Profil der Fluchtbewegung nach 1933
Bei der Weimarer Kultur denkt man an moderne, zukunftsweisende Strömungen in der Kunst und der Literatur, an Großstadtleben, den Film, Amerikanisierung, Verwestlichung und Massenkultur, aber auch an die sozialwissenschaftliche Analyse der Moderne, die durch die Zäsur des Ersten Weltkriegs in Deutschland endgültig zum Durchbruch gekommen war. Alle diese Aufbruchsbewegungen und Neuorientierungen widersprachen der völkisch-nationalistischen Ideologie der Nationalsozialisten. Die fast mythische Aura, die die Weimarer Kultur heute umgibt, hat ihre Wurzeln in der Auseinandersetzung um geistige und soziale Fragen, die bis in die Gegenwart nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Und diese Tatsache ist umso erstaunlicher, als sie einen auffallenden Kontrast zum kläglichen politischen Scheitern der ersten deutschen Demokratie darstellt.
Die Zahl der aus dem deutschen Herrschaftsbereich nach 1933 Vertriebenen ist – vor dem Hintergrund heutiger Migrationsbewegungen – mit etwa 500.000 Personen nicht sehr groß. Rund 360.000 davon stammten aus Deutschland, nach dem "Anschluss" im Jahr 1938 kamen noch einmal ca. 140.000 aus Österreich dazu. Die Emigranten waren vor allem demokratische Repräsentanten aus der Sozialdemokratie und dem kleinen Kreis der bürgerlich-liberalen Politiker, sodann Kommunisten, ferner die kulturelle Avantgarde der Schriftsteller und Künstler, schließlich eine große Zahl von Wissenschaftlern. Nach dem bereits Anfang April 1933 erlassenen Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums verloren die deutschen Hochschulen etwa ein Viertel ihres Lehrkörpers, das heißt etwa 3.000 Personen. Entlassen wurden sie aus politischen Gründen oder wegen ihrer "nicht-arischen" Herkunft. Wenig später kam das Verbot der Parteien, im Sommer 1933 gab es die erste Ausbürgerungsliste, der bis Anfang 1945 noch weitere 358 folgen sollten.1
Jene NS-Definition von "Nicht-Ariern" muss hier nicht weiter beachtet werden, da die Betroffenen in der Regel ganz andere weltanschauliche Einbindungen hatten und ihre einstige jüdische Familienherkunft nur noch insofern erkennbar war, als sie vor dem Hintergrund der brüchigen Assimilation in Deutschland den gesellschaftskritischen Blick par excellence entwickelt hatten. Die Entlassungen trafen daher vor allem die modernen Wissenschaftsdisziplinen, die in den zwanziger Jahren gerade ihre Professionalisierungsphase durchmachten, so etwa die Soziologie, die Ökonomie, die Politikwissenschaft, die Psychologie oder in den Naturwissenschaften die Biochemie und die Atomphysik. Ohne zu übertreiben konnte Peter Gay (1923–2015) feststellen: "The exiles Hitler made were the greatest collection of transplanted intellect, talent, and scholarship the world has ever seen."2 Einen kleinen Eindruck vermittelt das von dem emigrierten Maler Arthur Kaufmann (1888–1971) zwischen 1939 und 1964 angefertigte Triptychon, das einen Querschnitt der Emigranten darstellt.
Die meisten der nach der NS-Machtübernahme aus Deutschland Geflohenen hatten zunächst nicht die USA als Ziel. Amerika galt lange als point of no return, und das widerstrebte den politischen Flüchtlingen und den Literaten. An diese Gruppe, die lange im Zentrum der Forschung stand, wird vor allem gedacht, wenn man von Exilanten spricht. Sie gingen in die unmittelbaren Nachbarländer Deutschlands, vorzugsweise in die Tschechoslowakei (ca. 9.000 Personen) oder nach Frankreich (ca. 100.000), in die Schweiz (ca. 25.000), die Niederlande (ca. 10.000) oder nach Skandinavien (ca. 8.000), da sie von der kollektiven Fehleinschätzung bestimmt wurden, dass die NS-Herrschaft schnell abgewirtschaftet haben würde und man alsbald nach Deutschland würde zurückkehren können. In Prag, Paris, Zürich und Amsterdam saßen die großen Exilverlage, durch die die Politiker und Schriftsteller hofften, das deutschsprachige Publikum jenseits der deutschen Grenzen weiterhin erreichen, aber auch in den NS-Staat auf klandestinem Wege hineinwirken zu können.3
In die tschechische Hauptstadt floh der exilierte Parteivorstand der SPD, die sogenannte Sopade, während von den Kommunisten angesichts der repressiven Einreisebedingungen nur eine Kerngruppe in der Sowjetunion Zuflucht fand (ca. 3.000), von denen ein großer Teil später im stalinistischen Gulag verschwand. Die Forschung hat festgestellt, dass von den Führungskadern der KPD kaum weniger in der Sowjetunion umgekommen sind als durch die Nationalsozialisten.4 Ausnahmen unter den Zufluchtsländern waren 1933 Palästina und die Türkei, wo durch spezielle Abkommen eine gezielte Einwanderung gefördert wurde. In Palästina hatte die britische Mandatsregierung die Anzahl der Einwanderer begrenzt. Die mit der Organisation der Einwanderung beauftragte Jewish Agency sorgte durch ein Transferabkommen (Haavara) mit dem deutschen Staat dafür, dass die Siedler, v.a. zionistische Pioniere des Chaluzim-Verbandes, aus dem wohlhabenderen Mittelstand kamen (ca. 60.000 Personen), indem Auswanderervermögen mit deutschen Warenexporten nach Palästina verrechnet wurden. Die Türkei dagegen warb nach 1933 gezielt entlassene deutsche Wissenschaftler an (mit Familienangehörigen ca. 1.000 Personen), von denen ein Beitrag bei der Modernisierung des Landes unter der Diktatur Kemal Pascha Atatürks (1881–1938) erwartet wurde.
