Einleitung: Das Ende des Judentums auf der Iberischen Halbinsel
Während sechs Jahrhunderte früher der Prozeß der Verschiebung der Hauptkräfte des Judentums von Ost nach West eingesetzt hatte, tritt nunmehr eine bedeutsame geschichtliche Wendung ein, die rückläufige Bewegung von West nach Ost.1
So beschreibt Simon Dubnow (1860–1941) das Ende des spanischen Judentums (der sogenannten Sepharden) welches – aus der Retrospektive betrachtet – den Auftakt zu einer neuen Epoche der jüdischen Geschichte in einer anderen europäischen Region bildet, nämlich im osmanischen Südosteuropa. Die Einwanderungswellen ins Reich der Hohen Pforte ziehen sich durch das ausgehende 15. und das ganze 16. Jahrhundert.
Viele Juden auf der Iberischen Halbinsel waren nach der Reconquista (Rückeroberung) zum katholischen Glauben konvertiert. Dennoch waren sie zunehmender rechtlicher und gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt, die schließlich in der Ausweisung gipfelte. Diese Konvertiten oder Conversos, die auch als Marranos, also als "Schweine" im Sinne von "Unreine" bezeichnet wurden, sahen sich, da die Ehrlichkeit ihrer Hinwendung zum Christentum in Zweifel gezogen wurde, einer immer stärker werdenden paranoiden Stimmung ausgesetzt, in der auch ein breites Spektrum soziologischer Komponenten – vom Misstrauen gegen das inkorporierte Fremde bis zum wirtschaftlichen Neid – zum Ausdruck kam.2 Für die weitere Geschichte der (ehemaligen) Marranos3 im Osmanischen Reich bis ins 17. Jahrhundert wird ihr Einfluss auf die Frömmigkeit und Theologie der osmanischen Juden wichtig sein: Neben kabbalistischen Elementen bildete sich durch die gerade geschilderte frühere Notsituation ein starker Messianismus in Form einer Erlösungshoffnung heraus.
Als symbolischer Anfang vom Ende des mittelalterlichen Judentums auf der Iberischen Halbinsel nach der Reconquista kann der Pogrom von Sevilla vom 15. März 1391 angesehen werden, etwa einhundert Jahre vor der Ausweisung der Juden. Dieser Pogrom war der Anfang einer ganzen Reihe antijüdischer Ausschreitungen, die in den folgenden Jahrzehnten in den Königreichen Spanien und Portugal verübt werden sollten, und er markiert das Ende des friedlichen Zusammenlebens der verschiedenen Religionsgemeinschaften, das das maurische Spanien ausgezeichnet hatte.4
Von staatlicher Seite setzte die rechtliche Benachteiligung 1412 ein. Es wurden Vorschriften bezüglich der Kleider- und Barttracht erlassen und Einschränkungen bis hin zu absoluten Berufsverboten in Kraft gesetzt. Eine Auswanderung aus dem Königreich Spanien wurde den Juden in dem Erlass von 1412 untersagt, sodass sie der Diskriminierung nicht entgehen konnten. Die staatliche Repressionspolitik kulminierte 1492 im sogenannten Alhambra-Edikt, das die Vertreibung der Juden aus dem Königreich Spanien anordnete.5 Diejenigen Betroffenen, die nicht konvertierten, entschieden sich zur Flucht: Die Hälfte der Flüchtlinge wanderte sofort nach Osten, nach Italien (vor allem in die von Aristokratien beherrschten Städte)6 oder ins Osmanische Reich aus, die andere Hälfte floh nach Portugal, wo einige Jahre später allerdings ebenfalls ein Vertreibungsedikt erlassen wurde.7
Es gab mehrere Migrationsrouten, die den Verfolgten offenstanden, um die Iberische Halbinsel zu verlassen. Neben dem Wasserweg über Nordafrika und nach Italien war der Landweg über Frankreich eine gern genutzte Möglichkeit.8 Frankreich blieb jedoch auch in der Folgezeit nur ein Transitland,9 da aufgrund der dort herrschenden Religionspolitik eine Rückkehr zum jüdischen Glauben nicht erfolgen konnte. So wurden neben dem Osmanischen Reich vor allem protestantische Handelsstädte für die Vertriebenen interessant, da hier eine, wenn auch teilweise eingeschränkte, Ausübung der jüdischen Religion gestattet war. Die Beteiligung der Immigranten am Kolonial- und am Iberien-Handel war außerdem sowohl für die Immigranten selbst als auch für die Obrigkeiten der protestantischen Handelsstädte von Interesse (siehe unten). Einige Sepharden zog es sogar noch weiter weg, so dass sie schließlich in Brasilien oder Neu-Amsterdam (heute: New York) landeten.10
