Der Faktor Technik in der Geschichte Europas – Anmerkungen zum Forschungsstand
Das Thema "Technik" nimmt in einiger Hinsicht eine Sonderstellung in der historischen Europaforschung ein. In der Allgemeinen Geschichtswissenschaft bleibt "Technik" als Faktor der Geschichte Europas in der Regel unbeachtet. Dies liegt nicht nur daran, dass Ergebnisse technikhistorischer Forschung hier vergleichsweise wenig rezipiert werden. Hinzu kommt eine grundsätzliche Polarität der Analyse von Europäisierungsprozessen: Lange Zeit konzentrierte sich die Aufmerksamkeit vorrangig auf die bewusste Imagination oder Umsetzung europäischer Verflechtungen. Nicht intentional gesteuerte Prozesse der kulturellen Homogenisierung sind hingegen erst später in den Blick gerückt. Genau diesem Feld sind jedoch zahlreiche technikhistorische Entwicklungen zuzurechnen, gerade in der Zeit vor dem 20. Jahrhundert. Zum einen handelte es sich dabei um Prozesse des Techniktransfers aufgrund individueller Motivationen. Wo politische Akteure zum anderen den Transfer von Technik über territoriale Grenzen hinaus bewusst förderten, erfolgte dies primär mit dem Ziel, sich ökonomische, militärische oder kulturelle Vorsprünge für das eigene Territorium zu sichern. Eher paradoxerweise resultierten aus der ständigen Konkurrenzsituation zwischen europäischen Territorien seit der frühen Neuzeit letztlich vergleichsweise einheitliche Grundstrukturen sowohl der Förderung technischer Entwicklungen als auch ihrer kulturellen Wahrnehmung und Deutung.
Generell hat die Teildisziplin Technikgeschichte technische Entwicklungen in Europa auf unterschiedlichen Sektoren zwischen 1450 und 1950 gut erforscht – wenn auch weit intensiver für die europäischen Kernregionen als für die Peripherie und angrenzende Kulturräume wie das Osmanische Reich.1 Dies gilt auch für Prozesse des Wissens- und Technologietransfers wie Migrationsprozesse von Handwerkern, die kontinuierliche Verschiebung der Führungsrolle gewerblich prosperierender Regionen innerhalb Europas, die Rezeption des englischen Industrialisierungsmodells auf dem Kontinent, oder die daran anschließende Herausbildung europäischer Expertenkulturen.2 Dass es sich dabei um Phänomene von europäischer Dimension handelt, wird oft selbstverständlich konstatiert. Doch welche Implikationen hatten solche Prozesse für die langfristige Genese eines spezifisch europäischen "Technikraumes" mit konvergierenden Entwicklungslinien der Produktion wie auch der kulturellen Rezeption von Technik? Und wie definierten solche Transferprozesse Zentren und Peripherien Europas in immer wieder neuen Formen? Solche Fragen zu beantworten ist auch deshalb anspruchsvoll, weil aktuelle methodische Entwicklungen der Transferforschung verstärkt die Vielschichtigkeit wechselseitiger Aneignungsprozesse betonen. Die Frage nach Europäisierungsprozessen hingegen verlangt umgekehrt eher eine Vogelschauperspektive, die komplexe Prozesse auf gemeinsame Grundlinien reduziert.
Es überrascht vor diesem Hintergrund nicht, dass ein methodisch differenzierter Gesamtüberblick der europäischen Dimension der Technikgeschichte im hier untersuchten Zeitraum von 1450 bis 1950 nicht vorliegt. Das liegt nicht zuletzt an Epochengrenzen, welche die technikhistorische Forschung insgesamt prägen, also die weitgehend separate Behandlung einerseits der Technikgeschichte der frühen Neuzeit, andererseits des beginnenden Industrialisierungsprozesses im 18. und 19. Jahrhundert und drittens der Hochindustrialisierung des 19. und 20. Jahrhunderts. Systematisch angelegte Arbeiten zur Bedeutung technikhistorischer Entwicklungen für die Geschichte Europas haben sich bislang fast ausschließlich auf diese dritte Phase konzentriert. Sie behandeln technologische Großprojekte wie den Aufbau transnationaler Infrastrukturen im Transportwesen, der Energieversorgung oder im Kommunikationssektor ebenso wie die Rolle von ingenieurtechnisch geprägten Expertenkulturen oder Aneignungsprozesse von Technologien durch Konsumenten oder Bastler. Die Kontextualisierung solcher technikhistorischen Entwicklungen in ihrer politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Dimension hat dabei gezeigt, dass technische Entwicklungen neben Integrationseffekten immer auch fragmentierende und ausschließende Effekte nach sich zogen.3
In der Gesamtschau zeigt sich dennoch sehr deutlich, dass der Einigungsprozess Europas nicht nur auf politischer Ebene zu verorten ist, wo er nach Anfängen in den 1930er Jahren insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg explizit der Vision eines vereinten Europa folgte. So wurde auch umgekehrt formuliert: "Technik, Infrastrukturen und Logistik haben zur Integration der europäischen wie auch der Weltgesellschaft im Ergebnis zweifelsohne Nachhaltigeres beigetragen als die Politik."4 Auf jeden Fall war und ist europäische Integration auch ein Resultat des Aufbaus transnationaler Infrastrukturen sowie gegenseitiger Bezugnahmen (linking), der Zirkulation (circulation) und der Aneignung (appropriation) technischer Artefakte. Dieser spannungsreiche Prozess der Europäisierung erfolgte allerdings weniger geplant als "versteckt", so dass er vielfach als hidden integration bezeichnet worden ist.5
Technik und Europa – kein Thema für die frühe Neuzeit?