Zunächst beschränkten sich die Fluchtbewegungen auf die genannten Länder, ehe die Wende von 1938 mit dem Anschluss Österreichs, der Besetzung des Sudetenlandes, der Reichspogromnacht, dazu die nach deutschem Vorbild eingeführten "Rassengesetze" in Italien und die sich abzeichnende Niederlage der spanischen Republik im Bürgerkrieg die nunmehr gesamteuropäische Fluchtbewegung dramatisch anschwellen ließ. Die bisherigen Zufluchtsländer verschlossen aber zunehmend ihre Grenzen. Eine internationale Flüchtlingskonferenz des Völkerbundes in Evian am Genfer See im Frühjahr 1938 – die einzige, die in diesen Jahren zustande kam – blieb erfolglos. Hier und da gelang es größeren Flüchtlingsgruppen, in Lateinamerika (zum Beispiel in Argentinien ca. 35.000, Brasilien ca. 16.000 Personen) und in Südafrika (ca. 5.500) unterzukommen, einen visafreien Zugang bot aber nur noch für eine kurze Zeit bis zur japanischen Besetzung das internationale Settlement in Shanghai, wohin nach 1938 mehr als 18.000 Personen flohen.
Die Jahre bis 1938 waren die hohe Zeit des politischen und literarischen Exils, das sich in einer Unzahl von Büchern, programmatischen Broschüren und neuen Zeitschriften – Titel wie Die Sammlung oder Der Gegen-Angriff wiesen die Richtung – als das "andere Deutschland" darstellte. Es verstand sich als Sprachrohr des stumm gewordenen Volkes, als das bessere, an der Vernunft und Menschlichkeit orientierte Deutschland. "Ohne die Emigration", meinte etwa Heinrich Mann (1871–1950)[], "könnte es dies heute nicht, sie allein ist übrig als ein Deutschland, das lernt, denkt und Zukunft erarbeitet."5
Kritische, meist linke Schriftsteller hatten schnell die Dimension der nationalsozialistischen Machtergreifung erkannt und ihre Vertreibung als politische Herausforderung begriffen, wenngleich sie kaum mehr als das geschriebene Wort einzusetzen vermochten. Schon in den zwanziger Jahren hatten sie die aus der Rückschau so beeindruckenden literarischen und künstlerischen Aufbruchsbewegungen bestimmt, denn mit ihren urbanen und zivilisatorischen Normen hatten sie sich den philosophischen Ideen des Westens geöffnet. Als "Asphaltliteraten" wurden sie daher mit besonderer Aggressivität von der Blut- und Boden-Provinzialität der Nationalsozialisten verfolgt und durch Verbrennung ihrer Bücher aus dem öffentlichen Gedächtnis gelöscht. Trotz ihrer materiellen Probleme und lebensgeschichtlichen Brüche erlebten viele das Exil so als eine existenzielle und geistige Bereicherung. Gegen ihren Willen aus der deutschen Gesellschaft ausgegrenzt, fühlten sie sich in besonderem Maße verpflichtet, ihre Stimme im Protest zu erheben. Sie waren es, die in den Zufluchtsländern mit einer kaum überschaubaren Zahl von Publikationen den Kampf gegen die Barbarei in Deutschland und gegen die in der Weltöffentlichkeit lange vorherrschende Gleichgültigkeit prägen sollten.
Beispielhaft sei das von Emigranten in Paris verfasste und bereits im Juli 1933 erschienene Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror genannt. Während die Nationalsozialisten den Reichstagsbrand im Februar 1933 als Verschwörung der Kommunisten darzustellen suchten und den niederländischen Anarchisten Marinus van der Lubbe (1909–1934) als Brandstifter verurteilten und hinrichteten, versuchten die Emigranten im Braunbuch nachzuweisen, dass die Nazis den Reichstag selbst angezündet hatten, um die politische Opposition ausschalten zu können. Mangels detaillierter Informationen über die Vorgänge in Deutschland griffen die Autoren in der Darstellung der NS-Brutalitäten auf Deduktion, Intuition und Bluff zurück und prägten damit die internationale öffentliche Meinung. Das Braunbuch wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt, die deutsche Ausgabe allein hatte eine Auflage von 135.000 Exemplaren, die französische eine von 10.000.6
Wenig später wurde von dem kommunistischen Verleger Willi Münzenberg (1889–1940) ein internationales Reichstagsbrand-Komitee initiiert, dessen Mitglieder, prominente bürgerliche Juristen und Intellektuelle aus Europa, den in Deutschland begonnenen Prozess gegen van der Lubbe kritisch beobachteten. Ergänzt wurden diese Propaganda-Aktionen, die die Nationalsozialisten auf ihrem eigenen Feld in die Defensive zu drängen vermochten und als "Münzenberg-Strategie" in die Historiographie eingegangen sind, von verschiedenen internationalen Schriftsteller-Kongressen, die die Öffentlichkeit über die Vorgänge in Deutschland aufzuklären suchten.
