Einführung
Transfergeschichtlich betrachtet, spielt Religion für die europäische Geschichte gleich mehrfach eine wichtige Rolle. Als Phänomen prägte sie einerseits einzelne Räume als Religions- und Kulturräume maßgeblich und oft namengebend aus, Großräume (das "katholische Europa") wie einzelne, durch religiöse Differenz bestimmte Regionen oder einzelne Orte. Religiöse Infrastrukturen wie Klöster, Bischofssitze oder Heiligtümer, aber auch "negative" religiöse Infrastrukturen wie Asylrechte oder Religionsfreiheiten beförderten den Austausch von Menschen, Praktiken, Objekten und Ideen. "Religiöse" Personen im Sinne des Lateinischen religiosi – ob als temporäre (Pilger) oder Vollzeit-Religiöse (Kleriker, Nonnen, Mönche) – und religiöse Objekte wie Reliquien, Ritualgerätschaften oder Bücher wurden zu den mobilen Elementen dieser Transferprozesse. Die Räume, in denen diese Bewegungen stattfanden, blieben dabei nicht dieselben; der Zugewinn, der Verlust oder die Begegnung zwischen und mit solchen Personen und Objekten veränderten selbst wiederum die kulturellen Räume. Besonders wirksam waren diese Prozesse nicht durch ihr Ausmaß, die Zahl der Beteiligten etwa oder den Umfang der bewegten Objekte. Nachhaltiger wirkte die Selektivität, denen sie selbst unterlagen. Religion verstärkte nicht nur anderweitig bestehende Differenzen sozialer, ethnischer oder sprachlicher Art, sondern erzeugte selbst neue Differenzen. Diese stellten sich als Differenzen religiöser Kompetenz oder unterschiedlicher Grade von Sakralität zwischen einzelnen Personen und Objekten dar, die unterschiedliche Antriebe oder Möglichkeiten der Bewegung erzeugten: Priester, nicht Laien; "Überreste" ("Reliquien") von Heiligen, nicht Alltagsgegenstände wanderten. Die durch Religion erzeugten Differenzen konnten aber auch eine Differenz kollektiver religiöser Identitäten erzeugen, Mehrheiten und Minderheiten voneinander und untereinander unterscheiden. Die Folgen waren im einzelnen schwer zu prognostizieren: Protestanten suchten nach anderen Protestanten, Juden suchten andere Juden, um dort – positiv – Infrastrukturen der eigenen religiösen Praxis mitnutzen zu können oder suchten muslimische Rechtsgebiete auf, um dort – negativ – der Duldung des eigenen Aufbaus solcher Infrastrukturen sicher sein zu können. Religion beförderte, behinderte und kanalisierte Kommunikations- und Austauschprozesse. Der Religionsbegriff selbst ist nicht nur ein heutiger Beobachtungsbegriff solcher Phänomene (Prozesse eingeschlossen), sondern war selbst schon lange vor der Frühen Neuzeit ein objektsprachliches Phänomen von großer historischer Tragweite geworden.
