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Verkehr und Transport: Versuche zur Systematisierung
Unter Verkehr versteht man die räumliche Übertragung von Gütern, Personen oder – beim Nachrichtenverkehr – Informationen. Das gilt allerdings nur für die Gegenwart. Noch bis vor ca. 150 Jahren war die Bedeutung des Wortes Verkehr deutlich breiter; die Engführung des Verkehrsbegriffs fand also gleichzeitig mit den revolutionären Veränderungen des Verkehrssystems seit dem 19. Jahrhundert statt. Zuvor deckte der Begriff Verkehr neben der räumlichen Übertragung auch den Bereich des ökonomischen Tauschs, also den Handel, ab, und "häufiger hat das wort eine allgemeinere bedeutung, 'umgang, (gesellschaftliche) berührung'".1 Diese Bedeutung ist heute sehr stark in den Hintergrund getreten. Nicht nur die Verkehrsvorgänge selbst, sondern auch die Vorstellungen, was alles darunterfällt, veränderten sich also in den letzten Jahrhunderten sehr stark.
Neben "Verkehr" kommen noch weitere Begriffe zum Einsatz, um das Thema dieses Artikels zu bezeichnen. "Transport" ist zum Beispiel der terminus technicus, der die (technische) räumliche Übertragung bezeichnet – auch hier grenzte sich die Bedeutung im Laufe des 19. Jahrhunderts stark ein. "Mobilität" hat seit den 2000er Jahren als Begriff nicht nur in der Wissenschaft an Bedeutung gewonnen. Im Gegensatz zu Transport und Verkehr rückt mit dem Mobilitätsbegriff der Mensch als Subjekt stärker in den Vordergrund. Mobilität wird nicht in erster Linie als technische Infrastruktur oder ökonomischer Prozess, sondern als menschliche Praxis begriffen, die von individuellen und kollektiven Mobilitätsbedürfnissen vorangetrieben wird.2 Damit kommen auch andere Vorgänge in den Blick, das Zu-Fuß-Gehen beispielsweise.3 Der Zusammenhang zwischen der räumlichen Mobilität einerseits und den sich verändernden Verhältnissen zwischen Menschen wird so ebenfalls deutlich. Mobilität ist eine Grundbedingung von Sozialität und menschlicher Kultur, die sich in unterschiedlichen Zeiten und Räumen sehr unterschiedlich realisierte.
Verkehr und Mobilität kann man auf unterschiedliche Weise systematisieren. So kann man zwischen den Objekten des Verkehrs unterscheiden: Güterverkehr, Personenverkehr, Nachrichtenverkehr. Auch die verschiedenen Transportwege (Seeverkehr, Landverkehr etc.) oder die Fortbewegungsarten (mit tierischer Zugkraft, mit menschlicher Muskelkraft, mit natürlicher Energie wie Wind- oder Wasserkraft, schlussendlich auch mit technischen Motoren) lassen sich differenzieren, genauso örtlicher und überörtlicher, regelmäßiger und unregelmäßiger Verkehr. In historischer Perspektive lassen sich zudem unterschiedliche Perioden der Transportgeschichte bestimmen, die durch Kommunikations- und Verkehrsrevolutionen voneinander abgetrennt sind.
Die Kommunikationsrevolution um 1500
Die Entstehung der Post, vor allem der kaiserlichen (Taxis-)Post stellte zu Beginn der Neuzeit eine wichtige Innovation dar, die die Verkehrs- und Mobilitätsgeschichte Europas nachhaltig beeinflussen sollte. Denn diese neuen Verkehrssysteme, die zunächst im Heiligen Römischen Reich deutscher Nationen eingeführt wurden, ermöglichten nicht nur erstmals fahrplanmäßigen Nachrichtenverkehr. Ihnen lag vor allem eine veränderte Raumerfahrung zugrunde. Sie unterteilten den Raum in Routen, Wegstrecken und Tagesentfernungen. Die festen Postrouten, die nach einem Fahrplan befahren wurden, machten Poststationen notwendig, um Pferde und Personal zu wechseln, später auch um Fahrgäste zu verpflegen und zu beherbergen. Es waren also vorrangig organisatorische Neuentwicklungen, die um 1500 langsam einsetzten. Spätere Entwicklungen des Verkehrssystems, die größere Menschengruppen in ihrem Mobilitätsverhalten beeinflussten, bauten auf diesen neuen Raumstrukturen des Postsystems in Mitteleuropa auf. Außerdem trieben die expandierenden Postsysteme technische Innovationen voran, vor allem im Fahrzeug- und Wegebau. Staatliche und städtische Straßenbauverwaltungen bekamen durch das Postsystem einen wichtigen Entwicklungsimpuls. Schließlich entstanden neue Medien wie gedruckte Fahrpläne und Karten, die wichtige Hilfsmittel für das Reisen per Post wurden.4 Daher sprechen manche Forschende davon, dass bereits im 15. und 16. Jahrhundert zumindest in Mitteleuropa eine "communications revolution" (Kommunikationsrevolution) stattgefunden habe – und nicht erst im 18. Jahrhundert.5 Doch die Gruppe derjenigen, die tatsächlich mit diesem Verkehrssystem mobiler wurden, war sehr klein, bestand vorrangig aus staatlichen Bediensteten, Wissenschaftlern und Künstlern. Doch kamen auch Personen, die nicht selbst reisten, über Reiseberichte, Briefe etc. mit diesen neuen Mobilitätspraktiken in Kontakt.