An dieser Stelle kann die noch ausstehende, epochenübergreifende Synthese zum Verhältnis von "Technik" und "Europa" nicht geleistet werden. Vielmehr beschränkt sich der vorliegende Text darauf, ausgewählte technikinduzierte Kohäsionsfaktoren der Geschichte Europas zu skizzieren. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der frühen Neuzeit, für die Bezüge zwischen technischen Entwicklungen und Europäisierungsprozessen bislang noch weitgehend ungeklärt sind. Die These, dass Prozesse technischen Wandels bereits lange vor 1850 einen Kohäsionsfaktor von Europäisierungsprozessen darstellten, ist erklärungsbedürftig. Zwar geht die Forschung, wie erwähnt, davon aus, dass es bis zu den expliziten, technikbezogenen Initiativen für eine Einigung Europas ab den 1950er Jahren schon seit etwa den 1850er Jahren eine technikinduzierte hidden integration gegeben habe. Eher unter der Hand als explizit begründet entsteht dabei jedoch der Eindruck, dass technische Entwicklungen vor dieser Zeit für Europäisierungsprozesse irrelevant waren. Dies war jedoch nicht der Fall.
Die langfristige Genese technikinduzierter Europäisierungsprozesse lässt sich an durchaus bekannten Beispielen leicht verdeutlichen: Auch wenn Transport- und Kommunikationsinfrastrukturen durch Eisenbahn- und Telegrafenverbindungen im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine ganz neue Qualität annahmen, hatte beispielsweise der Überlandtransport von Gütern und Personen durch das Postwesen und den Chausseebau schon in der frühen Neuzeit zu beschleunigten Austauschprozessen innerhalb Europas geführt. Auch im Bereich der frühneuzeitlichen Militärtechnik kann die Durchsetzung von Feuerwaffen und neuartigen Festungsbausystemen ab dem Spätmittelalter gar nicht anders als das Resultat umfassender Austauschprozesse innerhalb Europas beschrieben werden. Dies gilt auch für die durch den frühneuzeitlichen Buchdruck ausgelösten kulturellen Homogenisierungsprozesse. Ihre spezifisch europäische Dimension lässt sich gerade im Vergleich zur vorsichtigeren Rezeption des Buchdrucks im Osmanischen Reich oder den differierenden technischen Verfahren und kulturellen Konsequenzen des chinesischen Buchdrucks erkennen. Für einen europäischen Erfahrungshorizont technischen Wissens hatte der Buchdruck schon in der frühen Neuzeit eine kaum zu überschätzende Bedeutung – und die Entstehung neuer Textsorten technischer Fachliteratur im 19. und 20. Jahrhundert schloss nahtlos an diesen Prozess an.
