Exil und Luthertum – einführende Bemerkungen
Im historischen Bewusstsein der Europäer scheinen Wanderungsbewegungen von Lutheranern in der Frühen Neuzeit weniger Spuren hinterlassen zu haben als etwa die Emigration der reformierten Hugenotten oder die (gemischtkonfessionelle) Auswanderung aus Europa nach Amerika. Eine gewisse Bekanntheit haben allein die Salzburger Protestanten erreicht: Sie gelten als Bevölkerungsgruppe, die 1731/1732 aufgrund ihres lutherischen Bekenntnisses auf besonders dramatische und gleichsam prototypische Weise von konfessioneller Intoleranz, Verfolgung und Emigration betroffen war. Die sogenannte Große Salzburger Emigration ist zugleich aber auch ein gutes Beispiel für den Beitrag von Lutheranern zur Mythisierung von Glaubensflucht und "Konfessionsmigration". Nicht nur die politische Instrumentalisierung dieses Migrationsvorgangs, sondern zahlreiche Geldsammlungen, Predigten, Druckschriften, Gedichte, Lieder, Flugblätter und Bilder entfachten eine öffentliche Resonanz, die in den wenigsten Fällen auf die Auswandernden selbst zurückging, sondern auf das protestantische und vornehmlich lutherische Umfeld, das mit ihnen in Berührung kam.1 Während lutherische Migranten wie die Salzburger in unterschiedlichem Maß am Transfer von kulturellen und sprachlichen Phänomenen, von materiellen Gütern, insbesondere aus dem kirchlich-religiösen Bereich (Erbauungsbücher, liturgische Gegenstände), aber auch von handwerklichen Fertigkeiten und bestimmten Wirtschaftsformen beteiligt waren, verbreitete sich in ihrem Umfeld die Figur des Glaubensflüchtlings über das protestantische Mitteleuropa.
In der politischen und medialen Aufbereitung und Instrumentalisierung konfessioneller Migrationen liegt eine wichtige Ursache für die Mythisierung von Glaubensflüchtlingen als duldsame Individuen, die mit dem Exulantenstab in der Hand, fromme Lieder singend und auf Gott vertrauend, wohlgemut in die Fremde ziehen. Die Salzburger sind in mancherlei Hinsicht ein Ausnahmefall, aber sie ordnen sich doch ein in ein größeres Migrationsgeschehen: Wanderungen lutherischer Bevölkerungsgruppen seit dem 16. Jahrhundert erstreckten sich meist über längere Zeiträume und fanden unter anderen Rahmenbedingungen statt. Österreicher, Böhmen, Mährer, Schlesier, Ungarn und viele andere Menschen aus Gebieten innerhalb und außerhalb des Alten Reiches prägten das Bild des lutherischen "Exulanten", an dem sich die Salzburger Emigration orientieren konnte.
Es hat lange gedauert, bis sich die Erforschung konfessioneller Wanderungen von einer religiös-erbaulichen Mythenbildung gelöst hat. Einen wichtigen Beitrag zur sozialgeschichtlichen Versachlichung der Diskussion leistete der von Heinz Schilling (geb. 1942) geprägte Terminus der "Konfessionsmigration". Allerdings bezog sich dieser Begriff vor allem auf reformierte Migranten. Auch die sogenannte "Reformation of the Refugees", die in der Forschung mittlerweile als eigenständige Ausdrucksform der Reformation etabliert ist, gilt primär als reformiertes Phänomen.2 Angehörige der größeren lutherischen Migrantengruppen waren aber – etwa im Unterschied zu den reformierten Niederländern oder Hugenotten – aufgrund sprachlicher, konfessioneller, wirtschaftlicher und sozialer Eigenschaften und angesichts der Aufnahmebedingungen in den Zielländern oft weniger eindeutig und dauerhaft einer Minderheit zuzuordnen, deren Sonderstellung sie zu religiösen oder wirtschaftlichen Innovationsträgern hätte werden lassen. Insofern scheinen sich Migrationen von Lutheranern in der Frühen Neuzeit für Erfolgsgeschichten weniger gut zu eignen. Dies betrifft gerade das Problem kultureller Transfers, die Migrations- und Ansiedlungsvorgänge begleiteten. Unzweifelhaft ging bei Migrationen immer die Einwanderung von Menschen mit der Übertragung von Ideen und materiellen Gütern einher, die dann an den neuen Siedlungsorten umgedeutet und neu kontextualisiert werden konnten. Solche Umdeutungen und Übernahmen lassen sich aber beispielsweise im Umfeld französischsprachiger Hugenottenkolonien in Brandenburg-Preußen leichter lokalisieren als etwa bei den vielen Migrationen aus habsburgischen Ländern in umgrenzende lutherische Gebiete des Reichs, wenn die Auswanderungen auf etablierten Kontakten aufbauten und sich die Wanderungsgebiete weder soziokulturell noch sprachlich stark von den Herkunftsgebieten unterschieden. Hinzu kam, dass die Migranten sich oft nicht in Gruppen ansiedeln konnten, sondern sich über bestimmte Landstriche verteilten.