Religionsbegriff
Für die im frühneuzeitlichen und neuzeitlichen Europa umlaufenden und zunehmend auch wissenschaftlich elaborierten Religionsbegriffe ist ein Zusammenfall zweier Konzepte charakteristisch, die in dieser Weise in außereuropäischen Sprachen nicht prominent sind. Religion wird einerseits individuell und zugleich generalisierend als "Bindung" an das Göttliche oder als (ebenfalls durch Einzelne zu leistendes) "wiederholtes Lesen", das heißt, als sorgfältiges Beachten göttlicher Vorschriften verstanden. Beides greift auf antike Etymologien von religio als re-legere oder re-ligare zurück. Im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert konnte die Wissenschaft vor dem Hintergrund einer konfessionellen Bindung (in Deutschland etwa von weit über 99 Prozent) hoch plausibel annehmen, dass jeder Mensch Religion habe. Aber schon in der Spätantike wurde derselbe Begriff zunehmend zur Beschreibung von unterschiedlichen Konglomeraten religiöser Praktiken und Vorstellungen wie Unterstellungen kollektiver religiöser Identitäten verwendet.1 Das verband sich mit der impliziten oder expliziten Annahme, Religion existiere überhaupt nur in der Form von Religionen. Solche Religionen werden verstanden als Traditionen von religiösen Praktiken, Vorstellungen und Institutionen, unter Umständen sogar Organisationen, denen das spätrömische Recht die Fähigkeit und Aufgabe zuschrieb, ihre eigenen Angelegenheiten rechtsförmig zu regeln. Narrative Muster dafür boten die biblischen Konflikte von Gottes Volk mit Bilderverehrern, ob diese nun Holzsäulen oder Sternbilder anbeteten. Spätantike Rechts- und literarische Texte stellen neben rechtgläubige Christen Juden, Manichäer, Häretiker und schließlich diejenigen, die Opfer und unerlaubte Divination praktizierten. Diese werden in der Folgezeit als hellenistische oder griechisch/römische Religion, die in den nicht-christlichen Texten und der Bilderwelt dominiert, pagani in lateinischen Texten, Polytheisten im jüdischen und muslimischen Verständnis, zusammengefasst. Das entspricht einer wechselseitigen Klassifikation und einem Wahrnehmungsmuster, das auch rand- oder außereuropäische Kulturen einordnen kann: erst allmählich werden etwa die "Nacktphilosophen" (Yogis) des antiken Indiendiskurses zu einer eigenen, "indischen" Religion.2
Im sich verwissenschaftlichenden Sprachgebrauch handelt es sich bei "Religionen" um Produkte von Gesellschaften, von in der Regel auf einem Territorium zusammenlebenden Gruppen von Menschen, die den Kern ihres Zusammenlebens, ihrer gemeinsamen Orientierung in Form religiöser Symbole dem Zugriff der alltäglichen Diskussion entziehen.3 Daraus entstehe – so die Logik solcher Argumentationen – ein Zeichensystem, das in der Durchführung von Ritualen gegenwärtig gehalten und durch Priester abgesichert wird. In Bildern, Erzählungen, schriftlichen Texten oder ausgefeilten Lehren will es die Welt erklären und in ethischen Imperativen das Handeln bestimmen – manchmal unter Zuhilfenahme eines durchgriffsfähigen Sanktionsapparates (zum Beispiel durch staatliche Unterstützung), manchmal ohne die Androhung von Sanktionen.
Während die postkoloniale Kritik diesem Religionsbegriff eine zu enge Orientierung an "westlicher", vor allem christlicher Religions- und Begriffsgeschichte vorwirft, die für asiatische Kulturen etwa nicht greifen könne,4 erweist sich die vorgestellte Begriffsvariante schon am europäischen Material als unzureichend.5 Im Blick auf den zweiten, individuellen Begriffsstrang wird religiöse Zugehörigkeit als singulär und exklusiv verstanden. Jenseits des normativen und zumeist institutionell abgesicherten Kerns verbleiben Devianzen in Form systematisierter Häresien oder volks- oder populärreligiöse Praktiken und Vorstellungen. Rationalitätskritisch oder zum Zwecke völkischer oder nationaler Identitätsbildungen konnte das positiv gewertet und durch Forschung oder Musealisierung gesichert werden; das Spektrum reicht hier von wissenschaftlichen Konstruktionen völkischer und religiöser Kontinuität etwa "germanischer" oder "arischer Religiosität" (z.B. im Ahnenerbe der SS) oder in zahllosen Sammlungen von "Exvotos".6 Gerade im Kontext des imperialen europäischen Ausgriffs liegt hier eine Wurzel der wissenschaftlichen