Solche Dimensionen einer technikinduzierten hidden integration bereits in der frühen Neuzeit zu verorten, korrespondiert auch mit Überlegungen zu Europäisierungsprozessen in anderen Feldern der Frühneuzeitforschung. So ist hier ebenfalls die grundlegende Rolle neuartiger Kommunikationsstrukturen für einen "nicht intendierten Prozesses der 'Europäisierung'" herausgestrichen worden.6
Im Folgenden sollen insbesondere die Rahmenbedingungen im Zentrum der Betrachtung stehen, unter denen sich Transferprozesse von Technik innerhalb Europas – die es de facto schon in der Antike und im Mittelalter gegeben hatte – in der frühen Neuzeit beschleunigten, neu strukturierten und zunehmend dezidiert gefördert wurden. Dies gilt insbesondere für Strukturen der Förderung innovativer Technologien, um in der kontinuierlichen militärischen, ökonomischen und kulturellen Konkurrenz der europäischen Territorien zu bestehen. Sie verdankten sich einerseits der Initiative europäischer Territorialherren, waren jedoch andererseits gerade aus wissenshistorischer Perspektive auch auf vielen anderen Feldern wirksam – bis hin zur Korrespondenz über technische Fragen in der europaweiten "Gelehrtenrepublik" oder der Thematisierung technischer Innovationen im expandierenden frühneuzeitlichen Zeitschriftenwesen. Insgesamt führte dieser Prozess über geografische territoriale, konfessionelle und sprachliche Grenzen hinweg zu einem sich europaweit konsolidierenden Ensemble medialer und institutioneller Rahmenbedingungen technischer Entwicklungen, lange bevor solche Verbindungslinien dezidiert auf der Agenda staatlicher Akteure oder transnational agierender Unternehmen standen. Insofern dieser Effekt alles andere als intendiert war, handelte es sich hier ebenfalls um einen "versteckten" Prozess der Homogenisierung, ein "Europa wider Willen".7
Personaler Techniktransfer seit dem ausgehenden Mittelalter
Auch wenn der Fokus an dieser Stelle auf der Zeit nach etwa 1450 liegt, waren technische Entwicklungen – in der wie angesprochen unintendierten Weise – durchaus bereits in Antike und Mittelalter von europaweiter Dimension. Gerade das zentral regierte Imperium Romanum sorgte für umfassende Prozesse des Techniktransfers, beispielsweise in der Bautechnik, auch wenn diese zugleich immer mit autochtonen Entwicklungen in den einzelnen Provinzen des Reiches interagierten. Im Mittelalter verliefen entsprechende Prozesse weit weniger zentral gesteuert. Getragen wurden sie insbesondere durch Migration spezialisierter Handwerker als Teil europaweiter ökonomischer Verflechtungen, die sich im Verlauf der frühen Neuzeit intensivierten. Allerdings waren die Wege dieses Transfers keinesfalls einheitlich über Europa verteilt. Er erfolgte verstärkt entlang traditioneller Handelsstraßen sowie der Wasserwege der Binnen- und Küstenschifffahrt in den ökonomisch prosperierenden Zentralregionen Europas. Der breite Korridor von Italien über Süd- und Oberdeutschland, Frankreich und den Rhein entlang, über die Niederlande nach England hatte traditionell besondere Bedeutung.
Zunächst blieben mit diesen Transferprozessen verbundene Wissensbestände im Wesentlichen an den Körper des jeweiligen Trägers gebunden, wurden in persönlichen Ausbildungsverhältnissen weitergegeben und gingen häufig wieder verloren. Im Handwerk verdichteten sich Austauschprozesse seit dem späten 14. Jahrhundert durch die Praxis der Gesellenwanderung. Hinzu kamen im Verlauf der frühen Neuzeit Wanderungsbewegungen religiöser Exilanten. Zuweilen wurden diese, beispielsweise für den Landesausbau in Preußen oder die Wiederbesiedlung der Kurpfalz nach den Französischen Erbfolgekriegen, dezidiert aufgrund ihrer besonderen Kompetenzen in bestimmten Gewerben und Technologien angeworben.
Durch derartige Migrationsprozesse verbreitete sich technische Expertise innerhalb Europas und führte zu einem immer noch sehr stark lokal geprägten, aber dennoch in Grundtendenzen homogenisierten Pool von Kenntnissen und Erfahrungen in zahlreichen Handwerken. Auf die gemeinsame Basis dieser Kompetenzen lässt sich insofern schließen, als sich seit dem Spätmittelalter neue Technologien wie der Buchdruck, die mechanische Räderuhr oder auch der Geschützguss innerhalb weniger Generationen in den europäischen Kernregionen verbreiteten. Besonders markant waren solche Transferprozesse in Sektoren wie dem Bergbau, wo das Auffinden neuer Lagerstätten häufig nicht mit der Verfügbarkeit der zum Abbau nötigen Expertise korrespondierte. Linguistische Parallelen der Bergmannssprache wie juristische Regelungen des Bergrechtes belegen schon seit dem Mittelalter Transferprozesse aus den zentraleuropäischen Bergbauregionen bis nach England oder auf den Balkan.8
Zuweilen wurde ein solcher Austausch auch durch den Transfer technischer Objekte selbst induziert, im Kleinen im Kunsthandwerk, im Großen beispielsweise im Schiffbau. Als im Spätmittelalter die Umrundung der Iberischen Halbinsel häufiger gewagt wurde, trafen sich Schiffstypen unterschiedlicher Schiffbautraditionen des Mittelmeers einerseits und der Nord- und Ostsee andererseits zunehmend in den niederländischen Häfen. Dies resultierte in Impulsen für eine wechselseitige Übernahme jeweils typischer Elemente der Beplankung, der Besegelung oder weiterer Konstruktionsmerkmale.