Was die Migranten aber kennzeichnete und einte, war die Selbstbezeichnung "Exulant". Dieser Begriff ist gleichsam eine lutherische Erfindung mit einer eigenen interkonfessionellen, räumlichen und zeitlichen Transfergeschichte. Er ist eine Ableitung des römischrechtlichen Terminus "exul", mit dem ursprünglich ein Verbannter gemeint war.3 Bereits im Zusammenhang mit dem Amtsverzicht oder der Vertreibung lutherischer Pfarrer im Umfeld des Augsburger Interims 1548 taucht die Bezeichnung "exul" oder "exul Christi" in den Schriften betroffener Geistlicher auf.4 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nannten sich einige sogenannte Gnesiolutheraner aus dem ernestinischen Sachsen "exules". Manche dieser strengen Lutheraner nahmen ihre Amtsenthebung in Kauf und rechtfertigten dies mit ihrem aufrechten Bekennertum und dem Verbleib bei der göttlichen Wahrheit. Dabei grenzten sie sich entweder von innerlutherischen Positionen ab oder von einer weltlichen Obrigkeit, der sie die Überschreitung ihrer Kompetenzen vorwarfen.5 Exil war dabei erst in zweiter Linie als Ortswechsel im Sinn einer Auswanderung zu verstehen, zunächst und vor allem aber eine Geisteshaltung und Selbstzuschreibung von Angehörigen einer wahren Kirche der Rechtgläubigen, deren Schicksal von Verfolgung geprägt war. Dabei war mit Exil selten ein dauerhafter, sondern oft nur ein temporärer Zustand gemeint: Die Vorstellung eines vorübergehenden Exilaufenthalts, der auf (Wieder-) Einsetzung in die rechtmäßige göttliche Ordnung zielte, wurde in den legitimatorischen Schriften der Betroffenen mit Exempeln aus dem Alten Testament untermauert. Ziel musste die Wiedererlangung einer (räumlichen oder geistigen) Heimat sein – entweder auf Erden oder im Himmel. Die Vorstellung vom Exil als einem befristeten Zwischenzustand bzw. einer Etappe auf der lebenslangen Wanderschaft oder peregrinatio eines wahren Christen zeigt sich auch in der seit etwa 1600 vermehrt aufzufindenden Wortform "Exulant", die sich aus dem lateinischen Partizip Präsens "exulans" herleitet und damit sprachlich genau diese Vorläufigkeit impliziert.6 Wenn jemand sich freilich nur vorläufig an einem Zufluchtsort aufhält, dann hat dies Konsequenzen auf Ansiedlung und Integration, auf das Verhältnis zur Gastgebergesellschaft und auch auf Austausch und Kulturtransfer.
Der Begriff "Exulant" im Sinne eines standhaften Glaubensflüchtlings ist zwar lutherischer Provenienz. Dennoch findet er sich, wenngleich seltener, im Zusammenhang mit reformierten Konfessionsmigranten und sogar im katholischen Kontext.7 Bereits seine Frühgeschichte verweist auf die tragende Rolle der Geistlichen, die als Autoren, Kommunikatoren und Propagatoren, als Vermittler und zugleich als vorrangig Betroffene den Begriff "Exulant" prägten und die Migrationen beeinflussten, wenn nicht lenkten.8
Zugleich aber ist die Vorstellung des Exulanten im Zusammenhang mit den lutherischen Konfessionsmigrationen keineswegs auf Geistliche beschränkt. Darunter verstand man bald Wandernde aller Schichten, die sich in den Zusammenhang von Glaubensflucht einordneten und ihre Migration konfessionell begründeten. Der Begriff bildet primär die Sicht und vor allem die Selbststilisierung der Betroffenen ab. Im Unterschied dazu sprachen die territorialen Verwaltungsbehörden und kirchlichen Institutionen der (katholischen) Gegenseite oft nicht von Exulanten, sondern etwa von Rebellen, die sich ständischen Abhängigkeitsverhältnissen und staatlichen Anordnungen widersetzten und die dementsprechend strafrechtlich verfolgt werden konnten. In einigen Fällen verwendeten sie aber auch den neutraleren, reichsrechtlich definierten Terminus "Emigranten".9
In religiöser, aber auch politischer und rechtlicher Hinsicht vermischen sich bei konfessionellen Wanderungsbewegungen Freiwilligkeit und Zwang. Das sogenannte Ius emigrandi gab seit 1555 den Rahmen im Reich vor, nach dem andersgläubige Untertanen auf geregelte Weise aus einer Herrschaft abziehen konnten. Allerdings ging das Ius emigrandi zunächst auf ein protestantisches Zugeständnis gegenüber Katholiken auf dem Reichstag von 1530 zurück und ist darum wohl weniger als frühes individuelles Grundrecht auf freie Glaubensausübung zu verstehen, sondern als Ausführungsbestimmung des landesherrlichen Reformationsrechts.10 Martin Luthers (1483–1546) Interpretation von Matthäus 10,23 aus dem Jahr 1526 entspricht demgegenüber schon eher der Vorstellung individueller Glaubensfreiheit, wenn er schreibt:
Und wo ein Fürst odder herr das Euangelion nicht wil leyden, Da gehe man ynn ein ander Fuerstenthum, da es geprediget wird, wie Christus spricht: "Verfolgen sie euch ynn einer stad, so fliehet ynn die andere".11
Faktisch stellte sich die Situation allerdings komplizierter dar: Für Angehörige einer konfessionellen Minderheit war die Auswanderung nur eine von mehreren Möglichkeiten, mit obrigkeitlichen Bestrebungen konfessioneller Vereinheitlichung umzugehen. Ein Ortswechsel hing von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Faktoren ab und musste genau abgewogen werden. Eine andere Möglichkeit neben der Auswanderung aus Glaubensgründen war der Übertritt zum katholischen Mehrheitsbekenntnis, oft verbunden mit der Beibehaltung bestimmter lutherischer Frömmigkeitsformen im Untergrund.12 Die theologische Legitimation solcher geheimprotestantischer Praktiken, wie sie seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert in rekatholisierten Gebieten weit verbreitet waren, oder die Frage, ob und wann etwa ein Geistlicher einem Ausweisungsbefehl Folge zu leisten habe oder ob er seine Gemeinde überhaupt im Stich lassen dürfe, waren im Luthertum umstrittene Themen.13 Ähnlich unklar war die Frage, inwieweit sich emigrationswillige Lutheraner überhaupt auf das Emigrationsrecht der Reichsgesetze berufen konnten, gerade wenn die Durchsetzung der Reformation in ihren Heimatterritorien nicht auf reichsständischer, sondern auf landständischer oder grundherrlicher Ebene erfolgt war, oder wenn es um Gebiete außerhalb der Reichsgrenzen ging. Diese Probleme waren für die großen Emigrationen von Lutheranern im frühneuzeitlichen Mitteleuropa von entscheidender Bedeutung.