Ganz anders war dagegen das Erscheinungsbild der exilierten politischen Parteien, das heißt der SPD und KPD sowie einiger Splittergruppen. Schon vor der Machtergreifung hatten sie keine Strategie gehabt, um der Herrschaft des Nationalsozialismus zu begegnen, die sich seit 1930 immer deutlicher abzeichnete. Nach 1933 nahm ihre Paralyse in dem Maße zu, in dem sich das Regime immer fester installierte und der staatliche Terror die illegale Organisationsarbeit, zumal von außerhalb der Grenzen, unmöglich machte. Gebunden an traditionelle politische Denkmuster und unvorbereitet auf den illegalen Kampf, entfremdeten sie sich immer mehr vom innerdeutschen Widerstand, der nach zahlreichen Verhaftungen und der Zerstörung der Verbindungsnetze bald nur noch rudimentär existierte. Die alten kompromissunfähigen Lagermentalitäten aus den zwanziger Jahren existierten fort, ungeachtet der zahllosen Appelle in den Exilpublikationen zur Geschlossenheit.7 Von den Parteiapparaten spalteten sich sogar noch unterschiedliche Fraktionen zumeist jüngerer Mitglieder ab: Bei der Sopade verstanden sie die Unbeweglichkeit des Vorstandes in Prag nicht, in der KPD wollten sie den von Moskau fremdbestimmten Kurs nicht länger hinnehmen.
Die 1936 begonnene Volksfrontdiskussion nach den Vorbildern in Frankreich und der spanischen Republik blieb bereits in den Anfängen eines "Vorbereitenden Ausschusses" stecken, da sehr schnell klar wurde, dass sie von den Kommunisten lediglich für ihre eigenen Interessen instrumentalisiert wurde. Ein für den aktuellen politischen Kampf geeignetes handlungspraktisches Programm ist dort nicht einmal im Ansatz entwickelt worden.8 Zur Bildung einer deutschen Exilregierung wie in den meisten von den deutschen Truppen nach 1939 überfallenen Ländern ist es bei den deutschen Exilanten daher niemals gekommen. Allerdings bleibt auch fraglich, ob eine solche Vertretung des anderen Deutschland bei den Großmächten während der dreißiger Jahre überhaupt Gehör gefunden hätte, denkt man an die britische Appeasement-Politik, den amerikanischen Isolationismus, die stalinsche Abkehr von weltrevolutionären Zielen und den Aufbau des "Sozialismus in einem Land" sowie überhaupt an die offenen Sympathien gesellschaftlicher Eliten in den westlichen Industrieländern für den Faschismus als Ordnungsmodell zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise und ihrer sozialstrukturellen Auswirkungen. Zu erwähnen ist aber, dass einige Tausend meist unbekannter politischer Emigranten als Freiwillige in den Internationalen Brigaden auf Seiten der Republik im spanischen Bürgerkrieg gekämpft haben.
Nach 1938, als die aggressive Expansion des Nationalsozialismus und die Wahrscheinlichkeit eines Krieges in den westlichen Metropolen nicht mehr geleugnet werden konnten, hätte eine geschlossene Vertretung des deutschen Exils womöglich Einfluss nehmen können. Zwar ist unwahrscheinlich, dass sie auf die Entscheidungsprozesse der künftigen Anti-Hitler-Koalition hätte einwirken können, Anregungen für den Neuaufbau eines demokratischen Deutschland nach dem Krieg aber wären womöglich nicht ausgeschlossen gewesen. Belegbar ist das nicht, vielmehr ist nachweisbar, dass weder die britische noch die amerikanische Regierung im Zweiten Weltkrieg eine hohe Meinung von den politischen Organisationen des deutschen Exils hatten und sie wegen ihrer Zerstrittenheit nicht zur Kenntnis nahmen.9
Wollte man den Kampf des Exils gegen den Nationalsozialismus allein nach den Aktionen der politischen Parteien und der Schriftsteller bewerten, so fiele die Bilanz dürftig aus. Im Zeichen dekonstruktivistischer und postkolonialer Diskurse wird heute das "mit dem Gesicht nach Deutschland" lebende "andere Deutschland" – so die Formeln des exilierten SPD-Vorstands und Chefredakteurs der Parteizeitung Vorwärts Friedrich Stampfer (1874–1957)10 – skeptischer gesehen. Denn sein Selbstverständnis hatte die überkommenen Bindungen an die Nation als homogener Entität nicht infrage gestellt. Anstatt sich im Exil zukunftsorientiert neuen Erfahrungen zu öffnen, war es auf die Vergangenheit einer von den Nationalsozialisten zwar missbrauchten, an sich aber intakten heimatlichen Nationalkultur fixiert. Und das erklärt womöglich noch besser, warum sich das deutsche Exil insgesamt so wenig Gehör verschaffen konnte.11
Ganz anders dagegen diejenigen Flüchtlingsgruppen, die sich schon bald nicht mehr als auf Rückkehr wartende Exilanten verstanden, sondern als Emigranten dauerhaft in ihren Aufnahmeländern integrieren wollten. Vor allem waren das Wissenschaftler, aber auch Künstler, die nicht auf ihre Muttersprache angewiesen waren; sie überwanden die nationale Container-Mentalität. Ihre Öffnung Neuem gegenüber wird in jüngster Zeit als Hybridität bezeichnet, ein Begriff, der bereits in den 1930er Jahren von emigrierten Wissenschaftlern im Prozess ihrer hoch selbstreflexiven Erfahrungsverarbeitung geprägt worden war.12
Kulturtransfer der Emigranten
Dieser Integrationsprozess ist vor allem mit den USA verbunden, und er begann schon unmittelbar nach der ersten Entlassungswelle der Wissenschaftler im NS-Staat. Eine weitere Welle folgte ab Ende der dreißiger Jahre in den von Deutschland okkupierten Ländern. Von den deutschen Flüchtlingen sind etwa 130.000 Personen, mehr als ein Viertel der Gesamtzahl, in den USA aufgenommen worden, zu denen noch die verfolgten Einheimischen der okkupierten Länder kamen, die jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg größtenteils in ihre Heimat zurückkehrten. Nennenswerte Kontingente der geflohenen Intellektuellen waren zwar auch in Großbritannien geblieben, sie stellten jedoch nicht den kulturellen brain gain dar, der für die USA so signifikant wurde.