Die dezidierte Förderung solcher Transferprozesse hatte sich im Mittelalter weitgehend auf individuelle Initiativen von Stadtregierungen oder Territorialherren beschränkt. Sie warben auswärtige Handwerker, ingenieurtechnische Experten oder Architekten aktiv durch die Gewährung von attraktiven Konditionen wie dem Bürgerrecht oder Steuererleichterungen an. Solche Tendenzen verdichteten sich seit dem ausgehenden Mittelalter. Wichtige Impulse resultierten aus der Funktion der Höfe als kulturellen Zentren. Durch die europaweite Heiratspolitik engmaschig verknüpft, standen sie trotz aller politischen Auseinandersetzungen in ständigem Austausch. Militärische wie ästhetische Konkurrenz beförderten den Transfer technischer Experten, die versprachen, Wünsche in die eine oder die andere Richtung zu realisieren.
Nördlich der Alpen galt es im 16. Jahrhundert als Qualitätsmerkmal herausragender Baumeister und ingenieurtechnischer Experten, auf Reisen nach Italien die dortigen Stilformen und Technologien kennengelernt zu haben und in ihrer Heimat umsetzen zu können. Einige hielten technische Anlagen und Bauwerke in Reisetagebüchern fest, publizierten nach ihrer Rückkehr gedruckte Reiseberichte und verfügten zugleich selbst über erhebliche Bestände technischer Literatur in unterschiedlichen europäischen Sprachen. Umgekehrt nutzten im 16. Jahrhundert zahlreiche italienische Baumeister und Architekten die kulturelle Vorrangstellung von Architektur und Festungsbau ihrer Heimat, um sich nördlich der Alpen, oder auch in Spanien zu verdingen. Auch wenn die europaweite Zirkulation und Anpassung von Baustilen wie Renaissance und Barock von der Architekturgeschichte umfassend untersucht ist, sind die homogenisierenden Implikationen für Europa als "Technikraum" kaum explizit ausgelotet worden. Fast noch mehr als die kreative Rezeption von Stilformen der Zivilarchitektur zeigt dies die von Italien ausgehende, europaweite Übernahme des bastionären Festungsbaus.9 Trotz einer erheblichen Vielfalt von Detaillösungen sollte dieser bis ins 19. Jahrhundert Grundformen der Verteidigungsarchitektur prägen. Solche Beispiele sind dabei nicht nur als Faktor europaweiter Homogenisierungsprozesse zu sehen, sie führten auch zu Ausschlussprozessen derjenigen Territorien, die sich entsprechend aufwändige Anlagen nicht leisten konnten.
Frühneuzeitliche Innovationskulturen von europäischer Reichweite
Hinsichtlich der genannten Migrationsprozesse ist zwischen Mittelalter und früher Neuzeit kein klarer Epochenbruch zu erkennen. Sie sollten bis weit in die Hochindustrialisierung eine zentrale Rolle für die Zirkulation technischen Wissens zwischen europäischen Regionen spielen. Eine weit deutlichere Zäsur zeigt sich demgegenüber bezüglich der Entwicklung medialer und institutioneller Instrumentarien, die in der frühen Neuzeit den Transfer technischen Wissens verstetigten und die als frühneuzeitliche Innovationskulturen beschrieben werden können.10
Ein frühes Beispiel für ein solches Förderungsinstrument, speziell im Bereich innovativer Ingenieurtätigkeit, waren ab dem ausgehenden 15. Jahrhundert die so genannten Erfinderprivilegien, aus denen sich im Verlauf der frühen Neuzeit das Patentwesen entwickelte. Territorialherren gewährten Trägern neuartiger technischer Entwicklungen, gerade im Bereich vergleichsweise identisch reproduzierbarer mechanischer Anlagen wie Mühlwerken und Wasserhebeanlagen, für ihr Territorium Schutz vor unbefugtem Nachbau. Dieses Rechtsinstrument zielte nicht nur darauf ab, Erfinder aus dem eigenen Territorium zur "Veröffentlichung" ihrer Ideen zu bringen. Es wandte sich ebenfalls an "auswärtige" Experten, um deren Kenntnisse für das eigene Territorium nutzbar zu machen. War damit ein Anreiz für den innereuropäischen Techniktransfer institutionalisiert, so hatte dieses Rechtsinstrument seit dem 16. Jahrhundert auch insofern eine europäische Dimension, als die Hoffnung auf positive Effekte zu seiner Übernahme in zahlreichen Territorien führte.11
Ungleich vielfältigere und weitreichendere Auswirkungen für die europaweite Homogenisierung der Formen und Inhalte technischen Wissens hatten allerdings die Medienrevolutionen der frühen Neuzeit. Sie betrafen nur spezifische Wissensformen, eben schriftliche und bildliche Repräsentationen, letztere mit dem prominentesten Beispiel geometrisch konstruierter perspektivischer Darstellungen. Gedruckte technische Literatur und technische Zeichnungen standen damit stets nur indirekt in Wechselwirkung mit der technischen Praxis. Die entsprechenden Konventionen wurden jedoch über Ländergrenzen hinweg europaweit rezipiert.