Migrationsprozesse
Formen religiös legitimierter Mobilität sind keine neuen Entwicklungen der Reformationszeit. Bereits die Geschichte der Antike oder des Mittelalters kennt zahlreiche Beispiele: von Pilgern bis zu Bettelorden, von der jüdischen Diaspora bis zu den Hussiten Böhmens. Sucht man nach lutherischen Migranten oder Migrationen, so wird man bereits in der frühen Reformationszeit fündig, in der das Luthertum noch in der Phase seiner Etablierung stand und die ansonsten eher mit Migrationen von Anhängern radikalerer Reformationsbewegungen wie den Täufern verbunden wird. Größere lutherisch dominierte Wanderungsbewegungen sind dann allerdings cum grano salis das Phänomen eines "langen" 17. Jahrhunderts, das von den 1590er Jahren bis in die 1730er Jahre reicht. Konkrete Zahlen der Betroffenen zu nennen ist sehr schwierig, weil die statistischen Grundlagen der Vormoderne in keiner Weise heutigen Vorstellungen entsprechen und weil etwa Exulantenlisten oder Bürgerbücher all jene nicht erfassen, die sich zu einem bestimmten Stichdatum nicht an einem bestimmten Ort oder sozialen Kontext befanden. So kamen Bürgeraufnahmen längst nicht für alle Migranten wirtschaftlich und politisch überhaupt in Frage; die zahlreichen Einwanderer ohne Bürgerrecht, die mobil umherziehenden oder weiterwandernden Personen lassen sich darum nicht quantifizieren. Außerdem zerbrachen im Migrationszusammenhang viele Familien, was dazu führt, dass man nicht unbedingt von einer durchschnittlichen frühneuzeitlichen Familiengröße von fünf Köpfen ausgehen kann. Wenn also Zahlen durch die einschlägige Literatur geistern, wie die von 11.000 innerösterreichischen Emigranten, von 36.000 Familien böhmischer Exulanten oder von 20.000 Salzburgern, dann sind sie immer mit einer gewissen Vorsicht zu genießen.
Zum Massenphänomen wurden lutherische Migrationen in Verbindung mit der Rekatholisierung habsburgischer Territorien wie der österreichischen Erblande, der Länder der böhmischen Krone, Oberungarns oder des Fürstbistums Salzburg, das zeitweise als habsburgischer Satellitenstaat gelten konnte. Nahezu immer wurden zunächst per Mandat die Geistlichen und Schulmeister ausgewiesen, weil aus Sicht der Staatsverwaltung von ihnen als Propagatoren der falschen Lehre eine besondere Gefahr ausging. Anschließend forderte man die verbleibenden Untertanen sukzessiv zur Konversion auf – eine Anweisung, der im Lichte neuerer Forschungen gar nicht so wenige Personen Folge leisteten.14 Die Obrigkeiten forcierten in der Regel keine Emigrationen, weil dies einen Verlust steuerzahlender Untertanen bedeutet hätte. Wohl aber ging es um die Erzeugung eines konfessionell einheitlichen Untertanenstandes mit dem Ziel eines stabilen, geordneten und gottgefälligen Staatswesens. In der Praxis blieben jedoch auch unter harten Rekatholisierungsmaßnahmen je nach Region noch zahlreiche Schlupflöcher für offen oder geheim praktiziertes Luthertum übrig. In einigen Gebieten wurden nur die aus Sicht der Verwaltung wirklich renitenten Personen ausgewiesen, andere entschlossen sich in Anbetracht erschwerter konfessioneller, sozialer und wirtschaftlicher Lebensumstände freiwillig zur Emigration. Wenn sie aus Untertanenverhältnissen flohen oder Abzugsbestimmungen umgingen, dann handelten sie dezidiert den obrigkeitlichen Gesetzen zuwider und konnten als Rebellen klassifiziert werden, um deren Auslieferung bzw. Rückführung sich die Behörden bemühten.15
Habsburgische Territorien im 17. Jahrhundert
Je nach Region und lokalen Umständen reichte die Bandbreite des Widerstands gegen die Rekatholisierung in habsburgischen Gebieten von Rebellion und Tumult über Flucht oder Ausweisung bis zu mehr oder weniger freiwilligen und geplanten Auswanderungen. In einigen Fällen handelte es sich bei den Emigrationen quasi um Rückwanderungen von kurz zuvor aus Oberdeutschland eingewanderten Familien. Gerade in Innerösterreich (Steiermark, Krain, Kärnten) spielten sich aufgrund der energischen Rekatholisierungsmaßnahmen zeitweise dramatische Szenen ab. In Oberösterreich, das schon in den neunziger Jahren des 16., dann verstärkt in den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts zum Auswanderungsgebiet wurde, vermischte sich das Konfessionsproblem mehrmals mit politisch-sozialen Aufständen. In Niederösterreich blieb es lange ruhig, bis in den zwanziger Jahren auch dort Emigranten das Land verließen und ins protestantische Süddeutschland auswanderten.16 Hatte die Migrationsbewegung zunächst vor allem wirtschaftskräftige Stadtbürger erfasst, so waren bald Angehörige aller Schichten betroffen: vom Adeligen bis zum Landbewohner. Die Emigrationen hielten in kleinerem Maßstab fast das gesamte 17. Jahrhundert an, was sich nicht immer eindeutig auf Rekatholisierungsmaßnahmen, sondern oft sehr viel direkter auf politische und sozioökonomische Ursachen zurückführen lässt. Ähnlich wie in Böhmen stieg unter den erbländischen Migranten nach 1650 der Anteil der Landbevölkerung an.17
Bei der Wahl der Zielorte konnten die Wandernden oft auf bereits bestehende Kontakte zurückgreifen. Aufnahmegebiete erbländischer Exulanten waren umliegende protestantische Territorien wie etwa die von Bayern umgebene lutherische Grafschaft Ortenburg, vor allem aber oberdeutsche Reichsstädte wie z.B. Regensburg, Ulm oder das wirtschaftskräftige Nürnberg. In Regensburg oder Nürnberg intensivierten sich daraufhin die Wirtschafts- und Kommunikationsbeziehungen mit den Erblanden. Einige Emigranten erhielten das Bürgerrecht, stiegen in Ratsämter auf, heirateten in angesessene Geschlechter ein und befruchteten die städtische Kunst- und Kulturszene, etwa in Sprachgesellschaften. Fachkräfte wie Goldschmiede, aber auch bildende Künstler und Autoren (und Autorinnen wie Catharina Regina von Greiffenberg (1622–1694)) aus den Erblanden machten Nürnberg zeitweise zu einem wichtigen Zentrum kultureller Transfers zwischen dem erbländischen Exil und der Barockkultur des 17. Jahrhunderts.18 Erleichtert wurde die relativ rasche Integration wohl auch dadurch, dass im Unterschied zu anderen Migrantengruppen keine entscheidenden konfessionellen oder sprachlichen Barrieren existierten.