Das Judentum im Osmanischen Reich: Grundlegendes
Die Zahlen der Immigranten variieren in den statistischen Kalkulationen stark: Manchen Schätzungen zufolge wanderten im 15. und vor allem 16. Jahrhundert an die 50.000 Flüchtlinge ins Osmanische Reich ein;11 anderen Schätzungen zufolge sollen es Anfang des 16. Jahrhunderts doppelt so viele eingewanderte Juden gewesen sein, die sich hauptsächlich in Saloniki und der Hauptstadt Istanbul niederließen.12 Die tatsächlichen Zahlen lassen sich jedoch nur sehr schwer ermitteln,13 weil man üblicherweise von den Erträgen der Kopfsteuer ausgeht, welche allerdings nur erwachsene Männer betraf; mehr oder weniger spekulativ muss daraus die Anzahl der Frauen und Kinder geschätzt und eine kaum zu ermittelnde "Dunkelziffer" an Dissimulation und Steuerhinterziehung angenommen werden, wie sie in früRhodos mit Juden besiedeln, das gleiche galt seit 1571 für das ehemals venezianische Zypern.14 Indem neu eroberte Gebiete mit loyalen Untertanen besiedelt wurden, sollte die Macht des Sultans konsolidiert werden.
Die Einwanderung so vieler Juden hatte gravierende Auswirkungen auch für die schon vor Ort ansässige Judenheit, die sogenannten Romanioten (der Name verweist auf Konstantinopel als "Zweites Rom"), und auf die im Lauf der Zeit in kleinerer Zahl eingewanderten Aschkenasen, also die osteuropäischen Juden.15 Letztere kamen hauptsächlich im 16. und 17. Jahrhundert ins Osmanische Reich, so zum Beispiel am Ende des 17. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der kurzzeitigen Unterwerfung des zuvor zu Polen-Litauen gehörigen Podoliens unter die osmanische Herrschaft (1672–1699); daneben gab es auch Wirtschaftsmigranten, die sich ein günstigeres finanzielles Auskommen versprachen, sowie fromme Gläubige, die ins seit 1517 osmanisch beherrschte Heilige Land ziehen wollten.
Für viele, die ursprünglich nur eine Zwischenstation einlegen wollten, wurden Saloniki oder Istanbul zu einer dauerhaften Option. In der Hauptstadt Istanbul wurden denn auch bald zwei Steuergruppen eingerichtet, die getrennt ihre Abgaben zu entrichten hatten: auf der einen Seite die Romanioten (Sürgünlü), welche schon vor der Ankunft der Sepharden als byzantinische Juden im Land gelebt hatten, und auf der anderen Seite die Neuankömmlinge im Steuerdistrikt Kendi Gelen.
Für die Frühe Neuzeit im Osmanischen Reich und insbesondere in seiner Hauptstadt ist noch eine weitere jüdische Gruppe zu nennen, die Karäer. Anders als die anderen angeführten jüdischen Gemeinden, die sich hauptsächlich im Ritus unterscheiden, nicht aber in den Grundpfeilern von Bibel und Talmud und deswegen unter dem Begriff "Rabbaniten" zusammengefasst werden können, binden sich die Karäer nur an die Hebräische Bibel und lehnen eine "mündliche Tora", das heißt das Kommentarwerk der beiden Talmude, ab. Trotz dieser erheblichen Differenz in der Glaubenslehre gab es im 15. und 16. Jahrhundert einen blühenden Diskurs zwischen beiden Judentümern, der erst in späterer Zeit nachließ.16
In Istanbul verteilten sich die Wohnorte der Yahudiler, wie die Juden auf Türkisch heißen, auf bestimmte Bezirke, meistens in Marktplatznähe. Die hauptsächlichen Siedlungsgebiete waren die Stadtbezirke Hasköy, Galata, Balat und Eminönü, wobei ab ca. 1660 und bis ins 19. Jahrhundert besonders Hasköy und Balat das jüdische Zentrum der Hauptstadt bildeten.17 Nach 1566 wurde Juden die Ansiedlung in der Nähe einer Moschee untersagt.