Dieser enorme Zuwachs kodifizierten technischen Wissens im Verlauf der frühen Neuzeit prägte kulturelle Standards wie die Wahrnehmung des "Standes der Technik" in neuartiger Weise. Dieser konstituierte sich nun nicht mehr allein auf der Basis persönlicher Erfahrungen und persönlichen Austausches, sondern auch durch die Menge und Struktur medial vermittelter Informationen. Zur vielfältigen Interaktion unterschiedlicher Wissensformen trugen Sammlungen wie die seit dem 16. Jahrhundert florierenden Kunst- und Wunderkammern bei, die in vergleichsweise einheitlicher Form an zahlreichen europäischen Höfen eingerichtet wurden und unter denen sich auch technische Objekte befinden konnten. Hoch stehende Reisende, die sie besuchten, bekamen auf diese Weise einen "europäischen" Wissenshorizont beispielsweise bezüglich herausragender Produkte des Kunsthandwerks.
Über solche eher informellen Praktiken hinaus etablierten sich gerade im 18. Jahrhundert stärker formalisierte institutionelle Strukturen. Neben den Wissenschaftsakademien, die häufig auch technische Innovationen oder Prozesse analysierten, waren dies insbesondere die meist obrigkeitlich finanzierten Ausbildungsinstitutionen für technische Expertise, die nun neben herkömmliche handwerkliche Ausbildungswege traten. Zu denken ist hier zunächst an Ingenieurschulen, wie sie insbesondere nach französischem Vorbild bald europaweit für das Militärwesen, den Infrastrukturausbau oder das Montanwesen gegründet wurden. Hinzu kamen Zeichenschulen, die seit dem 18. Jahrhundert mit dem Ziel der Förderung von Produktinnovationen Expertise in Design- und Geschmacksfragen lehrten. Auch hier war die territoriale Konkurrenz in den europäischen Kernregionen wirksam – Neugründungen wurden vielfach nach "ausländischen" Vorbildern zu kopieren versucht. Dies betraf die formale Struktur der Ausbildung ebenso wie die Inhalte der Lehre oder die Migration von Lehrpersonal. Zugleich entstand in diesem Kontext ein Bedarf an Lehrbüchern für unterschiedliche Fachgebiete. Sie zirkulierten ebenfalls europaweit und sorgten ein weiteres Mal für eine Homogenisierung des Themenkanons in unterschiedlichen Fächern. Dass diese Institutionen zugleich ständigem Innovationsdruck unterworfen waren, steht zu diesem Befund nicht in Widerspruch.
Derartige Prozesse der medial und institutionell gestützten "Europäisierung" technischen Wissens betrafen in der frühen Neuzeit nicht nur die Formierung technischer Expertise, sondern auch Nutzung und Konsum von Technik sowie die Wahrnehmung von Produktinnovationen. In der Konsumkultur, die im Verlauf der frühen Neuzeit von den Höfen aus in breitere bürgerliche Schichten diffundierte, waren nicht nur exotische – im Sinne außereuropäischer – Produkte wie Tee, Zucker, Kaffee begehrt, sondern auch Objekte und Moden aus europäischen Metropolen wie Paris oder London. Dies führte regelmäßig zum Versuch, entsprechende Herstellungsprozesse und Designformen zu imitieren oder gar zu übertreffen. Eine Vermittlerfunktion für solche Moden spielte neben den Objekten selbst wiederum die seit dem 18. Jahrhundert expandierende Zeitschriftenkultur, die für die europaweite Verbreitung entsprechender Konsumwünsche sorgte.