Etwas anders stellte sich die Situation beim böhmischen Exil dar, das neben den Böhmischen Brüdern sowohl deutschsprachige Lutheraner als auch tschechischsprachige (Neu-)Utraquisten betraf. Mit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges und der Niederschlagung des Böhmischen Aufstandes in der Schlacht am Weißen Berg (1620) setzten in größerem Maße Emigrationen aus den Ländern der böhmischen Krone ein (Böhmen, Mähren, einzelne schlesische Gebiete, teilweise auch Ober- und Niederlausitz). Beginnend mit der auch andernorts praktizierten Ausweisung von Predigern und Schulmeistern 1621/1622 lassen sich einzelne Wellen und dominierende Schichten unter den Migranten unterscheiden.19 Lutheraner bzw. (Neu-)Utraquisten gingen nach Sachsen und Mitteldeutschland, in deren Städte oder zu deren Universitäten Wittenberg, Leipzig und Jena oft bereits Kontakte bestanden. Für viele Geistliche bedeutete die Emigration nach Sachsen faktisch eine Rückkehr in ihr Geburtsland, das sie erst nach dem Majestätsbrief von Rudolf II. (1552–1612), der den evangelischen Ständen Böhmens und Schlesiens freie Religionsausübung gewährte,20 1609 gen Böhmen verlassen hatten. Die sächsischen Behörden standen den böhmischen Immigranten gespalten gegenüber und reagierten eher zurückhaltend, wenngleich mit zunehmendem administrativem Aufwand, als dass sie eine Einwanderung aktiv unterstützt hätten – nicht zuletzt deshalb, weil Sachsen im Dreißigjährigen Krieg lange Zeit auf habsburgischer Seite stand. Offiziell nahm Kursachsen nur böhmische Lutheraner auf, was dazu führte, dass sich viele Exulanten erst in den Exilorten (Pirna, Zittau, Dresden u.a.) dem lutherischen Bekenntnis näher zuordneten.
Mit dem Prager Frieden (1635) und endgültig mit dem Westfälischen Friedensschluss (1648) zerschlugen sich die Hoffnungen auf Rückkehr und Restitution ihres Besitzes, so dass sich nun immer mehr Exulanten auf ein Leben in ihren neuen ober- und mitteldeutschen Siedlungsgebieten einrichteten. Dadurch intensivierten sich längerfristige Transfers zwischen Zuwanderern und Aufnahmegesellschaften in verschiedenen Bereichen. In der Oberlausitz etwa trugen Exulanten zur Stärkung des Webereihandwerks bei, in der Residenzstadt Dresden dominierten sie den Weinverkauf und den Handel entlang der Elbe. Hier bildete sich eine böhmische Kirchgemeinde, in der man bewusst tschechische Traditionen pflegte, für die es aber etwa im 18. Jahrhundert immer schwerer wurde, einen lutherischen Geistlichen zu finden, der die tschechische Sprache beherrschte. Die Zittauer Christian-Weise-Bibliothek beherbergt bis heute eine große Zahl tschechischsprachiger Literatur aus den Bibliotheken böhmischer Exulanten. Nur wenige sogenannte Exulantenstädte wie das erzgebirgische Johanngeorgenstadt zeugen von einer geschlossenen Ansiedlung der Emigranten, die auf ein Privileg von Landes- oder Grundherren zurückging. Die meisten anderen Zuwanderer verteilten sich über die Orte des Grenzraums.21
Die Emigration aus den böhmischen Ländern ging in unterschiedlicher Intensität und regionaler Ausprägung bis ins 18. Jahrhundert weiter, wie sich gerade in den grenznahen Gegenden Schlesiens und der Oberlausitz zeigt. Schlesien selbst war allerdings sowohl Zu- wie auch Abwanderungs- oder Durchwanderungsgebiet und war zeitweise ebenfalls von der Rekatholisierung betroffen. Aufgrund seiner territorialen Vielgestalt und der unklaren Reichszugehörigkeit als böhmisches Nebenland, das nochmals durch viele Herrschaften in sich zersplittert war, stellte sich die Situation hier regional sehr unterschiedlich dar. Nur in wenigen Gebieten ging das Verbot des Protestantismus so weit, dass es zu dauerhaften Emigrationen kam, wie im Gebiet des Klosters Grüssau oder in der Grafschaft Glatz.22 Ansonsten wurde lutherisches Leben nicht selten mehr oder weniger toleriert. In den Wirren von Krieg und Konfessionskonflikt setzte sich gerade die Barockliteratur Schlesiens mit Konfessionszwang, Heimatverlust und Standhaftigkeit im Glauben auseinander. Man übernahm dabei häufig Topoi aus der Publizistik des konfessionellen Exils und der Emigration, die einige schlesische Barockdichter am eigenen Leib erfahren hatten.23
Im Westfälischen Frieden wurde der Bau dreier schlesischer Friedenskirchen in Schweidnitz, Jauer und Glogau festgeschrieben. Diese Gotteshäuser wurden zu lutherischen Anlaufstationen inmitten eines von der Rekatholisierung bedrohten Gebietes und zogen regelmäßig große Bevölkerungsgruppen aus katholischen Herrschaften zu Gottesdiensten an. Abhängig von der Nähe zu einem protestantischen Territorium oder zu den Friedenskirchen sowie den später hinzukommenden Gnadenkirchen (erbaut nach der Altranstädter Konvention, 1707/1709), existierte zudem ein reger Reiseverkehr schlesischer Lutheraner zu Gottesdiensten jenseits der schlesischen Grenzen, wo auf polnischem, brandenburgischem und lausitzischem Territorium sogenannte Grenzkirchen erbaut bzw. ausgebaut wurden. Aus derartigen Gottesdienstreisen konnten mittelfristig Emigrationen werden.24