Die andere Stadt, in welche spanische Juden in großer Menge strömten, war Saloniki. Der jüdische Bevölkerungsanteil stieg so rasant, dass sich die Einwohnerschaft vollkommen neu zusammensetzte; schon seit den 1520er Jahren stellten die Juden die Mehrheit der Bevölkerung18 in Saloniki, die als das Zentrum des südosteuropäischen Judentums darum mit einer gewissen Berechtigung "Jerusalem des Balkans" genannt wurde. Schon 1515 wurde in Saloniki die erste jüdische Buchdruckerei eröffnet. Für die Massenbewegung des Sabbatianismus im 17. Jahrhundert sollte Saloniki eine herausragende Rolle spielen: Die Gefolgsleute Shabtai Zvis (1626–1676)[]19 und später seine zum Islam konvertierten Anhänger (türkisch: Dönme, "Konvertiten"), hatten ihre Hauptresidenz in Saloniki und wirkten mit ihren Lehren bis in den Frankismus in Osteuropa hinein.20 Die Dönme bestanden mindestens noch bis ins beginnende 20. Jahrhundert.21 Saloniki stand im 19. Jahrhundert im Zentrum des Interesses der westeuropäischen Juden, die die jüdische Aufklärung (Haskalah) im Osmanischen Reich verbreiten wollten. Die Alliance Israélite Universelle, eine internationale philanthropische Organisation, die 1860 in Paris gegründet worden war, betrieb hier ihre Schulen und eine Ausbildungsstätte für Lehrer, die auch Auslandssemester in Paris zu absolvieren hatten.22 Das jüdische Saloniki behielt seine Bedeutung bis zu den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges, als das Judentum der Stadt nahezu ausgelöscht wurde.23
Auch in anderen südosteuropäischen Städten fand man bald neugegründete jüdische Gemeinden vor.24 Die Stadt Sarajevo in Bosnien war eine osmanische Neugründung des Jahres 1462, wie schon der nicht-slawische Ortsname verrät (osmanisch: Saraybosna, ein Kompositum, dessen erster Bestandteil "Schloss, Serail" bedeutet). Seit ihrer Gründung siedelten sich jüdische Handelsfamilien in dieser Stadt an, was meistens von Saloniki aus geschah. In Sarajevo gab es seit 1565 eine eigene jüdische Mahala (Siedlung),25 das heißt einen Stadtteil mit vorwiegend jüdischer Einwohnerschaft, mit dem Namen Velika avlija ("Großer Hof").26 Der große jüdische Gelehrte David Pardo (1718–1790) stammte aus dieser Stadt; er war dort Haham (Rabbiner) und gründete 1768 eine Talmudschule.27 Auch der bedeutende protozionistische Rabbiner Jehuda Alkalai (1798–1878)[] stammte aus Sarajevo, wuchs allerdings im Heiligen Land auf.28
In Belgrad gestaltete sich der Zuzug von osmanischen Juden ähnlich wie in Sarajevo: Auch hier zogen zuerst jüdische Händlerfamilien nordwärts und siedelten sich an. Der jüdische Bezirk der Stadt wurde der Stadtteil Dorćol. Belgrad blieb bis 1830 Teil des Osmanischen Reiches, danach wurde es die Hauptstadt Serbiens, das sich infolge der Unruhen im 19. Jahrhundert als erster Nationalstaat auf dem Balkan unabhängig machte.29
Das kleinasiatische Izmir wurde ab dem 17. Jahrhundert mit vielen Juden besiedelt,30 und zwar nicht nur mit sephardisch-osmanischen, sondern in größerer Zahl auch mit Juden, die ursprünglich aus Norditalien stammten.