Die Transportrevolution um 1800
Im 19. Jahrhundert wandelten sich die Verkehrs- und Mobilitätssysteme fundamental, zunächst in Nordwesteuropa, dann aber weltweit. Die technischen Innovationen Dampfschiff und Eisenbahn veränderten nicht nur das Verkehrssystem selbst, sondern alle gesellschaftlichen Zusammenhänge. Daher kann man hier von der Transportrevolution schlechthin sprechen.6 Allerdings ist nicht klar, wie man diese grundlegende Umwälzung datieren kann, fand sie doch in unterschiedlichen Regionen Europas zu verschiedenen Zeiten statt und lief ganz unterschiedlich ab. Denn es waren viele verschiedene Teilprozesse, die sich zu einem großen Ganzen verbanden. Großbritannien war der Vorreiter dieser Revolution. Die britische "transport revolution" (Transportrevolution) wird bereits auf die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts datiert. Denn mit dem enormen Anwachsen der Küstenschifffahrt und der Expansion des Kanalbaus veränderte sich der Warentransport in Großbritannien bereits vor dem Siegeszug der Eisenbahn grundlegend.7 Die Jungfernfahrt der Eisenbahn im September 1825 machte die Zeitgenossen auf die revolutionären Umwälzungen im Verkehrssektor aufmerksam. Mit dem Siegeszug dieses neuen Verkehrsmittels (und den damit verbundenen technischen, infrastrukturellen, organisatorischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen) begann in vielen mitteleuropäischen Räumen ein neues Zeitalter.8 Allerdings kann man zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht von einem europäischen Verkehrssystem sprechen; vielmehr dienten die Eisenbahnen in der Regel der Vernetzung innerhalb von Nationalstaaten oder Territorien. Die Einführung des Dampfschiffes und seine Durchsetzung im interkontinentalen Seeverkehr ab den 1860er Jahren waren ebenfalls Teil der Transportrevolution des 19. Jahrhunderts und trugen zu einer neuartigen Verbindung von Zentren auf der ganzen Welt bei – die Globalisierung des 19. Jahrhunderts hatte hier eine wichtige Grundlage.9
Es waren also mehrere technische Neuentwicklungen zusammen, die zu völlig neuen Verkehrsverbindungen und Mobilitätserfahrungen führten. Bislang ungekannte Güter- und Fahrgastmengen konnten nun kostengünstig, schnell und vergleichsweise sicher regelmäßig über weite Entfernungen transportiert werden. Dazu trugen neben der Technik auch Veränderungen in Betrieb und Organisation bei; mit den großen privaten und staatlichen Verkehrsunternehmen entstanden Betriebe, die das öffentliche Interesse auf sich zogen. Staatliche Regulierung fand hier deutlich vor anderen Geschäftszweigen statt, weil Verkehrsbetriebe als gesellschaftlich relevant galten. Technische und ökonomische Experten, die über nationale und Unternehmensgrenzen miteinander kooperierten, bildeten Netzwerke, wie es sie vorher in der europäischen Geschichte nicht gegeben hatte.10 In wirtschaftshistorischer Hinsicht handelt es sich um einen Einschnitt sondergleichen, der für die Industrialisierung wichtige Voraussetzungen und Impulse lieferte. Aber auch für die Sozialgeschichte ist die Transportrevolution von großer Bedeutung: Große Bevölkerungsgruppen wurden mobil, die Entstehung der europäischen Großstädte ebenso wie das Pendeln zwischen Stadt und Land wären ohne die Entwicklung moderner Massenverkehrsmittel im 19. Jahrhundert undenkbar gewesen. Auch in kultureller Hinsicht lösten die Eisenbahnen große Veränderungen aus. Reisen wurden für mehr Menschen möglich, und die Wahrnehmungen von Raum und Zeit veränderten sich.11 Innerhalb von wenigen Jahrzehnten veränderte sich also nicht nur das europäische Transportsystem, sondern diese Veränderungen hatten auch Auswirkungen auf viele andere Lebensbereiche.
Die Mobilitätsrevolution um 1900
Während die Transportrevolution des industriellen Zeitalters noch lief und Folgeinnovationen das Eisenbahn- und Dampfschifffahrtssystem immer weiter veränderten, fanden um 1900 zunächst relativ unbeachtet weitere Veränderungen statt. Durch die Entwicklung von "Mobilitätsmaschinen" wie Flugzeugen und Luftschiffen, den ersten (sportlichen Zwecken dienenden) Autos sowie Fahrrädern, die alle vorrangig dem Vergnügen, nicht einem ökonomischen Zweck dienten, hielt ein Kulturwandel Einzug, der wegweisend für die Veränderungen des Mobilitätssystems und -verhaltens des 20. Jahrhunderts war. Diese Mobilitätsmaschinen beförderten einen neuen Stil in der Fahrzeugkonstruktion, brachten andere Anforderungen an die Verkehrsnutzer:innen und neue Nutzungsformen mit sich, aber veränderten auch die physischen und emotionalen Wirkungen auf die mobilen Individuen. Bewegung im Raum wurde individualisiert und unabhängig von großen Systemen wie der Eisenbahn erfahrbar.12 Zeitgenössische Verkehrsfachleute schenkten diesen Innovationen oftmals nur wenig Aufmerksamkeit, was sich in der historischen und ökonomischen Forschung lange fortsetzte.