Schlesien diente aber auch lange Zeit als Einfallstor ins Heilige Römische Reich und als konfessionelle Vermittlungsstelle nach Osten. Dies betraf während der sogenannten Trauerdekade (eines Jahrzehnts fast völliger, wenngleich vorübergehender Auslöschung des Luthertums mit militärischen und strafrechtlichen Mitteln) im ausgehenden 17. Jahrhundert die vertriebenen protestantischen Geistlichen aus Oberungarn (Slowakei), die oft nur knapp der Galeerenstrafe entkommen waren und nun über Schlesien ins Reich kamen, wo einige von ihnen eine bedeutsame publizistische Tätigkeit entfalteten und über die Härten der Rekatholisierung Oberungarns in der Zeit Kaiser Leopolds I. (1640–1705) berichteten; es betraf aber ebenso die Ausstrahlung der Gnadenkirche im oberschlesischen Teschen in die offiziell katholischen Gebiete im Süden und Osten, was nicht zuletzt zur Verbreitung des lutherischen Pietismus in Ostmitteleuropa beitrug.25 Noch im 19. Jahrhundert war Schlesien von konfessionellen Migrationen betroffen. Als letzte Beispiele lutherischer "Glaubensflucht" in Mitteleuropa gelten in den 1830er Jahren die Ausweisung der Zillertaler Protestanten aus Tirol, die sich im Hirschberger Tal am Fuß des Riesengebirges auf dem Besitz der Gräfin Friederike von Reden (1774–1854) ansiedelten, sowie fast gleichzeitig die Emigration sogenannter Altlutheraner aus Schlesien nach Australien, die sich der preußischen Unionskirche nicht unterwerfen wollten.26
Konfessionelle Migration im "toleranten Zeitalter"
In diese lange Traditionslinie mitteleuropäischer Wanderungsbewegungen seit der Reformationszeit ordnet sich auch die anfangs erwähnte Emigration von Salzburger Protestanten in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts ein. Ihr gingen Repressionen und Vertreibungen von Landbewohnern und Bergleuten im salzburgischen Defereggental, in Berchtesgaden sowie unter den sogenannten "Dürrnberger Knappen" voraus. Einer der ersten vertriebenen Dürrnberger Bergleute war Joseph Schaitberger (1658–1733), der nach einer Haftstrafe unter Zurücklassung seiner Kinder ausgewiesen wurde und sich in Nürnberg niederließ, wo sich bereits zuvor viele Migranten aus habsburgischen Territorien angesiedelt hatten. Dort publizierte er erbauliche Schriften, deren konkreter Einfluss auf die Mobilisierung der Protestanten im Alpenraum allerdings umstritten ist. Vermittler wie Schaitberger sorgten aber dafür, dass die konfessionelle Situation im Fürstbistum reichsweit bekannt wurde.27
Nachdem die Glaubensüberprüfungen der Salzburger Untertanen durch den Fürstbischof Leopold Anton von Firmian (1679–1744), einen Verwaltungs- und Sozialreformer, die Situation verschärft hatten und dabei traditionelle Formen sozialen Protests die konfessionspolitische Sprengkraft erhöht hatten, nahmen Abordnungen von Salzburger Protestanten Kontakt zum Regensburger Reichstag auf. Dies führte zu einer berühmt gewordenen Bittschrift von 19.000 Personen und resultierte am Ende des Jahres 1731 in Ausweisungen und Emigrationen, die sich bis in den Sommer des Folgejahres erstreckten. Entgegen den Bestimmungen des Westfälischen Friedens, der durch Salzburg allerdings nie ratifiziert worden war, wurden den Protestanten keine ordnungsgemäßen Abzugsbedingungen eingeräumt. Parallel dazu versuchte der preußische Reichstagsgesandte, möglichst viele Emigranten zur Besiedlung des entvölkerten nordöstlichen Teils von Preußen zu gewinnen. Rasch begann Brandenburg-Preußen, die Wanderungsbewegung ins Reich zu kanalisieren, die Emigranten zu unterstützen und sie schließlich großteils im nordöstlichen Preußen anzusiedeln. Verteilt wurden die Salzburger in der Regel auf ethnisch gemischte Gebiete, was nicht nur soziale Umstellungen bedeutete, sondern auch massive Neuerungen hinsichtlich der Organisation von Fronarbeit und landwirtschaftlichen Anbaumethoden.28
Die Emigration der Salzburger war für den Hohenzollernstaat und allgemein für die Protestanten im Reich eine hochwillkommene Gelegenheit für die Verbreitung von Propaganda, die die moralische Überlegenheit der Reformation unterstrich und die Unmenschlichkeit der katholischen Gegenseite anprangerte. Der Kaiser schickte zwar Truppenkontingente zur Unterstützung der Salzburger Ausweisungsmaßnahmen, außenpolitisch hielt er sich ansonsten aber eher zurück, um die politischen Gewichte im Reich nicht zu stören. Sobald sich die Reichsbehörden einschalteten, um für die Protestanten einzutreten, argumentierten die katholischen Obrigkeiten nach Mustern, die bereits aus der Frühzeit gegenreformatorischer Emigrationen bekannt waren. Dazu gehörte die Auffassung, es handele sich bei den Emigranten um Häretiker, die nicht unter die tolerierten Bekenntnisse fielen, oder es ginge in Wirklichkeit nicht um Konfession, sondern um politische Rebellion. Dass die Salzburger Emigration zu einer Demonstration des Protestantismus werden konnte, an der Reformierte wie orthodoxe Lutheraner und vor allem auch lutherische Pietisten ihren Anteil hatten, hing mit einer besonderen Überlagerung konfessioneller und politischer Interessen zusammen.