In der Gesamtschau entstand in der frühen Neuzeit ein sich europaweit konsolidierender, gemeinsamer Erfahrungshorizont technischen Wissens. Dabei überkreuzten sich teilweise gegenläufige Prozesse wie die im 18. Jahrhundert zunehmende Praxis der Industriespionage einerseits und der Austausch formalisierten technischen Wissens im Rahmen der frühneuzeitlichen Gelehrtenrepublik andererseits. Die Nachrichten über neue Errungenschaften wie die Ballonfahrten, die als Metaerzählung in unterschiedlichen Medien europaweit zirkulierten, setzten umfassende lokale und regionale Adaptionsprozesse in Gang.
Die hier grob skizzierten Entwicklungen hatten selbst eine wiederum technische Basis in den in der frühen Neuzeit noch im Rahmen des solaren Energiesystems optimierten Transportinfrastrukturen. An den systematischen Ausbau der Überlandstraßen für den Achstransport mit Kutschen und Fuhrwerken ist dabei ebenso zu denken wie an die damit einhergehende Verdichtung des Postwesens.12 Erst durch eine zunehmend engmaschige Taktung der Postkurse wurde es überhaupt möglich, Zeitschriften und später Zeitungen in regelmäßigen Abständen zu den Lesern zu bringen. Mit diesen Transportinfrastrukturen gingen auch neue Raumbeziehungen einher: Zu den schon lange existierenden Handelswegen traten weitere Achsen hinzu, deren Poststationen lokale und regionale Knotenpunkte darstellten. Insgesamt wurden Zentren und Peripherien innerhalb des geografischen Raumes "Europa" durch diese Infrastrukturen neu ausgerichtet.
Es ist ein Allgemeinplatz der Europaforschung, dass sich Europa immer auch in Abgrenzung zu anderen Kulturräumen definiert. Inwiefern die Kolonialisierungs- und Globalisierungsprozesse im Verlauf der frühen Neuzeit zu einer spezifischeren Wahrnehmung "europäischer" Technik im Kulturvergleich führten, ist erst im Ansatz erforscht.13 Dabei besteht kein Zweifel, dass Unterschiede in der Verfügbarkeit über technische Artefakte und Verfahrensweisen aus europäischer wie außereuropäischer Sicht umfassend wahrgenommen und reflektiert wurden – und dass aus europäischer Sicht die eigene Überlegenheit mit zunehmender Deutlichkeit herausgestrichen wurde. Allerdings wurde zumindest die Vorrangstellung der chinesischen Landwirtschaft im Europa des 18. Jahrhunderts immer wieder konstatiert und als Modell für entsprechende Reformprogramme in einzelnen europäischen Territorien propagiert. Da sich jedoch ein übergreifender Diskurs um den Begriff "Technik" überhaupt erst im 19. Jahrhundert herausbildete, blieben entsprechende Reflexionen bis dahin eingebettet in Diskurse und Begrifflichkeiten von Gewerbe, Industrie, Konsum oder Zivilisation.14
In diesem Zusammenhang hat die Debatte um die great divergence, in der deutschsprachigen Forschung unter den Schlagwörtern des "europäischen Sonderwegs" in die Industrialisierung bzw. "Warum Europa?" geführt, bislang kaum weitergehende Erkenntnisse über eine genuin europäische Dimension der frühneuzeitlichen Technikgeschichte im Vergleich zu der Chinas, Indiens oder des Osmanischen Reiches erbracht. Technischer Wandel gilt hier zwar als Kernelement eines verstetigten Wirtschaftswachstums ebenso wie des Industrialisierungsprozesses insgesamt. Häufig werden jedoch entweder eher oberflächliche Vergleiche spektakulärer technischer Innovationen zwischen Europa und anderen Weltregionen gezogen oder der englische Weg in die Industrialisierung verkürzend mit einer gesamteuropäische Entwicklung gleichgesetzt.15
Technik und Europäisierung im 19. und 20. Jahrhundert
Verdichteten sich die europaweiten Strukturen der Zirkulation technischen Wissens bereits im Verlaufe der frühen Neuzeit, setzte sich diese Entwicklung nach 1800 vergleichsweise unbeeinflusst durch den politischen und sozialen Epochenbruch der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege fort. Allerdings änderten sich die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im 19. Jahrhundert fundamental. Daraus resultierten völlig neue Ebenen und Möglichkeiten des Transfers technischer Objekte und technischen Wissens. Die möglichen Konsequenzen für Europäisierungsprozesse können an dieser Stelle nur exemplarisch angedeutet werden.16
Dass sich die konkrete Vernetzung europäischer wie außereuropäischer Territorien durch die neuen Kommunikations- und Transporttechnologien des 19. Jahrhunderts, insbesondere Eisenbahn und Telegrafie, stark beschleunigte, braucht kaum betont zu werden. Unumstritten war dieser Prozess nicht: Gerade in Kreisen des Militärs sah man in der Frühzeit der Eisenbahn zwar Vorteile für die Transportlogistik, sorgte sich aber darum, dem Feind auf Schienenwegen ein Einfallstor in das eigene Territorium zu liefern. Ganz allgemein kam es durch die spezifischen Netzwerkeigenschaften von Transport- und Kommunikationstechnologien wiederum zu einer Neuordnung geografischer Räume, deren Stationen und Knotenpunkte Wege des Austausches neu definierten und kanalisierten. Diese Prozesse waren ebenso bei den weiteren Entwicklungen des 20. Jahrhunderts im Transportsektor wie Luftfahrt und Automobil wirksam. Sie ermöglichten auf Konsumentenebene Horizonterweiterungen, die zunächst allerdings noch exklusiveren Gesellschaftsschichten vorbehalten blieben.