Die Massenmotorisierung seit den 1950er Jahren
Um 1950 setzte sich schließlich das Automobil als Verkehrsträger im europäischen Verkehr durch. Dieser Prozess, der aus der Rückschau zielgerichtet und erfolgreich erscheint, war allerdings durchaus "holprig".13 Zwischen der Erfindung des Automobils im späten 19. Jahrhundert und der massenhaften Durchsetzung auf Europas Straßen lagen mehrere Jahrzehnte, die zum Beispiel durch den vielfach thematisierten "Kampf zwischen Schiene und Straße" gekennzeichnet waren. Vor allem in der Zwischenkriegszeit versuchten verschiedene nationale Regierungen, die Motorisierung im Gütertransport zu regulieren, um den Eisenbahnen keine Konkurrenz auf der Straße erwachsen zu lassen – letztlich mit sehr wenig Erfolg.14 Die massenhafte Verbreitung des PKW als Verkehrsmittel der Wahl hatte Auswirkungen in die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Teilbereiche: Veränderungen im Tourismus (Zeitalter des Massentourismus), Städtebau (Suburbanisierung), Alltagsmobilität (Entdifferenzierung der Verkehrsräume), nicht zu vergessen die Veränderungen, die durch die Automobilindustrie angeregt wurden. Schließlich gab eine Automarke einem ganzen Produktionsregime – dem Fordismus – ihren Namen. Spätestens ab den 1950er Jahren – in den USA auch schon früher – wurde der individuelle Autoverkehr zum Leitbild für Mobilitätspolitik und begann, die Vorstellungen vom "Verkehr" abzulösen. Mobilität sollte nun ermöglicht und keinesfalls eingeschränkt werden; Mobilität und Freiheit wurden eng miteinander verkoppelt.15
Diese Periodisierung der Verkehrs- und Mobilitätsgeschichte verschafft zunächst Überblick, produziert aber auch eine problematische Vorstellung von klar voneinander abgrenzbaren Mobilitätsphasen, die sich so nicht halten lässt. Die Geschichte der Mobilität ist vielmehr durch Gleichzeitigkeiten und Heterogenitäten gekennzeichnet. Außerdem ist diese Chronologie von Revolutionen problematisch, weil sie suggeriert, dass die Menschen in Europa im Verlauf der Geschichte immer mobiler, die Verkehrsmöglichkeiten immer vielfältiger wurden. Das ist nicht grundsätzlich falsch. Aber dadurch wird ausgeblendet, dass bestimmte Mobilitätsformen untergegangen, reguliert und abgeschafft wurden. Zudem muss zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und Regionen differenziert werden – nicht alle Europäerinnen und Europäer wurden immer mobiler oder sie wurden zu Mobilität gezwungen[]. Um diese Komplexität sichtbar zu machen, geht dieser Artikel zunächst auf die Veränderungen im Güterverkehr seit 1450, anschließend auf mobile Menschen im Nah- und im Fernverkehr ein.
Mobile Güter
Der europäische Güterverkehr begann nicht erst in der Neuzeit, aber er veränderte sich sehr stark, nahm neue Wege und Mittel, und die Güter, für die sich ein Transport auch über lange Strecken wirtschaftlich lohnte, wurden immer zahlreicher. Zu Beginn der Neuzeit waren diese Gütergruppen noch relativ übersichtlich. Trotzdem lohnt es sich, dem Güterverkehr vor Beginn des 19. Jahrhunderts Aufmerksamkeit zu schenken. Denn er war mehr als nur die Bewegung von bestimmten Produkten über eine räumliche Entfernung hinweg. Was Peter Frankopan (geb. 1971) für die Seidenstraße(n) in der Antike gezeigt hat, gilt ebenfalls für andere Güterverkehrssysteme: Sie bestanden nicht nur aus technischen Einrichtungen von Fahrweg und Fahrzeug, sondern es handelte sich auch um komplexe kulturelle Systeme von Sprachen, Gemeinschaften, Kulturen und Praktiken.16 Güterverkehr war und ist ein vielschichtiges und sehr wandlungsfähiges System.
Zunächst standen für den Gütertransport der Landweg (über Pfade, Heer- und Handelsstraßen) sowie der Wasserweg[] (See-, Küsten-, Fluss- und Kanalschifffahrt) zur Verfügung. Vor allem der Transport über den Landweg war oftmals beschwerlich, da Güter auf Wagen mit der Zugkraft von Pferden oder Rindern über oftmals unbefestigte, in Niederschlagszeiten aufgeweichte Straßen mühsam gezogen werden mussten. Trotzdem ist es aus heutiger Perspektive überraschend, welch lange Strecken vor dem Zeitalter der Chausseen bewältigt wurden: So konnte ein vierrädriger Karren, der immerhin knapp zwei Tonnen Güter transportierte, ab 1500 im Schnitt 30 Kilometer am Tag zurücklegen, bei sehr guten Bedingungen sogar 50 Kilometer.17 Günstiger für die wirtschaftliche Entwicklung waren allerdings Regionen, die per Schiff erreichbar waren – zum Beispiel England, wo die Küstenschifffahrt eine sehr große Rolle spielte.18 Für Binnenwasserwege wie Flüsse und (später) Kanäle war wichtig, in welche Richtung der Transport ging – Bergfahrten waren sehr arbeitsaufwändig, während Talfahrten sich auch für große Gütermengen anboten. Das galt besonders für die Flößerei und Trift, mit deren Hilfe große Mengen Holz auf natürlichen Wasserwegen transportiert werden konnten. Kanäle und Wasserwege mussten allerdings instand gesetzt, Treidelpfade von Bewuchs freigehalten werden.19 Oftmals spielte aber nicht nur eine Rolle, wie beschwerlich der Gütertransport war. Bei der Überquerung von Herrschaftsgrenzen wurden häufig Zölle fällig – angesichts der vielen kleinen Herrschaftsräume in Europa trieb das die Frachtkosten in die Höhe. Auch der Verkehr auf Wasserstraßen war oft gebührenpflichtig; das galt besonders für Kanäle, die ab dem 16. Jahrhundert gebaut wurden. Zudem beeinflusste die politische Lage die Wahl des Transportwegs. Welche Route war sicher, wo konnten Gütertransporte durch kriegerische Auseinandersetzungen aufgehalten werden oder gar verloren gehen? Schwierige Transportrouten, etwa über die Alpen, wurden so zwischenzeitlich attraktiv.20
