu fördern. Die Siedlungskolonien in der UdSSR müssten erhalten bleiben, zumal wegen der weiterhin erheblichen Schwierigkeiten in der Lebensmittel- und Wohnungsversorgung in Deutschland, aber auch wegen der Gefahr gesundheitlicher Risiken für die deutsche Bevölkerung keine Möglichkeit bestehe, größere Flüchtlingszahlen aufzunehmen. Hungerhilfe sei deshalb eine "Präventivmaßnahme auf dem Gebiet der Seuchenbekämpfung und Flüchtlingsfürsorge". Eine solche Bekämpfung von Fluchtursachen biete zugleich wirtschaftliche Vorteile für das Reich:
Als Absatzgebiete für unsere landwirtschaftliche Industrie und für die Zukunft als Quelle reicher exportfähiger Bodenerzeugnisse können wir uns Südrußland nur sichern durch sofortige Linderung seiner Notlage, indem wir die Bevölkerung instand setzen, am Platze zu bleiben und das Land zu bearbeiten.30
Das Abklingen der Hungersnot 1922 bedeutete zugleich das Ende von Abwanderungen größeren Maßstabs aus Russland. Mit dem Sieg der Roten Armee im Russischen Bürgerkrieg wurde die Sowjetunion zum weltweit ersten Staat, der Außen- und Binnenwanderungen systematisch und mit hoher Effizienz kontrollierte und regulierte, um das großangelegte Industrialisierungsprogramm zu ermöglichen.31
Das sowjetische Ziel einer Verhinderung von grenzüberschreitender Abwanderung lag durchaus im Interesse der deutschen Politik einer Zuwanderungsbegrenzung. Das zeigte sich zuletzt Ende 1929, als im Zuge der sowjetischen Zwangskollektivierung 13.000 bis 14.000 russlanddeutsche Bauern in der Hoffnung nach Moskau zogen, von der deutschen Botschaft Hilfe zur Auswanderung zu erhalten: Die deutsche Regierung erklärte sich im Kontext der beginnenden Weltwirtschaftskrise erst nach sehr zögerlich geführten Verhandlungen bereit, die Bauern vorläufig aufzunehmen. Nicht zuletzt die Intervention des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg (1847–1934), der die Auffassung vertrat, "daß eine Fürsorge für diese bedauernswerten Bauern deutscher Rasse aus menschlichen wie aus politischen Gründen unbedingt notwendig" sei, trug dazu bei, dass die von Beginn an von der Deutschen Botschaft in Moskau und vom Auswärtigen Amt vertretene Aufnahmepolitik sich durchsetzte:
Die öffentliche Meinung in Deutschland würde es nicht verstehen, wenn man diese Leute dem sicheren Hungertode überließe, nachdem man seit Kriegsende wohl mehrere Hunderttausend Fremde, oft sehr unerwü32
Rund 5.700 russlanddeutsche Kolonisten wurden nach Deutschland transportiert. Deutsche Bedingung für die Aufnahme war die Übernahme der Transport- und Unterbringungskosten durch die Interessenverbände der Russlanddeutschen. Außerdem erlegte die Reichsregierung ihnen auf, für die Weiterwanderung der Kolonisten nach Übersee Sorge zu tragen. Die Ende 1929 in Deutschland eingetroffenen russlanddeutschen Kolonisten wurden zunächst in Lagern untergebracht. Von dort erfolgte 1930/1931 ihre Weiterwanderung mit den Zielen Kanada, Brasilien, Paraguay und Argentinien. Im Februar 1930 beschloss die deutsche Reichsregierung einen Zuwanderungsstopp für russlanddeutsche Kolonisten. Im Hintergrund stand die Erwartung, die Abwanderung aus der UdSSR werde im Zuge der weiteren Kollektivierung der Landwirtschaft massiv zunehmen. Deutschland aber sei angesichts der Wirtschaftskrise nicht in der Lage, weitere Zuwanderer aufzunehmen, außerdem dürften die Beziehungen zur UdSSR nicht weiter belastet werden.33