Weiterhin waren technikinduzierte Europäisierungsprozesse in der Regel nicht als solche intendiert. Sie speisten sich, wie schon in der frühen Neuzeit, aus der Konkurrenz nun etablierter Nationalstaaten, die eine grundlegende Ausrichtung der Entwicklung in die industrialisierte Moderne teilten. Neue Foren des Austausches wie Gewerbe- und ab 1851 insbesondere Weltausstellungen sorgten dabei für eine prononciertere Wahrnehmung der Leistungsfähigkeit der teilnehmenden Nationen.17 Vor diesem Hintergrund nahmen staatliche Initiativen der Innovationsförderung insbesondere im Bereich formalisierter technischer Ausbildung zu, um im Wettbewerb um technische Expertise Schritt zu halten. Hinsichtlich von Extrembeispielen wie dem Rüstungswettlauf im Verlauf des Ersten Weltkrieges erfolgte Wissenstransfer auf unterschiedlichsten Ebenen von der Spionage bis zur Untersuchung abgeschossener feindlicher Flugzeuge.
In den unterschiedlichsten Konstellationen blieben Nationalismus und Transnationalismus so notwendigerweise immer eng miteinander verschränkt bzw. aufeinander bezogen. Auf politischer wie auf ökonomischer Ebene war es fast ausgeschlossen, sich dem europäischen oder internationalen Horizont technischer Entwicklungen zu entziehen. Dieser blieb selbst für die Phase nationalsozialistischer Autarkiebestrebungen ein nicht hintergehbarer Referenzrahmen für die erstrebte Dominanz beispielsweise hinsichtlich der Technologie von Strahltriebwerken im Flugzeugbau oder der Raketentechnik.
So ist der Befund der hidden integration stets nur als Grundtendenz zu verstehen. Auf lokaler und individueller Ebene konnten konkrete Aneignungsprozesse solcher übergreifenden homogenisierenden Entwicklungen stets neue Formen annehmen, zu nicht intendierten Resultaten führen oder schlicht verweigert werden.
Initiativen, die dezidiert auf einheitliche europäische Entwicklungen abzielten, ergaben sich seit dem 19. Jahrhundert insbesondere in Fragen der Normierung und Standardisierung. Sie waren für das Funktionieren grenzübergreifender Infrastrukturen wie Eisenbahnen oder Telegrafennetze von entscheidender Bedeutung. Hinzu kam die Gründung transnationaler Unternehmen, wie sie nach dem Vorbild von international agierenden Handelshäusern und Banken seit dem 19. Jahrhundert häufiger erfolgte.
Mit den USA als Träger eines eigenen "Technischen Stils" trat im 19. Jahrhundert als völlig neue Entwicklung erstmals ein Akteur auf den Plan, der mittelfristig zu einer ernst zu nehmenden Konkurrenz für europäische Technologien wurde. Bis dahin hatte sich die Überlegenheit außereuropäischer Regionen auf einzelne Sektoren – wie das indische Textilgewerbe in Konkurrenz zum englischen im 17. und 18. Jahrhundert – oder spezifische Produkte wie das chinesische Primat in der Porzellanherstellung beschränkt. Nun entstand im direkten Vergleich eine geschärfte Vorstellung "europäischer" Technik im Vergleich zu den USA. Zugleich war die allgemeine Ausrichtung der technischen Entwicklung jedoch diesseits und jenseits des Atlantiks in vieler Hinsicht vergleichbar. Auf dieser grundsätzlichen Ebene wird eine klare Abgrenzung "europäischer" gegenüber gemeinsamen "westlichen" Entwicklungslinien zunehmend schwieriger. Eher zementierten in anderer Richtung die Kolonialisierungsprozesse des 19. und 20. Jahrhunderts die Wahrnehmung einer stetig wachsenden Kluft zwischen europäisch-westlichen und indigenen Technologien in den Kolonien. Dabei verschleiert diese Denkfigur durchaus vorhandene, umfassende Transferprozesse von Ressourcen und Technologien im Rahmen einer zunehmend globalisierten Weltwirtschaft ebenso wie die Komplexität wechselseitiger Aneignungsprozesse. Eine eigenständige Dimension kommt der Entwicklung in der Sowjetunion zu, die sich einerseits auf politischer Ebene von den zentraleuropäischen Staaten abkoppelte und nach eigenständigen technischen Lösungen suchte, dabei aber dennoch grundsätzlichen Leitbildern europäischer und amerikanischer Technikentwicklung folgte.