Obwohl die USA nach dem Ersten Weltkrieg eine streng limitierende, auch durch die europäische Flüchtlingskrise seit 1939 nicht veränderte Quotierung der Einwanderung (für Deutschland rund 25.000 Personen pro Jahr) eingeführt und sich nach 1918 in den traditionellen außenpolitischen Isolationismus zurückgezogen hatten, galten solche Regeln nicht für Wissenschaftler und Intellektuelle. Diese Ausnahmen waren gemacht worden, um den im Inneren des Landes begonnenen Wandlungsprozess vom bisherigen reinen business country hin zur modernen Kulturnation zu befördern. Hinzu kam 1933 das gigantische, für die USA bisher untypische Wirtschaftsprogramm des gerade neu ins Amt gekommenen Präsidenten Franklin D. Roosevelt (1882–1945), der New Deal, für den man die Kenntnisse der mit Staatsinterventionen vertrauten deutschen Sozialwissenschaftler zu nutzen suchte. Unterstützt wurde dies von verschiedenen philanthropischen Stiftungen, denen nicht nur die Anwerbung von in Deutschland ausgegrenzten Intellektuellen gelang, sondern auch deren relativ geräuschlose Integration in die amerikanische Gesellschaft trotz der in diesen Jahren der Weltwirtschaftskrise hohen Arbeitslosigkeit unter amerikanischen Akademikern. Während für die Exilanten und Emigranten die Arbeitsmärkte in den europäischen Zufluchtsländern wegen der Krise verschlossen blieben, es sei denn sie fanden konkurrenzlose Nischen als Selbständige, gab es solche offiziellen Restriktionen in den USA nicht. Die Statistiken dort erfassten andererseits aber auch nur Immigranten und unterschieden nicht nach Flüchtlingen oder Exilanten.
Während die amerikanische Öffentlichkeit den Flüchtlingen weitgehend skeptisch bis ablehnend gegenüberstand, sahen weiterblickende Intellektuelle 1933 die Chancen, die die deutschen refugee intellectuals boten. Dank der traditionellen Wertschätzung des deutschen Bildungssystems – viele Universitäten waren nach deutschem Vorbild gegründet worden, und die führenden Vertreter in den meisten Disziplinen hatten noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Deutschland studiert – suchten sie im Unterschied zu anderen Ländern diese geistigen Potentiale gezielt für die USA zu gewinnen.
Vom Direktor des Institute of International Education an der New York University war sogleich nach Bekanntwerden der Entlassungen in Deutschland ein Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars gegründet worden, das zusammen mit der Rockefeller Foundation die Platzierung von mehreren Hundert Wissenschaftlern aus Deutschland und später aus anderen europäischen Ländern ermöglichte. Dafür hatte die Stiftung zusammen mit einem komplementär in Großbritannien gegründeten Academic Assistance Council und der Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaftler im Ausland eine Liste zusammengestellt, die mehr als 1.600 Namen vertriebener Wissenschaftler enthielt und an die Universitäten weltweit verteilt wurde. Um einheimischen Wissenschaftlern nicht die Berufschancen zu schmälern, übernahmen diese beiden Institutionen für einige Jahre je zur Hälfte die Gehälter der Flüchtlinge, sofern sich eine amerikanische Universität bereit erklärte, die von ihnen gewählten Gelehrten später in ihr Budget zu übernehmen. Der Academic Assistance Council in London operierte für Großbritannien und das Commonwealth genauso, er hatte aber wegen geringerer finanzieller Ressourcen, die im Wesentlichen nur aus freiwilligen Abgaben der einheimischen community of science stammten, weitaus weniger Erfolg.13
Darüber hinaus hat die Rockefeller Foundation noch ihr eigenes Hilfsprogramm mit mehreren Millionen Dollar entwickelt. Diese Stiftung kann überhaupt als wichtigste Agentur zur Gewinnung der refugee scholars angesehen werden. Ursprünglich war sie 1911 für medizinische und naturwissenschaftliche Forschungsförderung gegründet worden, vor dem Hintergrund der weltweit ungelösten sozialen und wirtschaftlichen Probleme nach dem Ersten Weltkrieg waren in den zwanziger Jahren dann die Sozialwissenschaften dazugekommen. Durch ihre international ausgerichtete Förderung hatte sie mit ihrem Pariser Büro einen genauen Überblick über den Standard der Wissenschaften in Europa und kannte nahezu alle Wissenschaftler in den einzelnen Ländern. Mit diesen Kenntnissen gelang es ihr, unter den Flüchtlingen gezielt die bedeutenden und von ihr meistens schon vor 1933 geförderten Wissenschaftler für die USA zu gewinnen – das waren allein mehr als 300 Professoren.14
In New York hatte der Direktor einer kleinen akademischen Weiterbildungsstätte für Berufstätige, der New School for Social Research, die Gelder zusammengebracht, um noch im Sommer 1933 eine ganze Exiluniversität zu gründen. Als engagierter New Dealer suchte er diejenigen Deutschen zu gewinnen, von denen er sich einen Beitrag zur theoretischen Fundierung des Roosevelt'schen Programms erwartete. Bis 1945 sollten an dieser einzigartigen University in Exile mehr als 170 Wissenschaftler aus Deutschland und Europa lehren; vielen gelang von hier aus der Absprung zu anderen Universitäten. 1940 wurde unter ihrem Dach noch eine französische Exil-Universität gegründet, deren Angehörige aus der France-Libre-Bewegung von General Charles de Gaulle (1890–1970) jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg nach Frankreich zurückgingen. Eine ähnliche Funktion hatte das ebenfalls 1933 gegründete Black Mountain College bei Asheville in North Carolina, das insbesondere für geflohene Künstler, etwa aus dem Umfeld des Bauhauses, zum Sprungbrett ihrer amerikanischen Karriere wurde und fundamentale Bedeutung für die Avantgarde nach 1945 hatte.15