Insbesondere in pietistischen Kreisen fanden sich wichtige Fürsprecher der Salzburger Emigranten. Zu ihnen gehörte etwa der Geistliche Samuel Urlsperger (1685–1772), selbst ein Nachfahre steirischer Zuwanderer. Er wurde von Augsburg aus einer der wichtigsten Propagandisten der Salzburger Angelegenheit. Durch seine Kontakte zum Halleschen Pietismus, aber auch zu den religiösen Gesellschaften Großbritanniens wie der Londoner Society for Promoting Christian Knowledge, vermittelte er mehreren hundert Salzburgern die Erlaubnis zur Emigration in die Kolonie Georgia. Alle Beteiligten betrachteten die Salzburgerhilfe als ihr eigenes Prestigeobjekt und waren enttäuscht, als sich nicht sofort ausreichend Salzburger fanden, um die Schiffe nach Amerika zu füllen.29
In der Folge bemühten sich die Behörden der Alpenländer zwar darum, konfessionelle Homogenisierungsmaßnahmen etwas geräuschloser voranzutreiben. Bei den sogenannten Transmigrationen gelang dies jedoch nur teilweise. In mehreren Regionen der Erblande fanden in den dreißiger Jahren unter Karl VI. (1685–1740), aber auch unter Maria Theresia (1717–1780) in den fünfziger und siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts behördlich angeordnete Deportationen von konversionsunwilligen Protestanten nach Siebenbürgen statt. Dieses Territorium bot sich als Zielgebiet an, da der habsburgischen Verwaltung die östlichen Länder außerhalb der Grenzen des Heiligen Römischen Reiches schon länger als Bollwerk gegen fremde Mächte dienten. Die Grenzlage führte aber auch dazu, dass man außerhalb des reichsrechtlichen Einflusses und weitgehend unbemerkt vom Rest des Reiches ein gewisses Maß an konfessionellen Zugeständnissen machen konnte. Übersehen darf man dabei allerdings nicht, dass die Umsiedlungen auf bisweilen schockierende Weise Familien auseinanderrissen und teilweise mit massivem Militäreinsatz durchgeführt wurden.30 Konfessionspolitisch motivierte Migrationen oder sogar Deportationen waren mithin auch Teil des oft als tolerantes Zeitalter bezeichneten 18. Jahrhunderts.
Kommunikationsstrukturen
Die Rekatholisierungsmaßnahmen in der Frühen Neuzeit führten keineswegs zu einer völligen Trennung des protestantischen Europa von seinem katholischen Teil. Für die vielfältigen Verbindungen zwischen Ausgangs- und Aufnahmegebieten, für Transfers von Gütern und Geld, von Ideen und Menschen sorgten nicht zuletzt lutherische Emigranten. Ähnlich wie bereits im 16. Jahrhundert Straßburg, Genf oder Frankfurt am Main zu Drehscheiben und Informationsbörsen des reformierten Exils geworden waren, wurden im 17. Jahrhundert Städte wie Nürnberg, Regensburg, Dresden, Hamburg oder Leipzig zu überregionalen, multinationalen und bisweilen auch multikonfessionellen Knotenpunkten. Hinzu kam die Ausstrahlung von Universitäten wie Wittenberg, Leipzig oder Altdorf, die mangels anderer lutherischer Bildungsstätten traditionell eine große Zahl protestantischer Studenten aus habsburgischen Gebieten anzogen. Außerdem bestanden Handelsverbindungen, die sich nicht nur auf den kleinen Grenzverkehr beschränkten, sondern darüber hinaus auch für einen Informationsaustausch sorgten und im Zuge der Rekatholisierung keineswegs abrissen. Protestantische Kirchen außerhalb des habsburgischen Einflussgebietes wiederum zogen regelmäßig eine große Zahl Gläubiger aus katholischen oder rekatholisierten Nachbarterritorien zu Gottesdiensten an.