Auf wissenshistorischer Ebene vervielfältigte und beschleunigte sich im 19. und 20. Jahrhundert der Austausch technischen Wissens durch die rasch wachsenden Bestände technischer Fachzeitschriften und technischer Fachliteratur. Hatten schon in der frühen Neuzeit Ansätze zu einer Theoretisierung technischen Wissens hohe Aufmerksamkeit gefunden, bestanden nun zusätzliche Möglichkeiten, Expertise in unterschiedlichen Sektoren im Schnittfeld von Wissenschaft und Technik untereinander und mit anderen Wissensbeständen in Bezug zu setzen. Dennoch blieb der persönliche Wissenserwerb durch Reisen gerade für technische Experten von hoher Bedeutung, im frühen 20. Jahrhundert erweiterte sich der Radius in vielen Fällen auch auf die USA. Zu national geprägten berufsständischen Organisationen kamen im 20. Jahrhundert europäische oder internationale Fachvereinigungen hinzu, deren Vertreter sich auf Konferenzen zunehmend persönlich trafen.
Selten blieben die seit dem 19. Jahrhundert bekannten, später beispielsweise von Seiten des Völkerbundes vertretenen Initiativen, über den Aufbau gemeinsamer Technologien eine engere europäische Verschränkung mit dem Ziel friedensstiftender oder ökonomischer Vorteile für alle Beteiligten zu erreichen. Um 1930 war das Atlantropa-Projekt, also die Vision, u.a. mittels eines gemeinsam errichteten Staudammes bei Gibraltar Strom für europäische Länder zu erzeugen, die vielleicht plakativste Initiative in diese Richtung. Transnationale technische Visionen mussten auch in anderen Fällen nicht im Widerspruch zu national definierten Ingenieurshelden stehen, auch technische Utopien ähnelten sich in Europa wie in den USA vielfach in ihrer grundsätzlichen thematischen Ausrichtung.
Festzuhalten bleibt, dass die hidden integration Europas durch technische Entwicklungen den gesamten hier in den Blick genommenen Zeitraum von 1450-1950 treffend charakterisiert. Wie erwähnt verlief dieser Prozess keineswegs linear und bruchlos: Die kontinuierlichen Verschiebungen der Koalitionen unter den politischen Mächten Europas wie auch die katastrophalen Folgen militärischer Auseinandersetzungen vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Ersten Weltkrieg zerrissen immer wieder bestehende Netzwerke für den Austausch technischer Expertise – boten aber bald darauf wieder neuartige Impulse, Anschluss an als führend wahrgenommene, auswärtige technische Entwicklungen zu gewinnen.
Ausblick
Die hier grob skizzierte Analyse der europäischen Dimension der Technikgeschichte eröffnet der Allgemeinen Geschichtswissenschaft neue Möglichkeiten: Auf ihrer Basis kann genauer bestimmt werden, welche Bedeutung technikinduzierten Prozessen im Gesamtbild der Faktoren zukommt, die für die Formierung Europas von Bedeutung waren und sind. Möglicherweise könnte auch eine im Entstehen begriffene Globalgeschichte der Technik, die den europäischen bzw. westlichen Weg in die industrialisierte Moderne nicht als selbstverständliche Entwicklungsoption von Technik voraussetzt dazu beitragen, spezifisch europäische Züge in einem solchen Gesamtpanorama deutlicher herauszuarbeiten. Die Europäisierungsforschung jedenfalls würde zweifellos an Schärfentiefe gewinnen, wenn sie Prozesse der Homogenisierung europäischer Erfahrungshorizonte durch technischen Wandel – wie auch die damit einhergehenden Ausschlussprozesse – stärker in das Gesamtbild der Genese eines europäischen Kulturraumes mit einbeziehen würde.