Darüber hinaus waren zahlreiche andere Hilfskomitees für besondere Berufe gegründet worden, und diverse Stiftungen stellten gleichfalls größere Beträge zur Verfügung, so dass von den bereits genannten rund 3.000 allein aus Deutschland vertriebenen Wissenschaftlern etwa zwei Drittel in den USA Aufnahme fanden. Schon bald machte der Slogan des Kunsthistorikers Walter William Spencer Cook (1888–1962) an der New York University die Runde: "Hitler is my best friend. He shakes the tree and I collect the apples".16 Andere erklärten, dass die Rettung der deutschen Intellektuellen nicht Philanthropie oder Protest gegen den Nationalsozialismus sei, sondern dem nationalen Interesse der USA entspreche, wobei vorgerechnet wurde, welche Ausbildungskosten der amerikanischen Gesellschaft durch den Gewinn dieser hoch qualifizierten Gelehrten gespart worden seien. Sehr bald wurde dieser Transfer mit dem Exodus der Gelehrten aus Byzanz nach dem Fall des oströmischen Reiches 1453 verglichen, der wesentlich zur Blüte der Renaissance in Italien und Westeuropa beigetragen hatte.17
Tatsächlich gaben die Flüchtlinge wichtige Anregungen in fast allen Feldern, vor allem in den modernen Sozialwissenschaften, in der Kunstgeschichte, die von deutschen Refugees als Disziplin in den USA überhaupt erst eingeführt wurde, aber auch in verschiedenen neuen Subdisziplinen der Naturwissenschaften wie der Atomphysik oder der Biochemie. Diesen Anstößen verdankten die amerikanischen Wissenschaften nicht nur ihre bis heute anhaltende international führende Stellung; mit ihren Beiträgen zum war effort für die Befreiung Europas und Asiens von der totalitären Herrschaft der Achsenmächte flankierten sie auch die Überwindung des traditionellen amerikanischen Isolationismus. Die Liste der ehemaligen refugee intellectuals liest sich heute wie ein Who's who der amerikanischen community of science. Auffallend ist, dass die nach 1933 aus Deutschland Geflohenen weniger als Einzelpersonen erschienen, sondern ganze akademische Schulen und künstlerische Richtungen repräsentierten.
Bis 1940/1941 emigrierten weitere 7.000 Literaten und Künstler in die USA. Darunter mit Thomas Mann (1875–1955), Lion Feuchtwanger (1884–1958) und einigen anderen auch Künstler, die durch Übersetzungen schon vorher in den USA bekannt geworden waren. Weitere Bedeutung als Schriftsteller gewannen jedoch nur diejenigen, die wie Stefan Heym (1913–2001), die Thomas-Mann-Kinder Erika (1905–1969) und Klaus (1906–1949) in den USA oder Sebastian Haffner (1907–1999) in Großbritannien sehr schnell Englisch gelernt hatten und mit eigenen Publikationen in der neuen Sprache auf die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Faschismus aufmerksam machten.
Mehr als 800 Film-Emigranten allein in Hollywood schufen durch Drehbuchautoren (wie Bertolt Brecht (1898–1956), George Fröschel (1891–1979), Frederick Kohner (1905–1986)), Produzenten (wie Alexander Korda (1893–1956), Erich Pommer (1889–1966)), Regisseure (wie Fritz Lang (1890–1976), Otto Preminger (1906–1986), Douglas Sirk (Detlef Sierck, 1897–1987), Robert Siodmak (1900–1973), Fred Zinnemann (1907–1997)) und Schauspieler (wie Paul Henreid (1908–1992), Lotte Lenya (1898–1981), Peter Lorre (1904–1964), Conrad Veidt (1893–1943)) nicht nur den Typus des Anti-Nazi-Films, sondern setzten auch mit Komödien, Horrorfilmen und mit Beiträgen zum film noir Maßstäbe für das amerikanische Kino. Erwähnt seien nur Hangmen Also Die (Auch Henker sterben, 1943) von Fritz Lang und Bertolt Brecht, Fred Zinnemanns bis heute immer wieder gezeigte Filme High Noon (12 Uhr mittags, 1952) und From Here to Eternity (Verdammt in alle Ewigkeit, 1953) oder der von Michael Curtiz (Mihaly Kertecz, 1888–1962) mit Stars der Emigration besetzte Filmklassiker Casablanca von 1942.18
Von den Musikschaffenden sei in diesem Zusammenhang nur der Komponist Kurt Weill (1900–1950) erwähnt, der in Deutschland mit seiner zusammen mit Bertolt Brecht geschaffenen Dreigroschenoper (1928) oder mit Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1930) in Erinnerung geblieben ist, in den USA dann aber eine schnelle Karriere als gesuchter Filmkomponist machte. Ähnliches gilt für Erich W. Korngold (1897–1957), der vor seiner Hollywood-Karriere zu den meistgespielten jungen österreichischen Opern-Komponisten zählte (Die tote Stadt, 1920; Das Wunder der Heliane, 1927). Im Bereich der E-Musik wirkten nicht allein Dirigenten wie Erich Leinsdorf (1912–1993), Bruno Walter (1876–1962) oder Otto Klemperer (1885–1973) geschmacksbildend.
Neben dem Großraum New York-Boston an der Ostküste bildete Los Angeles und der wegen des angenehmen Westküstenklimas nicht nur von den Hollywood-Emigranten bevorzugte Wohnort Pacific Palisades das zweite Ballungszentrum ehemaliger deutscher Flüchtlinge. Während hier in grober Zuordnung die refugee artists aller Schattierungen siedelten, fanden an der Ostküste insbesondere die deutschen Wissenschaftler den Start in eine neue Zukunft. Wie für die Wissenschaftler hatte es auch für die Filmschaffenden besondere Hilfseinrichtungen gegeben, die von denjenigen initiiert wurden, die wie zum Beispiel Ernst Lubitsch (1892–1947) schon in den zwanziger Jahren nach Hollywood gegangen waren.