Ein besonders wichtiges Zentrum des jüdischen kulturellen Schaffens wurde die in Palästina gelegene Stadt Safed (hebräisch: Zefat).31 Seit dem Zuzug sephardischer Juden32 in diese im Heiligen Land gelegene Siedlung entwickelte sich Safed zum Mittelpunkt der frühneuzeitlichen jüdischen Mystik.33 Auch bot die Stadt (etwa gegenüber Jerusalem) bestimmte Vorteile bei einem Zuzug: Dazu zählte die geringere Steuerlast, die von den osmanischen Autoritäten erhoben wurde, und v.a. die gute ökonomische Situation, da Safed in der Textilherstellung eine Vorreiterrolle in der Levante einnahm und seine Textilmanufakturen durch ein dichtes wirtschaftliches Netzwerk mit Südosteuropa verbunden waren. 1563 wurde hier die erste hebräische Druckerei gegründet. Den osmanischen Verwaltungslisten zufolge stieg die Zahl der jüdischen Familien zwischen 1525 und 1568 von 21 auf 200.34 Im 17. Jahrhundert etablierte sich Safed als eine der Hochburgen des Sabbatianismus, der in seiner messianischen Lehre auf kabbalistischem Gedankengut aufbaute und in Safed begeistert rezipiert wurde, da die Hauptantriebskraft für die Einwanderung nach Safed im 16. Jahrhundert in der Regel eine jüdisch-messianische Erwartung gewesen war.35 Zudem befindet sich in der Nähe der Stadt das Grab des tannaitischen Gelehrten Rabbi Shimon bar Yohai, von dem die jüdische Tradition annimmt, er habe seinen Schülern den Zohar (das Buch des Glanzes), das Grundbuch der jüdischen Mystik (Kabbala), diktiert.
Berühmt wurde Safed für die Bewegung der lurianischen Kabbala:36 Ihr Begründer, der aus Italien stammende und in Kairo aufgewachsene Mystiker und Asket Isaak Luria (1534–1572), versammelte hier einen Schülerkreis um sich, zu dem auch kabbalistische Größen wie Moses Cordovero (1522–1570), Hayyim Vital (1542–1620) und Josef Karo (1488–1575), der Verfasser des berühmten halachischen Kodex Schulchan Aruch, gehörten. Die lurianische Fortentwicklung der ursprünglichen jüdischen Mystik besteht in ihren Grundzügen aus der Lehre vom Ṣimṣum,37 der Selbstbeschränkung des grenzenlosen Einen, um Platz für die Schöpfung zu machen. Dieser Lehre zufolge ereignete sich während des Schöpfungsaktes ein Missgeschick, da sich die göttlichen Lichtfunken mit der Materie vermischten (die lurianische Metapher ist das "Zerbrechen der Gefäße") und wieder rückgeführt werden müssen. Bei diesem Erlösungsvorgang kommt dem jüdischen Volk und seiner weltweiten Exilsituation eine Stellvertreterfunktion zu.38 Auch messianische Ideen werden in diesem Kontext virulent und kulminieren im 17. Jahrhundert eben im Messianismus Shabtai Zvis.
Schon bald setzte sich das eingewanderte sephardische Judentum mit seiner theologischen und kulturellen Eigenart durch. Die "Sephardisierung" der anderen jüdischen Gemeinschaften, die allein schon zahlenmäßig in die Minderheit gerieten, zeigte sich sowohl am Ritus als auch an der Gemeindeorganisation und der Sprache: Ladino, das Judenspanisch, wurde Alltagssprache der meisten Juden im Osmanischen Reich.39 Diese Akkulturation und Neubestimmung des osmanischen Judentums führte spätestens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zur Durchsetzung des Sephardentums gegenüber den anderen jüdischen Gruppen.40 Andererseits verblasste bei den Sepharden selbst die Erinnerung an die iberische Vergangenheit: Sie wurde legendenhaft mystifiziert und weckte ein Gefühl der eigenen Superiorität gegenüber den einheimischen Juden.41