Ab der Zeit des Merkantilismus bauten vor allem die französischen und preußischen Herrscher Kanäle, um den Güterverkehr innerhalb ihrer eigenen Territorien zu erleichtern. Sie dienten vorrangig dem Binnen-, oftmals nur dem regionalen Verkehr und wurden nicht zu europäischen Systemen zusammengeschlossen.21 So versuchten diese Staaten, Gewerbe und Handel anzuregen und geographische Nachteile gegenüber den Regionen, die ein enges Netz natürlicher Wasserwege aufwiesen, auszugleichen. Ab dem 18. Jahrhundert verlagerten sich die staatlichen Bauprojekte auf einen anderen Bereich: auf die Chausseen, planvoll angelegte Kunststraßen, die ebenfalls vor allem Handel und Gewerbe dienen sollten. Kunststraßen wurden aber nicht nur staatlicherseits gebaut, sondern auch durch Zusammenschlüsse von Händlern und Gewerbetreibenden; in Großbritannien erlebten etwa die turnpike trusts – Vereinigungen, die für die Unterhaltung und Instandhaltung von Mautstraßen (turnpike roads) zuständig waren – im 18. Jahrhundert einen starken Aufwind.22
Die Verbesserungen im Landverkehr, die durch diese neuen, planmäßig angelegten Straßen ausgelöst wurden, hatten ihrerseits auch Auswirkungen auf den transkontinentalen Güterverkehr. Dieser hatte bereits im 15. und 16. Jahrhundert einen Aufschwung erlebt, ausgelöst durch die europäische Expansion und technische bzw. wissenschaftliche Innovationen im Schiffsbau und in den Navigationstechniken.23 Über weite Strecken des 19. Jahrhunderts blieben Segelschiffe das dominierende Verkehrsmittel des transkontinentalen Verkehrs; erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann der Siegeszug der Dampfschiffe auch auf den Weltmeeren und machte den Waren- sowie Personenverkehr zwischen den Kontinenten deutlich berechenbarer und damit regelmäßiger.24 Außerdem wurden nun auch Massengüter auf dem Schiff transportiert. Das erforderte allerdings einen leistungsfähigen Verkehr zu Lande, um die transportierten Güter zu den Händler:innen, zur Weiterverarbeitung oder den Verbraucher:innen zu bringen. Erst ab dem 18., vor allem ab dem 19. Jahrhundert waren die Verkehrsverbindungen ins Hinterland der großen Seehäfen ausreichend weit ausgebaut.
Der Güterverkehr profitierte europaweit von den Innovationen der Transportrevolution um 1800. Die modernen Verkehrsinfrastrukturen, also das Straßen-, Kanal- und Eisenbahnnetz, erreichten erst im 19. Jahrhundert eine Qualität, die den Landverkehr in weiten Teilen Europas zu neuen Höhenflügen ansetzen ließ.
Die Eisenbahn gilt gemeinhin als der Schrittmacher von Industrialisierung und Handel.25 Zum einen erforderte die neue Technologie selbst enorme industrielle Kapazitäten – für den Lokomotivbau, aber auch im Bereich der Schieneninfrastruktur kamen schon bald nur noch in der Massenindustrie gefertigte Teile zum Einsatz. Zum anderen konnte die Eisenbahn alleine den Güterverkehr der sich industrialisierenden Gesellschaften in Europa nicht bewältigen. Sie war auf Verteilerverkehr angewiesen – so kam es, dass der Straßenverkehr im Zuge der Verkehrsintensivierung durch die Eisenbahn nicht ab-, sondern sogar stark zunahm, wenn auch vor allem auf kürzeren Strecken.26 Gerade für schwere Massengüter wie Kohle, Erz und Baumaterial behielten die Wasserstraßen ihre große Bedeutung – überall in Europa, mit Ausnahme von Großbritannien. Dort fiel das Kanalsystem des 18. Jahrhunderts weitgehend der Expansion der Eisenbahn zum Opfer. Das System der Nebenbahnen für den Güterverkehr wurde bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts stark ausgebaut. So bildeten sich innerhalb der europäischen Staaten Binnenverkehrssysteme heraus, in denen verschiedene Verkehrsmittel und Infrastrukturen ineinandergriffen.
Ein größeres Problem stellte demgegenüber der grenzüberschreitende Verkehr dar. Denn die neuen Verkehrsinfrastrukturen waren in der Regel unter staatlicher Aufsicht, Anregung und zum Teil auch Regie gebaut worden und sollten vor allem dem Binnenverkehr dienen. Wie der Verkehr über politische Grenzen hinweg funktionieren sollte, darüber dachte zu Beginn des neuen Verkehrszeitalters kaum jemand nach, abgesehen von technischen und wirtschaftlichen Visionären wie Michel Chevalier (1806–1879), die aber auf die betrieblichen Entscheidungen der Verkehrsunternehmen keinerlei Einfluss hatten.27 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden in Europa Eisenbahnen mit unterschiedlicher Spurweite realisiert, bis nach einigen Jahrzehnten zumindest die Hauptlinien in Mitteleuropa (Russland scherte aus) im Standard von 1435 mm gebaut wurden. Doch jede kleine betriebliche Synchronisierung erforderte zum Teil jahrelange Verhandlungen in extra dafür geschaffenen Expertengremien – der Verband der deutschen (später: mitteleuropäischen) Eisenbahnverwaltungen war eines davon. Ein großer Erfolg war schon die Standardisierung der Schlösser für Güterwagen, so dass die Türen auch im Ausland durch das Personal einer anderen Eisenbahngesellschaft geöffnet werden konnten. Von einer Herausbildung eines gesamteuropäischen Verkehrsnetzes kann also im 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht die Rede sein, auch wenn das Bewusstsein dafür wuchs, dass Absprachen, Standardisierungen und Synchronisierungen Verbesserungen für alle Seiten bringen könnten.