Nicht weniger bedeutend war die Region Chicago/Illinois, wo etwa im Bereich der bildenden Künste vor allem die Vertreter des Bauhauses Lászlo Moholy-Nagy (1895–1946), Josef Albers (1888–1976), Lyonel Feininger (1871–1956) neben den berühmten Architekten Walter Gropius (1883–1969), Ludwig Mies van der Rohe (1886–1969), Marcel Breuer (1902–1981) und Erich Mendelssohn (1887–1953) stilprägend wirkten. In ihrer Vision vom Gesamtkunstwerk flossen Ästhetik und Technik, rationale Form und künstlerische Gestaltung zu einer Einheit zusammen. Dabei verschmolzen die von der Bauhaus-Architektur schon in den zwanziger Jahren aufgenommenen Anregungen Frank Lloyd Wrights (1867–1959) und die Bauhaus-Ideen in den dreißiger Jahren zum bis heute gültigen international style. Von einem örtlichen Industrieverband mit Design-Interessen wurde 1937 das New Bauhaus in Chicago unter Leitung von Moholy-Nagy gegründet, das Ende der vierziger Jahre als Designabteilung in das Illinois Institute of Technology integriert wurde. Im Bereich der freischaffenden Künstler sollten insbesondere die aus Frankreich exilierten Vertreter des Surrealismus um André Breton (1896–1966), Max Ernst (1891–1976), André Masson (1896–1987) und Marc Chagall (1887–1985) Einfluss auf den sogenannten abstrakten Expressionismus haben, der in der Nachkriegszeit stilprägend für die amerikanische Kunst wurde.19
Jenseits dieser kulturellen Ballungsgebiete mit ihren intellektuell häufig strahlenden Leitfiguren sollten die zahlreichen Wissenschaftler nicht vergessen werden, die in vielen Universitäten des Mittleren Westens und den Black Colleges in den Südstaaten unterkamen. Ihre Forschungen und Lehrmethoden trugen dazu bei, dort den Respekt für die Wissenschaften zu vermitteln, wodurch sie zur Entprovinzialisierung der Provinz beitrugen.20
In den akademischen Professionen hatten insbesondere geflohene Ökonomen mit neuen intellektuellen Botschaften Erfolg. Die Weltwirtschaftskrise nach 1929, deren Ausmaß kaum mit den Selbstheilungskräften des Marktes zu bekämpfen war, wie es die Mainstream-Ökonomie forderte, hatte zu einem Linksruck unter den Intellektuellen in den westlichen Industrieländern geführt. Ihre Forderung nach einer realistischen Krisentheorie leitete den grundlegenden Paradigmenwechsel der dreißiger Jahre ein, der unter dem Namen "keynesianische Revolution" bekannt wurde und für den auch der New Deal ein Zeichen war. Gerade die Ökonomen aus Deutschland, die mit den dort vorherrschenden staatsinterventionistischen Traditionen vertraut waren, gaben hier wichtige Anregungen, die über das antizyklische, nur konjunkturell argumentierende Modell des britischen Ökonomen John Maynard Keynes (1883–1946) weit hinausgingen, weil sie auch die ökonomischen Strukturen und die Entwicklung der modernen Technik in die Analyse mit einbezogen.
Von ihnen wurden vor allem die Konjunktur- und Wachstumstheorie mit neuen Ideen bereichert und die öffentliche Finanztheorie, die in den USA nur einen Randbereich der Ökonomie darstellte, überhaupt erst zu einer eigenständigen Teildisziplin gemacht. Dafür stehen etwa die Ökonomen an der University in Exile mit Emil Lederer (1882–1939), Adolph Lowe (1893–1995), Hans Neisser (1895–1975) oder Gerhard Colm (1897–1968). Letzterer machte von dort aus eine rasante Karriere in Washington, die ihn bis in den Beraterstab Roosevelts führte, und gehörte mit zu den Initiatoren des Full Employment Act von 1946, dem als Magna Charta bezeichneten Schlussgesetz des New Deal, das für die geordnete Rückführung der aus dem Krieg zurückkehrenden GIs in den Arbeitsprozess sorgte.
Waren die meisten der Deutschen als engagierte New Dealer gekommen, so gab es auch eine nicht kleine Zahl von neoklassischen Theoretikern, die in Österreich ihre Hochburg gehabt hatten und den New Deal vehement kritisierten. Sie wurden meist von den konservativen Ivy-League-Universitäten aufgenommen, so z.B. Joseph Alois Schumpeter (1883–1950) und Gottfried Haberler (1900–1995) in Harvard oder Fritz Machlup (1902–1983) und Oskar Morgenstern (1902–1977) in Princeton. Letzterer gewann vor allem durch seine mit dem gleichfalls immigrierten Mathematiker John von Neumann (1903–1957) entwickelte Spieltheorie (1944) nicht nur bahnbrechende Bedeutung für die Verfeinerung der marktwirtschaftlichen Analyse, sondern auch für die Strategieberatungen der zahllosen Think-Tanks in der Zeit des Kalten Krieges.
Refugee scholars trugen weiterhin zur Ausgestaltung der jungen Disziplinen Soziologie und Political Science bei. Als Beispiele seien die Vertreter des früheren Frankfurter Instituts für Sozialforschung genannt, das mit Max Horkheimer (1895–1973), Theodor Wiesengrund Adorno (1903–1969), Leo Löwenthal (1900–1993), Franz Leopold Neumann (1900–1954) und Herbert Marcuse (1898–1979) als geschlossene Einrichtung an der Columbia University eine Zuflucht fand. Dazu gehören weiterhin Sigmund Neumann (1904–1962), Hannah Arendt (1906–1975), Hans Morgenthau (1904–1980) oder Lewis Alfred Coser (1913–2003). Letzterer war der Begründer der Konflikttheorie. In den sechziger und siebziger Jahren sollten Arendt und Marcuse zu den meist zitierten amerikanischen Sozialwissenschaftlern zählen.