Jüdische Experten in bestimmten Berufsfeldern wurden sehr bald von der Hohen Pforte anerkannt und in Dienst genommen: Wir finden schon im 16. Jahrhundert, seit den Sultanen Süleyman dem Prächtigen (ca. 1494–1566) und Selim II. (1524–1574) – ähnlich wie zuvor in Spanien –, jüdische Experten am Hof. Sie dienten, wie zum Beispiel Moses Hamon (1490–ca. 1567), als Ärzte der Familie des Sultans oder im diplomatischen Bereich als Vertreter des Osmanischen Reiches; im Harem des Herrschers finden wir jüdische Damen, die ihre Nähe zur Politik zu nutzen und die Staatsgeschäfte unter Umständen zu beeinflussen wussten, am bekanntesten von ihnen ist Ester Handali (gest. 1590). Überhaupt gewann der Hof gegenüber der Person des Sultans im 16. Jahrhundert beträchtlich an machtpolitischer Bedeutung.42
Auch im Handelsgewerbe konnten einige Juden hohe Positionen erreichen. Ein Beispiel für den Aufstieg einiger Juden im Osmanischen Reich ist der Marrano Josef Nasi (1515–1579) aus Portugal.43 In der Regel wurde das Judentum im Osmanischen Reich nicht diskriminiert und innerhalb der Grenzen des islamischen Rechts mit seiner Unterscheidung zwischen Muslimen und Angehörigen anderer Buchreligionen (arabisch: ahl al-kitab) integriert, was sich in der Praxis in erster Linie steuerrechtlich auswirkte. In unruhigen Zeiten konnte sich die Lage der Juden jedoch verschlechtern; meistens gingen die Spannungen vom Militär aus, das sich zeitweise unberechenbar und willkürlich verhielt44 – doch ging dies meist mehr auf Kosten der christlichen als der jüdischen Bevölkerungsteile. Es herrschten andere Verhältnisse als in Westeuropa oder auch im moderateren Polen-Litauen,45 Pogrome gab es nicht. Tendenziell könnte man es so formulieren: War der Sultanshof mächtig, herrschten günstigere Verhältnisse für Christen und Juden; bei Schwächeperioden des Hofes kam es dagegen eher zu Benachteiligungen durch die lokalen Autoritäten und das Militär.
Der Tavernenbetrieb mit Alkoholausschank war eine berufliche Tätigkeit, die Nicht-Muslimen vorbehalten war, da die islamischen Rechtsbestimmungen sie Muslimen untersagte.46 In Saloniki wuchs zudem eine immense jüdische Tuchindustrie heran, die regelmäßig die osmanische Armee mit Kleidung belieferte.47 Im Zwischenhandel mit dem Westen (oft über Ragusa) etablierten sich außerdem viele Juden als Einzelhändler und Vermittler für europäische, allen voran venezianische Großexporteure.48 Schließlich konnten die Juden in Saloniki ihre ökonomischen Aktivitäten auf die Fischerei und Hafenarbeit ausdehnen, wozu im 19. Jahrhundert auch noch die rentable Tabakindustrie kam.49
Das Judentum im Osmanischen Reich: Organisation und Aufbau
Heute wird wieder intensiv diskutiert, ob es im Osmanischen Reich bei den jüdischen Untertanen ähnlich wie bei den Christen ein Oberhaupt gab, das als Ethnarch, Oberrabbiner oder Haham başı50 die Religionsgemeinschaft gegenüber dem Herrscher zu repräsentieren hatte und nach innen hin eine zentrale Autorität darstellte. Als frühes Beispiel bezüglich der osmanischen Juden wird – noch vor der sephardischen Einwanderungswelle – der Istanbuler Oberrabbiner Moses Capsali (1420–ca. 1495) genannt, der sein Amt unter Sultan Murad II. (ca. 1403–1451) ausübte. Heute nimmt man in der wissenschaftlichen Debatte überwiegend eine skeptische Haltung ein, was die Vergleichbarkeit des jüdischen mit dem christlichen Oberhaupt angeht. Das liegt nicht nur an der schwierigen Quellenlage: Capsali war vor allem für die Juden der Hauptstadt verantwortlich und sein Amt wurde nach seinem Tod in dieser Form nicht wieder besetzt; erst 1835 wurde ein landesweites Oberrabbinat eingeführt.51 Stattdessen kann man ab der Mitte des 17. Jahrhunderts in Istanbul einen sogenannten Ma'amad (hebräisch: "Versammlung") finden; dieses Gremium setzte sich aus Rabbinern und Laien der gemeindlichen Elite