Nach dem Ersten Weltkrieg veränderte sich der Güternahverkehr gravierend: Im Zuge der Demobilmachung wurden Lastwagen, die im Ersten Weltkrieg für den Nachschub wichtig gewesen waren, günstig verkauft. Zeitgenössische Experten und Politiker ebenso wie Eisenbahnverwaltungen sahen das kritisch. Die privat betriebenen und wenig regulierten Lastwagen transportierten vor allem die Waren, die sich ökonomisch lohnten. Dadurch – so lauteten die Einwände – werde der rentable Verkehr von den Eisenbahnen abgezogen, die aufgrund der stark ausgeprägten gesetzlichen Regulierung in den meisten europäischen Ländern der Beförderungspflicht unterlagen. Gerade in der Weimarer Republik, wo der Reichsbahn eine wichtige Funktion für die Bezahlung der Reparationen zukam, stieß dies auf Ablehnung: Der "Schiene-Straße-Konflikt" war geboren, der die Experten für den Güterverkehr mehrere Jahrzehnte in Atem halten sollte.28
Mobile Menschen: Alltagsmobilität
Zwischen 1450 und 1950 veränderten sich die Praktiken der Alltagsmobilität deutlich, denn das Fahrrad, die Straßenbahn und schließlich der Kraftwagen bekamen wichtige Funktionen in den alltäglichen Mobilitätsarrangements. Allerdings waren auch um 1950 für viele Menschen die eigenen Beine das primäre Fortbewegungsmittel im Alltag. Dieses Spannungsverhältnis von Kontinuität und teils sprunghafter Entwicklung ist kennzeichnend für die europäische Geschichte der Mobilität.
Im ausgehenden Mittelalter, in der Frühen Neuzeit, sowie über weite Teile des 19. und zum Teil des frühen 20. Jahrhunderts waren Fußwege oftmals unbefestigt. Wenige Menschen, vorrangig die höheren Schichten und die Erwachsenen, trugen Schuhe. Zu Fuß zu gehen, war über weite Strecken vor allem eine Frage der sozialen Lage, nicht des Geschlechts. Viele Männer waren zu Fuß unterwegs, ob als Handwerker oder als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft. Kirchgänge und Wege zu nahen oder auch ferner gelegenen Märkten stellten weitere Mobilitätsanlässe dar.
Erst mit der zunehmenden Trennung von Arbeit und Wohnen im 19. Jahrhundert sowie der Einführung der Schulpflicht wurde die Alltagsmobilität für einen großen Teil der Bevölkerung einem festen zeitlichen Rhythmus unterworfen. Mit dem Wachstum der Städte und ihrer zunehmenden Verflechtung mit dem Umland wurden die Alltagswege spätestens seit dem 19. Jahrhundert für viele Menschen länger, selbst wenn sie weiterhin oft zu Fuß unterwegs waren.29 Das begann sich zu ändern, als technische Verkehrsmittel nicht nur häufiger zur Verfügung standen, sondern auch bezahlbarer wurden. Viele der städtischen Massenverkehrsmittel, die unser heutiges Bild von den Metropolen der Hochmoderne prägen, zielten zunächst vor allem auf ein bürgerliches Publikum. So waren etwa die ersten Pferde-Trambahn-Linien in München dezidiert für den bürgerlichen Ausflugsverkehr, nicht aber für den Arbeiter-Berufsverkehr gedacht und geplant.30 Das veränderte sich jedoch nach und nach; in den großen Metropolen wie London, Paris oder Berlin wurden die Untergrund- und Hochbahnen zum Rückgrat des Berufsverkehrs – und zu Infrastrukturen, mit denen die aufstrebenden Städte und ihre Verwaltungen sich als modern und zukunftsorientiert inszenieren konnten.31 Gerade in Industriestädten übernahmen Vorortzüge eine wichtige Funktion für das Arbeitsarrangement, denn nur so konnten große Mengen an Arbeitskräften zu den wachsenden Fabriken transportiert werden. Möglich wurde das einerseits durch den infrastrukturellen Ausbau, andererseits aber auch durch staatliche Regulierungen der Fahrkartenpreise wie in Großbritannien, wo ab 1844 auf jeder Strecke mindestens ein Zug fahren musste, für den es billige Fahrkarten (ein Penny pro Meile) gab – die so genannten parliamentary trains.32
Im späten 19. Jahrhundert wurde das Fahrrad zu einem immer gängigeren Verkehrsmittel. Zunächst vor allem von bürgerlichen (jungen) Männern gefahren, war das Fahrrad eine der "Mobilitätsmaschinen", die Bewegung und Abenteuer, körperliche Fitness und Wagemut miteinander verband.33 Wurde das Fahrrad von dieser sozialen Gruppe in verschiedenen europäischen Ländern vorrangig in der Freizeit gefahren, entdeckte die Arbeiterklasse es in der Zwischenkriegszeit als Verkehrsmittel für sich, während die bürgerlichen Männer auf das Auto umstiegen. Mitte der 1930er Jahre gab es in Deutschland rund 15 Millionen Fahrräder, in Belgien zwei Millionen, in Großbritannien 9 Millionen, in Frankreich 7 Millionen. Auf ein Auto kamen sieben Fahrräder.34 Die enorme Verbreitung, aber auch die zunehmende Wahrnehmung als Arbeitervehikel führte dazu, dass das Fahrrad im Alltagsverkehr von Experten für Verkehrsplanung und Verkehrssicherheit kritisch gesehen wurde. Der Fahrradverkehr musste reguliert, die Fahrradfahrer diszipliniert werden. Das galt auch deshalb, weil die Experten sich einig waren: Das eigentlich relevante Verkehrsmittel für den Individualverkehr werde binnen kurzer Frist das Auto sein. Entsprechend wollten sie Räume schaffen, in denen das Auto Vorrang hatte. Nicht nur das Fahrrad, sondern auch die Fußgänger wurden im öffentlichen Raum buchstäblich an den Rand gedrängt.35 Bis in die 1960er Jahre blieb das Fahrrad in Europa jedoch das wichtigste Verkehrsmittel, wichtiger als der motorisierte Individualverkehr, wichtiger aber auch als öffentliche Massenverkehrsmittel.36