Mit ihren Erfahrungen aus Deutschland schärften sie den Blick für die moderne Massengesellschaft und Massenkultur und analysierten die Gefährdungen der Demokratie durch soziale und ökonomische Krisen, ein Problem, das von den amerikanischen Kollegen angesichts der gewachsenen demokratischen Entwicklung in den USA kaum thematisiert wurde. Die Totalitarismustheorie, die zum wichtigen Paradigma in der frühen Ost-West-Konfrontation des Kalten Krieges werden sollte, geht ebenfalls auf diesen Personenkreis zurück. Viele von ihnen wirkten in diversen neuen Behörden nach Kriegseintritt der USA 1941 am war effort mit, insbesondere im Office of Strategic Services, dem erstmals in der Geschichte der Vereinigten Staaten eingerichteten Geheimdienst, der mit den deutschen Experten nicht nur die nötigen Informationen für die Kriegsführung zusammentrug, sondern auch die Planungen zur europäischen Nachkriegsordnung vorbereitete.21
Solche Aktivitäten der ehemaligen Flüchtlinge, die inzwischen zu amerikanischen Staatsbürgern geworden waren, unterschieden sich von denen des politischen Exils, deren Vertreter in der Mehrzahl erst nach 1938 in die USA gekommen waren. Das von diesen gepflegte Selbstbild des aktiven antinationalsozialistischen Kampfes war angesichts der Totalität des Faschismus ohnehin eine Überschätzung und ohne mächtige Bündnispartner völlig illusorisch. Einflussreicher waren dagegen die refugee scientists, deren Expertisen weniger von direkten, für aussichtslos gehaltenen Aktionen gegen den Nationalsozialismus bestimmt wurden, sondern von viel grundsätzlicheren Fragen, sahen sie im Nationalsozialismus doch den gesamten Zivilisationsprozess auf dem Prüfstand.
Weitere Beispiele ließen sich anführen, um zu zeigen, welchen Beitrag deutsche Flüchtlinge zur Entwicklung auch anderer Disziplinen geliefert haben. So etwa in der Psychologie und der Psychoanalyse (Erik Homburger Erikson (1902–1994), Charlotte Bühler (1893–1974), Erich Fromm (1900–1980), Kurt Lewin (1890–1947), Bruno Bettelheim (1903–1990)), in der Werbepsychologie (George Katona (1901–1981)), in der empirischen Sozialforschung (Paul Felix Lazarsfeld (1901–1976)), in der Rechtssoziologie (Hans Zeisel (1905–1992)), in der Wissenschaftstheorie und Philosophie (Rudolf Carnap (1891–1970), Herbert Feigl (1902–1988), Leo Strauss (1899–1973), Erich Kahler (1885–1970)), in der Kunstgeschichte (Erwin Panofsky (1892–1968) und Richard Krautheimer (1897–1994)). In der Rechtswissenschaft hatten Flüchtlinge angesichts des anders ausgerichteten amerikanischen Rechtssystems die Wahl, entweder dieses Recht neu zu studieren oder in andere Bereiche auszuweichen. Viele wählten den zweiten Weg und wurden damit zu den Begründern der internationalen Rechtsvergleichung (Hans Kelsen (1881–1973), Heinrich Kronstein (1897–1972), Max Rheinstein (1899–1977), John Hermann Herz (1908–2005)).
Bei diesem intellektuellen Zustrom waren die Historiker trotz Gelehrter wie Hajo Holborn (1902–1969), Felix Gilbert (1905–1991) oder Hans Rothfels (1891–1976), der im Nachkriegsdeutschland erster Direktor des neu gegründeten Instituts für Zeitgeschichte in München werden sollte, allerdings unterrepräsentiert. Diese konservativ-nationale Profession hatte in Deutschland vor 1933 eine nahezu geschlossene Gesellschaft dargestellt, zu der Juden und Demokraten kaum Zugang gefunden hatten, weshalb auch nur wenige ihrer Mitglieder vertrieben wurden. Hier sollten erst Vertreter der zweiten Generation wie Peter Gay, George Lachmann Mosse (1918–1999) und Fritz Richard Stern (*1926) nach 1945 zur Profilierung beitragen.22 Herausragend ist Ernst Maximilian Posner (1892–1980) gewesen, der seit 1939 an der American University in Washington die Grundlagen für die professionelle Ausbildung von Archivaren schuf.
Für die Naturwissenschaften schließlich mögen exemplarisch die Physiker genannt werden, die während des Krieges am Manhattan-Projekt in Los Alamos mitgewirkt haben sowie diejenigen, die wie Albert Einstein (1879–1955) Gegner der "Bombe" waren. Als Indikator für die Bedeutung der Flüchtlinge in dieser Disziplin kann die Verleihung des Anfang des Jahrhunderts eingerichteten Nobelpreises genommen werden. Albert Einstein und James Franck (1882–1964) hatten ihn bereits vor ihrer Ankunft in den USA erhalten (Nobelpreis 1921 bzw. 1924); Victor Franz Hess (1883–1964) (Nobelpreis 1936), Otto Stern (1888–1969) (Nobelpreis 1943), Felix Bloch (1905–1983) (Nobelpreis 1952), Eugene Paul Wigner (1902–1995) (Nobelpreis 1963) und Hans Albrecht Bethe (1906–2005) (Nobelpreis 1967) sollten ihn in den USA bzw. als amerikanische Staatsbürger erhalten. Zu diesen Preisträgern kamen noch die italienischen Flüchtlinge Enrico Fermi (1901–1954) (Nobelpreis 1938) und Emilio Segrè (1905–1989) (Nobelpreis 1959). Ähnlich sah es bei den Chemikern aus, zu deren Kreis gleichfalls einige spätere Nobelpreisträger sowie international berühmte Gelehrte wie etwa Erwin Chargaff (1905–2002) gehörten, der den Grundstein für die moderne Gen-Analyse mitgelegt hat. Auch von den über 100 in Deutschland vertriebenen Mathematikern waren mehr als 60 in die USA gekommen, darunter neben John von Neumann auch Richard Courant (1888–1972), Adolf Abraham Fraenkel (1891–1965), Kurt Friedrich Gödel (1906–1978), Emmy Noether (1882–1935) u.a.