zusammen und verwaltete kollegial die Belange der hauptstädtischen Juden. Die Judenheit im Osmanischen Reich konstituierte sich vor der Reform des Millet-Systems (das den Minderheitenstatus der Nichtmuslime und die Autonomie von Religionsgemeinschaften im Osmanischen Reich regelte) im 19. Jahrhundert als ein Netz von autonomen Stadtgemeinden mit regional durchaus unterschiedlichen Verwaltungsstrukturen.52 Aus Edirne (byzantinisch: Adrianoupolis) sind beispielsweise im 18. Jahrhundert zwei Oberrabbiner bekannt, die sich der Gemeindeleitung kollegial annahmen. Besonders auffällig ist die starke Vernetzung der jüdischen Gemeinden miteinander im gesamten Osmanischen Reich.53
Die jüdischen Gemeinden genossen innerhalb der staats- und religionsrechtlichen Beschränkungen des Osmanischen Reiches (siehe oben) relative Autonomie und übten für ihre Mitglieder wichtige hoheitliche, gesellschaftliche und politische Funktionen aus.54 Sie repräsentierten ihre Mitglieder vor den lokalen osmanischen Autoritäten und waren diesen gegenüber verpflichtet, die Steuern einzutreiben und abzuliefern. Die herrschaftlichen Organe verlangten verschiedene Steuern und Abgaben: die wichtigste war die Kopfsteuer (arabisch: Ǧizya bzw. türkisch: Cizye), die von jedem nicht-muslimischen, erwachsenen, männlichen Untertanen eingetrieben und aus dem Qur'an (9,29) abgeleitet wurde; für die Ordination eines Rabbiners wurde als Erlaubnisentgelt das Rav akçesi (so der osmanische Begriff für diese Abgabe) verlangt; seit 1653 versuchte der staatliche Fiskus von der Mobilität vieler Juden zu profitieren und belegte den Wohnortswechsel mit einer eigenen Abgabe; es kamen in speziellen Situationen die Eintreibung von monetären und/oder Naturalabgaben hinzu, im Kriegsfall z.B. für die Versorgung des Militärs als Ersatz dafür, dass nur Muslime zum Kriegsdienst herangezogen wurden.
Nach innen hin kümmerte sich die Gemeinde um die Religionsausübung durch die Verwaltung der Synagogen, um die elementare und die weiterführende Ausbildung in den religiösen Grundschulen (Talmud-Tora) und den Jeschivot (höheren Talmudschulen), um das Personenstandsrecht (Eheschließung und -scheidung), um Bestattungen und zivilrechtliche Streitfälle, um die karitative Versorgung der Armen und um das Gesundheitswesen durch die Gründung und Instandhaltung von Hospizen. Im Zusammenhang der vorindustriellen, neuzeitlichen Gesellschaft übernahm die jüdische Gemeinde gegenüber ihren Mitgliedern damit aus heutiger Sicht quasi-staatliche Funktionen und sicherte ihre Mitglieder durch ein engmaschiges soziales und institutionelles Netzwerk ab. Dafür waren die jüdischen Familien für das fiskalische Aufkommen des Staates, das die Gemeinde einzog, und der Gemeinde selbst verantwortlich. In manchen Fällen wurden diese Abgaben auch unter Gewaltanwendung eingetrieben. Nachteilig wirkte sich für die breite jüdische Masse die zunehmende Oligarchisierung der Gemeindeleitungen aus, in denen oft nur die einflussreichsten Familien Macht besaßen.55
Stadtgemeinden außerhalb des osmanischen Territoriums
Wenn man die Geschichte des sephardischen Judentums besprechen möchte, sollte der Fokus nicht nur auf die osmanischen Gebiete gerichtet werden. In den südosteuropäischen Städten, die nicht zur Herrschaft der Hohen Pforte gehörten, lebten ebenfalls Juden, die im Unterschied zum Sephardentum unter türkischer Herrschaft als Peripheriegebiete der mitteleuropäischen Judenheit im Habsburgerreich angesehen werden müssen. Die für die westeuropäische Geschichte der Sepharden wichtigen Handelsstädte mit protestantischer Obrigkeit, nämlich Amsterdam, Hamburg und London, sind gleichfalls geeignete Beispiele für sephardisches Leben in Europa. Für den Iberien-Handel und den Transport von Luxusgütern aus den jungen Kolonien erwiesen sich die eingewanderten Juden für die aufstrebenden Städte aufgrund ihrer Kontakte zu Spanien und Portugal als überaus wichtig und übten eine Mittlerposition aus,56 erfuhren im Gegenzug aber auch den politischen Schutz durch die Städte vor Verfolgung und Benachteiligung durch die spanischen Behörden.57