Was diese Zahlen verschweigen: Noch im 20. Jahrhundert blieb das Zufußgehen für bestimmte soziale Gruppen eine zentrale Mobilitätsmöglichkeit. Die Praxis des Zufußgehens unterschied sich allerdings stark von der des 15. Jahrhunderts. Denn in der Mitte des 20. Jahrhunderts trugen die Fußgänger:innen in der Regel industriell gefertigtes Schuhwerk, von denen sie mehrere Paare besaßen. Sie nutzten befestigte Wege, mussten sich den Raum mit anderen Verkehrsmitteln teilen und waren in ihrer Bewegung, vor allem in den Großstädten, die zunehmend autogerecht umgebaut wurden, stark eingeschränkt.37 Schlussendlich zeigt sich gerade bei der Alltagsmobilität in der Moderne nicht nur eine soziale, sondern auch eine geschlechtliche Differenzierung. Während männliche Mobilität seit der Industrialisierung immer stärker durch Fahrzeuge, also durch technische Artefakte, geprägt war, blieb die Mobilität von Frauen und Kindern oftmals an die Fortbewegungsfähigkeit des eigenen Körpers gebunden. Dadurch hatten sie noch um die Mitte des 20. Jahrhundert einen deutlich engeren Bewegungsradius als Männer, die zu dieser Zeit mit Vorortzügen, Fahrrädern oder (Pferde-)Straßenbahnen ihre alltäglichen Wege zurücklegten.38
Mobile Menschen: Fernverkehr
Neben der Alltagsmobilität war die Mobilität über weite Strecken nicht nur wichtig für die Erfahrungen der mobilen Menschen, sondern auch für die Frage, wie bestimmte Weltregionen zu einem Ganzen zusammenwuchsen. Zu bestimmten Anlässen oder in bestimmten Lebensphasen wurden Menschen mobil und legten mit Hilfe von Verkehrsinfrastrukturen – oder jenseits von ihnen – zum Teil große Entfernungen zurück.39 Dabei knüpften sie Kontakte, kamen in Berührung mit anderen Lebensweisen und Kulturen, erlebten unbekannte Landschaften. Vorstellungen vom Fremden und vom Eigenen sowie die Erfahrung, dass auch vermeintlich "andere" Kulturen der eigenen ähnlich sein können, haben nicht zuletzt ihren Ursprung im Reisen.
Nicht alle diese Mobilitätsformen waren freiwilliger Natur – oder besser: Zwang, Notwendigkeit und Freiwilligkeit traten in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen auf. So waren die Wanderungen von Handwerksgesellen, regional auch "Walz" genannt, in der Frühen Neuzeit oftmals eine Notwendigkeit, um die zünftige Anerkennung zu erhalten. Sie trug dabei zu einer überregionalen Vernetzung der Gesellen und der Stärkung ihrer Position gegenüber regionalen Arbeitgebern bei.40 Frauen waren lange vor dem 20. Jahrhundert Teil dieser mobilen Teilgesellschaft, als Hilfskräfte oder ungelernte Selbständige, zum Teil als ausgebildete Handwerkerinnen (Weberin, Gold- oder Seidenspinnerin, als Putz- und Hutmacherin). Sie wechselten so lange zwischen verschiedenen Orten über teilweise weite geographische Entfernungen, bis sie eine dauerhafte Versorgungsmöglichkeit fanden.41 Wandernde Händler:innen und Hausierer:innen versorgten auch abgelegene Haushalte mit knappen Waren jenseits des alltäglichen Bedarfs. Ab dem 18. Jahrhundert legten sie innerhalb Europas weite Wege zurück, zum Beispiel von Italien aus in die Räume nördlich der Alpen.42 Sie waren zu Fuß unterwegs – ebenso wie der überwiegende Teil der Soldaten. Diese Mobilität über weite Strecken war weder bequem noch ungefährlich, gehörte aber für viele Menschen in Europa zur Normalität. Neben den eigenen Füßen kamen höchstens noch Karren oder einfache Wagen zum Einsatz, um Gepäck zu transportieren. Oftmals wurde dieses aber getragen, etwa in Kiepen.
Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts beförderten Postkutschen Personen auf festen Routen und mit festem Fahrplan. Das nutzten ausgewählte Personengruppen, zum Beispiel Gelehrte, die auf diese Weise (und nicht mehr nur über Briefkontakte) ein europäisches Netzwerk aufbauten. Aber auch die adlige Kavalierstour wurde dank der Post-Infrastruktur möglich. Dazu trugen mediale Hilfsmittel bei: Herbergsverzeichnisse, Postverkehrstabellen, Routenhandbücher oder topographische Kompendien.43 Reiseberichte und Reiseliteratur ergänzten diese Form der räumlichen Mobilität. Reiseerfahrungen blieben so nicht auf diejenigen beschränkt, die tatsächlich mobil waren, sondern hatten breitere kulturelle Wirkungen, zum Beispiel über die europäischen Salons. Das Fortbewegungstempo wuchs ab dem frühen 19. Jahrhundert zudem durch Eilposten, die auf ein fein abgestimmtes System von Stationen zum Pferdewechsel zurückgreifen konnten und dabei das (beständig wachsende) Netz von Chausseen sowie die Innovationen im Fahrzeugbau seit dem 18. Jahrhundert nutzten.