Die Emigration der aus Deutschland vertriebenen geistigen und kulturellen Eliten, die mit den hier exemplarisch genannten prominenten Namen nur grob und unzureichend skizziert sind, verdeckt leicht, dass auch die unbekannten Emigranten sich meist gut integrierten und wichtige Aufgaben übernahmen. Wie es in Palästina die berühmten Eier-Jeckes gegeben hat, so waren es ebenfalls deutsche Flüchtlinge, die zum Beispiel in New Jersey die Eier-Versorgung für den Großraum New York aufgebaut und damit eine Marktnischen für die eigene Existenz gefunden hatten. Bis vor wenigen Jahren erschien in New York die von deutschen Emigranten 1934 gegründete Zeitschrift Aufbau, deren Anzeigenanteil noch nach Jahrzehnten einen kleinen Eindruck von der Vielfalt der von den Emigranten gegründeten mittelständischen Wirtschaftsunternehmen vermittelte.
Schluss
Nicht zufällig entbrannte in den 1980er Jahren während der Reagan-Ära eine lebhafte Auseinandersetzung über die Bedeutung der in den dreißiger Jahren immigrierten Intellektuellen. Ihren Höhepunkt fand diese Diskussion mit dem Bestseller The Closing of the American Mind (1987) von Allan Bloom (1930–1992), seltsamerweise Schüler des emigrierten konservativen Philosophen Leo Strauss. In dieser Kampfschrift des Nativismus wird mit dem angeblich unheilvollen Einfluss jener intellektuellen "German connection" ehemaliger Emigranten abgerechnet, die mit ihren ideologie- und gesellschaftskritischen Methoden in den Human- und Sozialwissenschaften die nachfolgenden Generationen verdorben und damit das Verständnis für die großen liberalen und christlichen Werte Amerikas zerstört habe. Dadurch sei die amerikanische Kultur zu einer Art "Disneyland version of the Weimar Republic" geworden.23 Andere Stimmen meinen, dass die USA auch ohne die Emigranten aufgrund ihrer materiellen Ressourcen zur heute führenden Wissenschaftsmacht aufgestiegen wären. Das mag sein, widerlegt aber die Tatsache nicht, dass die deutschen und europäischen Gelehrten gerade zu einer Zeit kamen, als ihre mitgebrachten Botschaften auf Gehör und Interesse stießen und sie damit für einen brain gain sorgten, als die USA erst auf dem Weg zu einer intellektuellen Großmacht waren.
Nach ihrer erfolgreichen Integration hatten die meisten Wissenschaftler keinen Anlass, in ihr Herkunftsland zurückzukehren, zumal sich schnell herumgesprochen hatte, dass sie dort kaum willkommen waren; niemandem ist zum Beispiel nach dem Krieg sein alter Lehrstuhl angeboten worden. Auf diesen saßen nun diejenigen, die während der NS-Zeit ihre Karriere begonnen hatten und sie in der Regel nach 1945 auch bruchlos fortsetzen konnten. Trotz der hier und da gleichwohl strahlenden Rückkehr – exemplarisch sei nur die Kerngruppe des Frankfurter Instituts für Sozialforschung mit Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Friedrich Pollock (1894–1970) erwähnt – haben die meisten dieser Remigranten eine Doppelexistenz geführt. Durchweg alle haben ihre neue amerikanische Staatsbürgerschaft beibehalten, da sie die Entwicklung der frühen Bundesrepublik mit erheblicher Skepsis beurteilten. In anderen Berufsgruppen lag die Zahl der Remigranten ebenfalls nicht höher als maximal 20 bis 25 Prozent.
Die in viel größerem Umfang zurückgekehrten politischen Repräsentanten integrierten sich geräuschlos in den postfaschistischen Konsens des Beschweigens der Vergangenheit. Von der nicht kleinen Zahl der sozialdemokratischen Parlamentsabgeordneten hielten es nicht wenige für ratsam, auf die Angabe ihre Exiljahre in den biographischen Einträgen für die Bundestags-Handbücher der ersten Legislaturperioden zu verzichten.24 Zunächst vor allem auf landes- und kommunalpolitischer Ebene wirkten remigrierte Sozialdemokraten entscheidend in der praktischen Arbeit des Wiederaufbaus mit. Dafür stehen nach 1945 etwa Wilhelm Hoegner (1887–1980), Ministerpräsident von Bayern, und die Bürgermeister von Hamburg und Berlin Max Brauer (1887–1973) und Ernst Reuter (1889–1953). Sie knüpften damit direkt an ihre politische Arbeit in Deutschland vor 1933 an, bereicherten die Verwaltung aber mit neuen Erfahrungen aus dem Exil, wie etwa der Einführung des Ombudsmann-Amtes bei parlamentarischen Konflikten nach skandinavischem Muster oder psychologischer Eignungstests für Bewerber des öffentlichen Dienstes nach amerikanischem Vorbild.