Die Auswanderungen selbst waren häufig keine überstürzten Fluchten, sondern beruhten oft auf der Übermittlung von Informationen und Kenntnissen, die dem Ortswechsel lange vorhergegangen war. Migrationen konnten damit schon aus dem Abwanderungsland heraus gut vorbereitet werden – durch Erkundigungen, Reisen, Briefwechsel im Vorfeld oder durch Verkauf oder Verpachtung von Besitz (von dessen Ertrag man dann unter Umständen noch im Aufnahmeland lebte). Solche Planungen bedeuteten allerdings nicht automatisch, dass daraus eine erfolgreiche Ansiedlung und Integration resultierte. Wie schnell oder problemlos man sich an den Zielorten einlebte, hing oft weniger von konfessionellen als von wirtschaftlichen oder sprachlichen Voraussetzungen ab – und nicht zuletzt von der Bereitschaft oder Notwendigkeit, ein zunächst als vorübergehend angesehenes Exil als dauerhafte neue Heimat zu begreifen. Dies beeinflusste dann die Bereitschaft zum Erwerb des Bürgerrechts, und es wirkte sich aus auf Heiratsbeziehungen oder Familiennachzug. Verschiedene Erschwernisse, die mit den Strukturen des frühneuzeitlichen Ständestaats zusammenhingen, konnten eine Ansiedlung allerdings behindern oder scheitern lassen. Dazu gehörten etwa die Zahlung von Bürgergeld, das erst einmal aufgebracht werden musste, die restriktive Zulassungspolitik der Zünfte oder allgemein die Sorge der ansässigen Bevölkerung um die eigene "auskömmliche Nahrung". Gescheiterte Migrantenkarrieren waren daher keineswegs selten: Almosenrechnungen illustrieren, wie viele Exulanten kurzzeitig oder längerfristig ein Leben auf der Straße führten und von milden Gaben lebten.31
Als nützlich konnte sich die Aufrechterhaltung von Kontakten ins ehemalige Heimatland erweisen. Migranten, die über spezifische Orts- und gegebenenfalls auch Sprachkenntnisse verfügten, engagierten sich im Handel oder in der Diplomatie. Sie bildeten zentrale Kontaktbörsen und Anlaufstellen zwischen Aus- und Zuwanderungsland. Der blühende und meist illegale Vertrieb von Erbauungsliteratur zwischen dem protestantischen Süd- und Mitteldeutschland und habsburgischen Gebieten im 17. Jahrhundert wurde häufig von Migranten organisiert.32 In der Forschung kaum thematisiert sind vor diesem Hintergrund die Rückwanderungen von Migranten, die aus der offiziellen Gedächtnisbildung der Exulanten weitgehend verschwunden sind und über die man nur hin und wieder ein paar abfällige Bemerkungen findet, jemand habe sich für die "Ägyptischen Fleischtöpfe" entschieden, er sei vom wahren Luthertum abgefallen und habe sich zurück ins "Papsttum" gewendet. Viele Indizien weisen freilich darauf hin, dass Rückwanderungen sehr häufig gewesen sein müssen, und zwar nicht nur aus Süd- und Mitteldeutschland, sondern unabhängig von der geographischen Distanz zwischen neuer und alter Heimat: Selbst manche Salzburger erwogen eine Rückkehr aus Preußen-Litauen in den Alpenraum, ebenso einzelne "Transmigranten", die sich aus Siebenbürgen zu Fuß bis nach Kärnten durchschlugen.33 Über das, was die Rückwanderer an Ideen und Erfahrungen mit nach Hause gebracht haben, weiß man bislang wenig.
Traditionsbildung
Betrachtet man die Traditionsbildung lutherischer Migranten, so besaßen die Salzburger im 18. Jahrhundert eine Sonderstellung – von den reformierten Hugenotten abgesehen, die in eine exemplarische Rolle aufgeklärter Kulturbringer, erfolgreicher Wirtschaftsbürger und treuer Untertanen hineinwuchsen. Auch die Migrationen der Rekatholisierungszeit sind manchmal erst im 18. Jahrhundert konfessionalistisch vermarktet worden und fanden Eingang in protestantische Geschichtsdarstellungen und Martyrologien.
Die Grundlagen entstammen freilich der zeitgenössischen Publizistik, die die Migrationen begleitete. Stammbücher, Predigten, Fluchtberichte und Erbauungsschriften trugen zum Entstehen eines Bewusstseins des religiösen Exils bei, sowohl bei den Betroffenen als auch innerhalb der Aufnahmegesellschaften. In der Regel gingen publizistische Darstellungen von Glaubenszwang, Verfolgung, Flucht und Errettung auf geistliche Autoren zurück. Dies lag zum einen daran, dass Geistliche oft direkt von Rekatholisierungs- und Ausweisungsmaßnahmen betroffen waren – darauf beruht der Rückschluss späterer Zeiten, dass andere Gruppen immer auch ähnliche Schicksale zu erleiden hatten. Zum anderen waren migrierende Geistliche mit der Publikation frommer Literatur vertraut und verfügten über entsprechende Kontakte und Absatzmärkte. Ihre Veröffentlichungen zielten auf die Erbauung der verbliebenen Gemeindemitglieder in der alten Heimat oder allgemein auf fromme Christen als Publikum, die sich Glaubensflucht und Märtyrertum als Beispiele gottesfürchtigen Lebens zu Herzen nehmen sollten. Schließlich dienten solche Schriften den Autoren oft als Hilfsmittel bei der Suche neuer Anstellungen im Zielland oder auch als Begleitschrift für Spendensammlungen zugunsten ihrer Exilgemeinden.34
Zu den frühesten Publikationen unmittelbar um den Zeitpunkt einer Auswanderung gehören Abschiedspredigten oder Trostschriften von Geistlichen aus dem Exil, wie etwa die Drucke der lutherischen Prager Pfarrer Sigismund Scherertz (1584–1639)[] oder Fabian Natus (1591–1634).35 In anderen Fällen wurden abenteuerliche Fluchtgeschichten veröffentlicht, die sich teilweise ausgesprochen gut verkauften – so etwa der mehrfach aufgelegte Bericht des österreichischen Pfarrers Paulus Odontius (gest. 1605).36 Angesprochen waren Mitexulanten, Lutheraner in den Aufnahmeländern oder auch die zu Hause Verbliebenen, zu denen viele Texte als kleinformatige Büchlein geschmuggelt wurden, die zum Aufbau geheimprotestantischer Strukturen beitrugen. Das verweist darauf, dass religiös-kulturelle Transfers Prozesse sind, die nicht nur in eine Richtung, sondern mehrdimensional verlaufen. Im Fall des böhmischen Exils in Sachsen trugen solche Veröffentlichungen auch gleichsam zur nachträglichen Integration des böhmischen Emigrationsgeschehens in einen lutherisch-deutschsprachigen Zusammenhang bei.