Reisen jenseits des eigenen Kontinents blieben – trotz Entdeckungs-, Handels- und Forschungsreisen – vor dem 19. Jahrhundert die Ausnahme. Danach setzte jedoch die große europäische Auswanderung ein. Mit Passagierschiffen, die zum Teil auf den Transport von Migrant:innen spezialisiert waren, verließen Männer, Frauen und Kinder den Kontinent, um in einem anderen Erdteil ein neues Leben zu beginnen – die meisten zog es über den Atlantik, nach Nord- oder nach Südamerika. Allein zwischen 1824 und 1924 verließen rund 60 Millionen Menschen den europäischen Kontinent in Richtung Westen.44 Die ganze Struktur der Imperien des langen 19. Jahrhunderts beruhte auf funktionierenden interkontinentalen Verkehrswegen.45
Reisen zum reinen Vergnügen wurden im 19. Jahrhundert, ausgehend von Großbritannien, häufiger. Gemeinsam war diesen neuen touristischen Formen des Reisens, dass sie auf technische Verkehrsmittel angewiesen waren. Bürgerliche Sommerfrischler reisten nicht per Karren oder gar zu Fuß an, sondern fuhren mit dem Dampfschiff, der Eisenbahn, später auch mit dem Postbus. Gruppenreisen wie die des Reisebüros Thomas Cook trugen zum Ausbau touristischer Regionen bei – ob am Rhein oder an der Irischen See.46 Die Massenverkehrsmittel orientierten sich an den neuen Mobilitätsbedürfnissen; in den Ferienzeiten wurden Sonderzüge eingesetzt; ein touristisch attraktives Ziel zeichnete sich durch eine gute Verkehrsanbindung aus. Gebirgsbahnen reagierten fast ausschließlich auf dieses Verkehrsbedürfnis.
Der Personenfernverkehr war bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts weitgehend auf die Eisenbahn angewiesen. Sie erschloss nicht nur neue Möglichkeiten der Mobilität, sondern veränderte auch die Wahrnehmung von Raum und Zeit sowie Konsummuster, architektonische Stile und Körperwahrnehmungen. In dieser Hinsicht muss die Erfindung der Eisenbahn und ihre Durchsetzung als wichtiger mentalitätsgeschichtlicher Veränderungsmotor verstanden werden.47 Das Reisen seit dem 18., vor allem aber dem 19. Jahrhundert trug zu einer veränderten Wahrnehmung des europäischen Raums bei. Während die Mittelklasse und über Wander- und Fahrradfahrervereine48 auch Angehörige der Arbeiterklasse Reiseziele im eigenen Land aufsuchte und so eine neue Vorstellung von der Nation bekam,49 waren es Luxuslinien, die einer Klasse von mobilen Adligen und Vertretern der Oberschicht ein Gefühl von Europa vermittelten. Der Orient-Express war ein solches Verkehrsmittel, das sozial höchst selektiv zu einem internationalen Begegnungsraum wurde und aufs Engste mit den kolonialen Projekten der europäischen Nationen verknüpft war.50
Fernmobilität war nicht immer freiwilliger Natur. Das Verkehrssystem diente auch kriegerischen Zwecken – große Truppenverlegungen erforderten schon in römischer Zeit die Anlage von Heerstraßen; im 20. Jahrhundert spielte die Eisenbahn eine wichtige Rolle für die Verlegung von Truppen und deren Versorgung.51 Die Massendeportationen im 20. Jahrhundert, vor allem im Zuge des Holocaust, waren nur mit Hilfe eines modernen und leistungsfähigen Verkehrssystems möglich. Die Mitverantwortung der Deutschen Reichsbahn für die Deportation der europäischen Juden an die Orte ihrer Ermordung steht außer Frage.52
Regelmäßigkeit, Verbilligung und Beschleunigung seit 1800
Mobilitätsstrukturen und -praktiken veränderten sich im Europa seit dem 19. Jahrhunderts wie nie zuvor. Durch die Einführung der Eisenbahn und der Dampfschifffahrt als großtechnische Systeme, flankiert durch neue Zubringersysteme, wurden die Formen des Verkehrs so stark erschüttert, dass alle anderen gesellschaftlichen Bereiche beeinflusst wurden.
In populären Darstellungen, die vor allem die veränderte Verkehrswahrnehmung der Zeitgenoss:innen in den Blick nehmen, erscheint es oftmals, als sei es nur die Geschwindigkeit gewesen, die das Verkehrsverhalten nachhaltig verändert hätte. Tempo, Tempo – das scheint das Motto der Moderne zu sein.53 Dabei beschleunigten sich die Transportvorgänge eher kontinuerlich als schlagartig, schließlich musste zunächst die neue Infrastruktur geschaffen werden. Die ersten Züge fuhren außerdem noch mit sehr eingeschränkter Geschwindigkeit und waren damit kaum schneller als eine Eilpost.
Welchen Einfluss hatte der Dampfverkehr, vor allem die Eisenbahn, auf die Frachtkosten? Die Diskussion über diese Frage ist eine Zeit lang erbittert geführt worden.54 Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass sich die Frachtkosten für Massengüter weniger stark veränderten als vielfach angenommen. Über die ganze Länge des 19. Jahrhunderts gesehen, sanken sie aber erheblich. Stärker schlug die Verbilligung des Personenverkehrs zu Buche. Die unterschiedlichen Wagenklassen machten es möglich, dass bei gleicher Geschwindigkeit mit ein und demselben Verkehrsmittel unterschiedliche Komfortklassen zu sehr unterschiedlichen Preisen angeboten werden konnten. Das bedeutet aber auch: Je nach Tarif waren die Reiseerfahrungen sehr unterschiedlich, selbst wenn die gleiche Landschaft an den Fenstern vorbeizog.