Die zwei wichtigsten Städte, die hier zu nennen wären, sind das zu den ungarischen Kronlanden gehörige Zagreb (deutsch: Agram) und die Freie Stadt Dubrovnik (italienisch: Ragusa). Die erste urkundliche Erwähnung von Juden in Zagreb stammt noch aus dem Mittelalter (1355).58 Viel besagen die Quellen für diese Zeit leider nicht, außer dass 1460 die Juden die Stadt verlassen mussten. Ob sie vertrieben wurden oder aus einem anderen Grund emigrierten, ist nicht genauer bekannt.59 Erst 1782 wurde durch das Toleranzedikt Kaiser Josephs II. (1741–1790) die Ansiedlung von Juden in Zagreb wieder erlaubt. Hierher zogen daher vor allem aschkenasische Juden aus dem Habsburgerreich, die als städtisch-bürgerliche Schicht in die Gesamtgesellschaft weitgehend integriert waren;60 Sepharden kamen erst im 19. und 20. Jahrhundert hinzu. Der unabhängige Stadtstaat Ragusa (Dubrovnik), der maßgeblich von seinem Handelspartner Venedig beeinflusst wurde, war durchgehend von norditalienischen Juden besiedelt gewesen, nachgewiesen ab dem Jahr 1368. Schon vierzig Jahre früher wurden Juden in der Stadt Split in der Region Dalmatien erwähnt; auch hier ist seitdem eine kontinuierliche jüdische Bevölkerung zu verzeichnen.61
Von den westeuropäischen, protestantischen Handelsstädten in der Frühen Neuzeit, die zum Ziel der sephardischen Juden avancierten, war Amsterdam in den Vereinigten Niederlanden sicherlich die durch den internationalen Handel,62 aber auch durch die Weiterverarbeitung (z.B. von Rohdiamanten und Seide)63 wirtschaftlich erfolgreichste Stadt. Hier entstand schließlich die größte jüdische Gemeinde.64 Gab es 1620 noch ca. 1.200 jüdische Einwohner,65 stieg die Zahl im 17. Jahrhundert auf etwa 6–7 Prozent der Stadtbevölkerung Amsterdams an,66 so dass man am Ende des Jahrhunderts mit ungefähr 2.000 Gemeindemitgliedern rechnen kann.67 Ab dem Ende des 16. Jahrhunderts öffnete die Stadt vertriebenen Sepharden ihre Tore, bald auch osteuropäischen Aschkenasen.68 Die rechtliche Grundlage für das Leben der Immigranten bildete die 1616 promulgierte Judenordnung,69 die vergleichsweise umfangreiche Freiheiten in der ökonomischen Betätigung,70 den politischen Rechten und der religiösen Autonomie gewährte.71 Die calvinistischen Stadtherren mischten sich nicht in die gemeindeinternen Belange der Juden ein, sondern garantierten die Möglichkeit der Rückkehr zum Glauben sowie die Ausübung der jüdischen Tradition.72 Der sicherlich bekannteste Fall aus der internen, autonomen Gerichtsbarkeit über die Mitglieder der Kultusgemeinde dürfte Amsterdams berühmtestes Kind unter den Sepharden sein, der Philosoph Baruch de Spinoza (1632–1677)[], der 1656 mit dem Bannfluch belegt wurde und als Häretiker aus der Gemeinde ausgeschlossen wurde.73