Aus zeitgenössischen Publikationen entwickelten sich in späteren Jahren häufig Großerzählungen der Migrationsvorgänge, die einen historisch-dokumentarischen oder biographisch-genealogischen Anspruch verfolgten. Zu den bekannteren Beispielen zählt die Historia persecutionum von 1648, die Johann Amos Comenius (1592–1670) und Adam Hartmann zugeschrieben wird und zunächst als Anhang des Book of Martyrs von John Foxe (1516–1587) gedacht war. Darin wurde die Geschichte der wahren Christen in den böhmischen Ländern erzählt, die seit der Christianisierung Böhmens im 9. Jahrhundert kontinuierlicher Verfolgung ausgesetzt gewesen seien, gipfelnd schließlich in den Emigrationen des 17. Jahrhunderts. Das Buch stammte ursprünglich aus einem reformiert-brüderischen Kontext, wurde nach seiner lateinischen Erstausgabe in mehrere europäische Volkssprachen übersetzt und einige Male wiederaufgelegt, bis es schließlich im 19. Jahrhundert im Kontext eines steigenden Interesses an deutsch-evangelischen Kirchen des Auslands in einer neuen deutschen Übersetzung erschien.37 Eher lutherisch-orthodox geprägt war dagegen das Buch des Lüneburger Pfarrers Georg Heinrich Goetze (1667–1728), Diptycha exulum von 1714, das vor allem Biographien standhafter Gottesgelehrter aus dem erbländisch-böhmischen Kontext als Streiter für das wahre Luthertum präsentierte.38 Das Evangelische Österreich des Hamburger Autors Bernhard Raupach (1682–1745) aus den 1730er Jahren stellte demgegenüber die geheimprotestantischen Strukturen im österreichisch-salzburgischen Alpenraum in eine Kontinuitätslinie, die bis in die pietistische Konventikelbildung der Zeit des Autors reichte.39 Andere narrative Darstellungen von Migrationsvorgängen betonten die Mildtätigkeit des jeweiligen Monarchen, der aus christlichem Mitleid die vertriebenen Exulanten aufgenommen hatte – so etwa die Publizistik im Umfeld der Salzburger Emigration von 1731/1732.40 Die Salzburger Publizistik ist ohnehin ein ausgezeichnetes Beispiel für die neuen medialen Möglichkeiten, einen Migrationsvorgang in Text und Bild, in Predigten, Liedern, Medaillen und vielem mehr zu präsentieren.
Sucht man nach wiederkehrenden Motiven in derartigen Migrationsnarrativen, so ist zunächst der Topos christlicher Standhaftigkeit hervorzuheben, der einer Tradition protestantischer Märtyrergeschichtsschreibung entspringt und einen Migrationsvorgang in heilsgeschichtliche Zusammenhänge stellt. Die Standhaftigkeit der wahren Frommen, das Ideal einer lebenslangen peregrinatio, ein christlich-neustoisches Constantia-Ideal – all das wird mit biblischen, vorwiegend alttestamentlichen Exempla wie dem Auszug aus Ägypten oder der babylonischen Gefangenschaft versehen und biographisch unterfüttert.41 Hinzu kommt als weiteres Motiv ein Frontier-Mythos frühneuzeitlichen Exils: die Vorstellung, am Aufnahmeort als Kulturträger oder zumindest als arbeitsame Neusiedler unwirtliches Land urbar zu machen oder ein darniederliegendes Gemeinwesen zur Blüte zu bringen, spielte bei der Gründung der böhmisch-sächsischen Exulantenansiedlung Johanngeorgenstadt ebenso eine Rolle wie im Zusammenhang mit der Ansiedlung der Salzburger in Preußen.42 In Verbindung mit panegyrischen Äußerungen gegenüber dem aufnehmenden Monarchen ergibt sich so das Bild eines exulantischen "Nutzens" für das Aufnahmeland, das auf reformierter Seite noch sehr viel stärker ausgeprägt ist als bei Lutheranern.43 Zugleich grenzt man sich publizistisch von den Einheimischen ab und schafft exulantische Gruppenidentitäten an den Zielorten, nach denen nur ein guter Christ ist, wer entsprechendes Leid erdulden durfte.
Die Wege und Transfers von Exulantenmythen sind mithin von entscheidender Bedeutung für allgemeinere Vorstellungen lutherischen Exils, die sich aus einzelnen konkreten Migrationsvorgängen lösen. Manche Wanderungen wurden erst im Zielland oder gar in der Rückschau durch die Publizistik und Traditionsbildung späterer Generationen zu "lutherischen" Glaubensfluchten oder Konfessionsmigrationen gemacht. In einiger Hinsicht enthalten solche Migrationserzählungen eine geradezu zwanghafte Logik lutherischen Märtyrertums, innerhalb dessen für die Betroffenen kein Platz mehr für Abweichungen von der konfessionellen Norm, für Zweifel oder gar für Rückwanderungen ist.