Roland Wenzlhuemer (geb. 1976) hat im Anschluss an vielerlei Detailstudien unterstrichen, dass neben der höheren Geschwindigkeit und der geringeren Kosten die regelmäßige Verfügbarkeit der Verkehrsgelegenheiten, die eine Folge der neuen technischen, aber auch betrieblichen Strukturen waren, den großen Unterschied machte. Schon die Postkutschen mit ihren regelmäßigen Fahrplänen hatten eine große Innovation im Verkehrswesen dargestellt, deren Wirkung jedoch auf den Nachrichtenverkehr bzw. auf sehr kleine Gruppen im Personenverkehr begrenzt geblieben war. Ab dem späten 19. Jahrhundert konnte der kontinental übergreifende Verkehr nach weitgehend zuverlässigen Fahrplänen abgewickelt werden, so dass Handel, Gewerbe und Industrie besser planen konnten. Das galt auch für den Personenverkehr, ob im Nah- oder im Fernverkehr.55
Mobilität und Verkehr seit 1450
In den 500 Jahren zwischen 1450 und 1950 haben sich die Verkehrs- und Mobilitätsmuster in Europa vollständig verändert. Sowohl der Einfluss der Technik als auch politischer und ökonomischer Initiativen waren Teil dieser Transformation; auf der Ebene der Subjekte haben sich Mobilitätsanlässe und -bedürfnisse radikal gewandelt.
Diese Veränderungen haben die Verkehrserfahrungen und -praktiken aber nicht vereinheitlicht. Vielmehr entstanden große soziale, geschlechtliche, teils nationale Unterschiede im Mobilitätsverhalten. Die Erreichbarkeit von Verkehrsinfrastrukturen unterschieden sich je nach Wohnort, die wirtschaftlichen Möglichkeiten zur Bezahlung von Verkehrsmöglichkeiten (Fahrkarten oder Anschaffung eines eigenen Fahrzeugs) ebenso. Zudem wurden und werden verschiedene Mobilitätsformen gesellschaftlich unterschiedlich beurteilt. Neben der positiv konnotierten Mobilität, etwa von europäischen Kolonialbeamten, gab es auch negativ bewertete Mobilität, etwa von mobilen Bevölkerungsgruppen oder jenseits von kontrollierten Passagen (etwa Schmuggelverkehre). Darüber hinaus wurden Formen von Mobilität erzwungen, um Konflikte zu beruhigen oder Ordnungen herzustellen – und das nicht nur in kolonialen Kontexten, sondern auch zur "Umsiedlung" von Bevölkerungsgruppen wie im 20. Jahrhundert.56
Es ist entsprechend wichtig, bei Verkehr und Mobilität die jeweiligen gesellschaftlichen Kontexte genau zu betrachten, nicht nur die technischen Möglichkeiten und ökonomischen Wirkungen, sondern auch die sozialen Ungleichheiten und kulturellen Bewertungsmaßstäbe. Erst dann ist Verkehrsgeschichte mehr als nur eine Erfolgsgeschichte einer sich ausweitenden räumlichen Bewegung im Zuge der Modernisierung. Erst dann geraten Widersprüche und Konfliktlagen, abbrechende und erzwungene Mobilitäten mit in den Blick.
Die europäische Geschichte von Verkehr und Mobilität ist darüber hinaus durch wechselnde Spannungsverhältnisse zwischen Abschließung und Öffnung sowie zwischen Nationalisierung und Europäisierung gekennzeichnet. Schon in der frühen Neuzeit wurden in den verschiedenen politischen Herrschaftssystemen eigene Postsysteme für den inneren Austausch und für die innere Verwaltung geschaffen. Doch gleichzeitig ermöglichten sie die Herausbildung von übergreifenden europäischen Netzwerken, etwa Briefwechsel zwischen Gelehrten. Die Förderung des Güterverkehrs durch große Verkehrsbauprojekte wie Kanäle oder Chausseen sollten vor allem das Gewerbe im eigenen Herrschaftsgebiet anregen, doch erleichterten sie auch den Warenaustausch über Grenzen hinweg.
Das Zeitalter von Eisenbahn und Dampfschiff war zudem stark durch nationale Bauprojekte und Planungen geprägt, und die Experten und sonstigen Akteure, die sich darum bemühten, den grenzüberschreitenden Verkehr (vor allem von Gütern, aber auch Personen) zu erleichtern, brauchten oftmals einen langen Atem.57 Durch Standardisierungs- und Harmonisierungsbemühungen entstanden neue europäische Verkehrsräume, wie etwa das Gebiet der mitteleuropäischen Eisenbahnverwaltungen. Die Schaffung eines europäischen Verkehrsraums war kein linear ablaufender, sondern ein sehr kontingenter Prozess mit vielen Rückschlägen und Umwegen.58 Um die Mitte des 20. Jahrhunderts kamen weitere Einflüsse hinzu, auf der einen Seite neue Verkehrsträger, denn mit der Massenmotorisierung und dem beginnenden Siegeszug des Luftverkehrs wurden andere Verbindungen möglich und forciert. Auf der anderen Seite kam es zum Abbruch vieler Verkehrsverbindungen durch den Kalten Krieg und die Blockkonfrontation in Europa, was sich langfristig auf die europäischen Verkehrsräume auswirken sollten.