In der Hansestadt Hamburg lagen die Dinge anders.74 Hier gerieten die sephardischen Einwanderer in den Sog innerstädtischer Auseinandersetzungen und wurden zum Spielball der herrschenden Autoritäten.75 Auch unterschied sich ihr Status dahingehend, dass die Gemeinde eine Sonderabgabe, ein "Schoßgeld", zu entrichten hatte, um ihr Bleiberecht zu behalten.76 Im Jahr 1610 verfügte die Stadt die Duldung der portugiesischen Kaufleute, worunter die sephardischen Juden verstanden wurden, die angesichts der Rechtslage im Reich, dissimulierend nicht entsprechend ihrer Religionszugehörigkeit, sondern entsprechend ihrem Berufsstand und der territorialen Herkunft wahrgenommen wurden.77 Die entscheidende rechtliche Legitimierung ihres dauerhaften Aufenthalts in Hamburg erfolgte 1612 durch den Niederlassungskontrakt zwischen der Stadt und den besagten "portugiesischen Kaufleuten" (Novellen: 1617 und 1650);78 diese Klassifikation ermöglichte die damals einmalige judenpolitische Maßnahme, nicht durch eine obrigkeitliche Verfügung den Schutz der jüdischen Minorität zu gewährleisten, sondern – zumindest formaliter – einen Vertrag zwischen zwei gleichberechtigten Vertragspartnern abzuschließen.79 Juristisch wurden die Einwanderer daher nicht als Juden eingestuft, sie waren vielmehr eine ausländische Berufsgruppe, die mit der Stadt ein Vertragsverhältnis einging, das beide Parteien gleichermaßen verpflichtete. Betroffen von dem 1612er-Kontrakt waren schätzungsweise 150 eingewanderte Juden.80 Der Vertrag machte aber auch deutlich, was der Hamburger Magistrat von den Immigranten erwartete, nämlich die Erschließung und Förderung der Wirtschaftsinteressen im internationalen Kolonialhandel und besonders die Vermittlung des Zugangs zum begehrten iberischen Markt; gleichzeitig sollte eine Konkurrenz mit den Zünften vermieden werden.81 Demgegenüber erwies man sich als weitaus weniger tolerant in Bezug auf die Religionsausübung, was mit den Auseinandersetzungen der in Hamburg stark vertretenen lutherischen Orthodoxie und ihrer Meinungsmacht zusammenhing, die sie vor allem durch die Bürgerschaft ausüben konnte.82 Der jüdische Gottesdienst war in Hamburg selbst untersagt, durfte aber im benachbarten (und nicht zur Hansestadt gehörenden, sondern bis 1864 dänisch verwalteten) Altona praktiziert werden. Die Synagoge in Altona kann insofern als ein modus vivendi angesehen werden, der das Leben in Hamburg für die Sepharden möglich machte, gleichzeitig aber den Vorbehalten von christlicher Seite und den politisch-rechtlichen Bedingungen Rechnung trug. In den Novellen des Kontrakts wurde die Gottesdienstfreiheit etwas stärker berücksichtigt, schuf aber keine mit den Amsterdamer Verhältnissen gleichzusetzende Situation. Überhaupt schwankte Hamburgs Judenpolitik im 17. Jahrhundert zwischen dem ökonomischen Utilitarismus besonders des Magistrats auf der einen Seite und den antijüdischen Ressentiments der lutherischen Würdenträger auf der anderen Seite.83
Auch in London wurden die Sepharden nicht als Juden eingestuft, sondern gemäß der englischen Rechtslage eingeordnet: Sie galten als Nicht-Anglikaner,84 gehörten damit – auf einer Stufe mit den Katholiken – zu denjenigen Personengruppen, die keine Mitgliedschaft in der Staatskirche besaßen. Überhaupt war das Thema der Judenpolitik von marginalem Gewicht im England des 17. Jahrhunderts: Unter dem Lord Protector Oliver Cromwell (1599–1658) sollte die Whitehall-Konferenz im Jahr 1655 über den Status der jüdischen Minderheit beraten,85 das Ergebnis wurde jedoch verschleppt;86 es wurde stattdessen eine "Politik der stillschweigenden Duldung"87 gepflegt. Es liegt eine gewisse historische Ironie in der Tatsache, dass das Fehlen eines einklagbaren Rechtstitels auch positive Auswirkungen hatte: Nach der Restauration unter König Karl II. (1630–1685) wurden alle Gesetze aufgehoben, die seit dem Beginn des Bürgerkrieges ohne königliche Zustimmung erlassen worden waren. Da es bezüglich der sephardischen Juden kein Gesetz gegeben hatte, konnte die Politik der stillschweigenden Duldung fortgeführt werden.88