Die Integration Russlanddeutscher in Kaiserreich und Weimarer Republik kann als bislang unerforscht gelten. Wahrscheinlich mehr als die Hälfte der rund 200.000 deutschen "Rückwanderer", die Deutschland zwischen den 1890er Jahren und der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre erreichten, sind nach Osteuropa zurück- oder nach Übersee weitergewandert. Das gilt beinahe durchgängig für die vor 1914 als Landarbeiter angeworbenen Russlanddeutschen, aber auch für einen Großteil der als Arbeitskräfte oder als Flüchtlinge während und am Ende des Ersten Weltkriegs gekommenen "Rückwanderer", die vor allem nach dem Rückgang der Hungersnot in Russland in ihre Herkunftsgebiete zurückkehrten oder unter der großen Zahl überseeischer Auswanderer aus Deutschland Anfang der 1920er Jahre zu finden waren. Den Interessenverbänden der Russlanddeutschen in der Weimarer Republik zufolge war die starke Tendenz zur Rückwanderung und zur Weiterwanderung nach Übersee vornehmlich ein Ergebnis der von Beginn an kritisierten Mängel der deutschen Integrationspolitik: Deutschland habe kein Interesse gezeigt, bäuerlichen Besitz für die zumeist aus landwirtschaftlichen Berufen kommenden Zuwanderer zu schaffen. In den Publikationen der Interessenverbände der Deutschen aus Russland dominiert die Enttäuschung über die Aufnahmebedingungen: Die Russlanddeutschen seien stets als unerwünschte ausländische Zuwanderer, als Konkurrenten im Verteilungskampf am Arbeitsmarkt gesehen worden, nur selten aber als Angehörige der gleichen Nation, die Privilegien verdient hätten.34
Ein Mittel zur Verhinderung von Zuwanderung und dauerhafter Ansiedlung von Ausländern deutscher Abstammung in der Weimarer Republik lag in einer vergleichsweise restriktiven Anwendung des "Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes" von 1913, die in deutlichem Gegensatz zur mit dem Kriegsfolgerecht verschränkten Praxis der Anerkennung und Aufnahme von Aussiedlern bzw. Spätaussiedlern in der Bundesrepublik Deutschland stand. Eine rechtliche Gleichstellung der "Volksdeutschen fremder Staatsangehörigkeit im Reich" mit den Reichsangehörigen wurde in der Weimarer Republik ebenso abgelehnt wie eine rasche Einbürgerung der "Volksdeutschen".35 Eine Gleichstellung von "Volksdeutschen fremder Staatsangehörigkeit" und Reichsangehörigen führe, so der vorherrschende Tenor der Diskussion, zu einer Entfremdung der "Volksdeutschen" von ihrer Heimat. Sie schwäche damit die Minderheiten deutscher Abstammung im Ausland, zumal sie die Attraktivität des Reiches für diese Zuwanderer erhöhe und die Auflösung der Minderheitengruppen weiter verstärke.
Fazit und Ausblick: Migrationssteuerung im Spannungsfeld von Rassismus und Nationalismus
Die auf eine Unterstützung der Bestrebungen zur Revision des Versailler Vertrags zielende deutsche Minderheitenpolitik der Zwischenkriegszeit trug erheblich dazu bei, minderheitenpolitische Konflikte zu schüren und mündete in die zielgerichtete und massive Unterstützung irredentistischer "volksdeutscher" politischer Eliten durch das nationalsozialistische Deutschland insbesondere in der Tschechoslowakei und in Polen, die den Weg in den Zweiten Weltkrieg mit vorbereitete.36
Im Kontext von unmittelbarer Kriegsvorbereitung und Krieg gewann die nationalsozialistische Politik gegenüber den deutschen Minderheiten im Ausland eine neue Dynamik: Hatte die Maxime der Weimarer Politik gegenüber den deutschen Minderheiten im Ausland die Notwendigkeit der Verhinderung von Zuwanderung in das Reich durch Erhaltung der Siedlungsschwerpunkte in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa aus innen-, außen- und wirtschaftspolitischen Erwägungen betont, entwickelte die nationalsozialistische Politik eine klar entgegengesetzte Linie. In Anlehnung an die Siedlungsdiskussion während des Ersten Weltkriegs wurden unter der Parole "Heim ins Reich" 1939 bis 1944 etwa eine Million "Volksdeutsche" vor allem in den von Deutschland besetzten und annektierten Gebieten des Ostens umgesiedelt.37 Dies war Bestandteil einer auf dauerhafte Herrschaftssicherung angelegten Politik zur Etablierung einer streng nach rassistischen Kriterien ausgerichteten deutschen Ordnung, die Bevölkerungsgruppen und Nationalitäten hierarchisierte.38
Rassistische Hierarchisierungen hatten unter anderem massive Folgen für die Entwicklung des Migrationsgeschehens; denn in den besetzten Gebieten Osteuropas wurden millionenfache Zwangswanderungen in Gang gesetzt, um im Sinne der nationalsozialistischen "Lebensraum"-Vorstellungen die Bevölkerungszusammensetzung der annektierten und eroberten Gebiete grundlegend zu verändern. Wesentliche Elemente der Herstellung dieser rassistischen Weltordnung waren Planung und weitreichende Umsetzung von Umsiedlungen und Vertreibungen ganzer Bevölkerungen zugunsten eines vorgeblichen deutschen "Volkes ohne Raum". Etwa neun Millionen Menschen waren davon betroffen. Der 1942 von der SS aufgestellte "Generalplan Ost" zielte darauf, die für Polen schon zum Teil umgesetzte Politik millionenfacher Umsiedlungen zugunsten deutscher Siedler auf Osteuropa insgesamt bis zum Ural auszudehnen. Der "Generalplan Ost" ging dabei von der Umsiedlung von 45 Millionen Menschen aus.39
Die letzten Umsiedlungen "heim ins Reich" von 250.000 "Volksdeutschen" aus Wolhynien, Galizien und Siebenbürgen 1944 hatten dann allerdings schon deutlich den Charakter einer Fluchtbewegung vor der Roten Armee, die im August 1944 in Ostpreußen die Grenze des Deutschen Reiches erreichte und sie im Oktober desselben Jahres überschritt. In den Ostprovinzen des Reiches und in den deutschen Siedlungsgebieten jenseits der Grenzen in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa lebten rund 18 Millionen Reichsdeutsche und "Volksdeutsche". Etwa 14 Millionen von ihnen, der überwiegende Teil also, flüchtete in der Endphase des Kriegs in Richtung Westen oder wurde nach Kriegsende vertrieben bzw. deportiert. Die Bilanz dieser millionenfachen Fluchtbewegungen und Vertreibungen wird deutlich in den Ergebnissen der Volkszählung von 1950. Danach waren insgesamt knapp 12,5 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus den nunmehr in polnischen, tschechoslowakischen und sowjetischen Besitz übergegangenen ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches und aus den Siedlungsgebieten der "Volksdeutschen" in die Bundesrepublik Deutschland und in die DDR gelangt; weitere 500.000 lebten in Österreich und anderen Ländern.40
Nach den immensen Bevölkerungsverschiebungen während des Zweiten Weltkriegs trugen Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung schlussendlich mit zu einer völligen Umgestaltung der Nationalitätenkarte im Osten Europas bei. Die alliierten Großmächte hatten den Transfer großer Bevölkerungsteile im Osten Deutschlands längst auf den Konferenzen von Teheran 1943 und Jalta Anfang 1945 mit einer zentralen Handlungsmaxime beschlossen: Minderheitenkonflikte und die politische Instrumentalisierung von deutschen Minderheiten durch das Reich wie in der Zwischenkriegszeit sollte es in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa zukünftig nicht mehr geben.