Disziplin der Religionsgeschichte.7 Daneben trat ein zweites Narrativ, das Religion mit einer zunehmenden, durch die Modernisierung bedingten und diese wiederum befördernden Individualisierung konfrontierte. Diese Sichtweise verband sich mit der Annahme, dass frühere Gesellschaften und ihre Religionen durch hohen Kollektivismus charakterisiert gewesen sein müssen. Der Umbruchspunkt wurde gerade in der relevanten eigenen Vergangenheit nach dem "dunklen Mittelalter" gesucht. Nach dem schon im 19. Jahrhundert entworfenen Bild ist das Individuum ein Produkt der Renaissance, die erstmals, und zwar mit dem Rückgriff auf die vorchristliche Antike, ein Heraustreten aus der eigenen Tradition ermöglicht habe.8 In dem so eröffneten Raum der kritischen Distanz konnten prinzipielle philosophische, ästhetische, sprachliche, institutionelle und eben auch religiöse Alternativen formuliert, ja organisiert und praktiziert werden. Wenn man bereits hier – und das bleibt umstritten – Paganismus nicht nur als ästhetische Form, sondern als religiöse Alternative sieht,9 ergäbe sich ein Strang religiöser Individualisierung, der in hoch- und spätmittelalterlichen Frömmigkeitspraktiken weiteren Spielraum erhielte, bevor die Reformation im 16. Jahrhundert – Religion grundsätzlich zum Gegenstand individueller Wahlentscheidung machte und dem Individuum entsprechende Freiräume schuf. In der Gegenwart, seit den 1960er Jahren, wird eine Intensivierung dieses Prozesses beobachtet, der dann als völlige Auflösung traditionaler Bindungen und ein Unsichtbarwerden von Religion interpretiert wird, die mit der Verdrängung von kollektiver Religion durch individuelle Spiritualität einhergehe.10
Diese Entwicklungen – selbst durch Gegenbewegungen im 21. Jahrhundert konterkariert – stellen den Religions- als Religionen-Begriff gerade dadurch in Frage, dass sie sich durch vielfältige vorfrühneuzeitliche und außereuropäische Phänomene generalisieren lassen, vor allem auch in der Dialektik von Individualisierungsprozessen:11 Die Absicherung religiöser Individualität durch ihre Institutionalisierung erzeugte neue Normen und Einengungen, Konfessionalisierungsprozesse schrieben Gruppengrenzen fest und sicherten die Internalisierung spezifischer konfessioneller Normen ab, sie schufen keine überall frei wählbaren religiösen Optionen.
Als angemessener Beobachtungsbegriff ist daher ein Begriff von Religion vorgeschlagen worden, der es ermöglicht, gerade die individuelle Praxis und Bedeutung von Religion im Rahmen gesellschaftlicher und kultureller Kontexte zu erfassen.12 Gelebte Religion wird damit als Phänomen der Anerkennung kultureller Artefakte und Traditionen greifbar.13 Aber auch letztere sind nicht einfach gegeben. Traditionen sind selbst das situationsspezifische Produkt (oder die Reproduktion) kultureller Akteure; sie können ebenso durch lokale Machtverhältnisse wie transregionale Austauschprozesse geprägt sein. In solchen komplexen Situationen beziehen dann religiöse Kommunikationen die Situation transzendierende "göttliche" Adressaten unterschiedlicher Qualität (Götter, Dämonen, Engel, Verstorbene) ein, schreiben ihnen Handlungsmacht zu und verleihen den Akteuren selbst spezifisch religiöse Handlungsmacht. Die Anknüpfung an langlaufende Sakralisierungen von Orten, Zeiten, Objekten oder Rollenträgern (für christliche Konfessionen etwa von Kirchen, Festtagen, Reliquien, Klerikern) plausibilisieren solches Handeln und können es wiederum in "Votiven" oder Spenden auf Dauer stellen.14 In einer solchen Perspektive kann das, was nun umfassend als "Religion" angesprochen wird, sehr unterschiedliche Institutionalisierungen und selbstreflexive Systematisierungen annehmen, ja sich auch in sehr unterschiedlicher Weise an Praktiken der individuellen und kollektiven Sinnstiftung beteiligen und sehr unterschiedliche Funktionen übernehmen.
Forschungsstand
Einen Forschungsstand zu Religion in Europa gibt es nicht; die Zahl der Einzeluntersuchungen ist Legion, der Versuch, eine spezifisch europäische Geschichte vor der Zeitgeschichte zu erzählen, nur in Ansätzen erfolgt, auf die am Ende dieses Paragraphen auch einzugehen ist. Wesentlich ist die Tatsache, dass erneut wissenschaftliche Beobachtung von Religion und spezifisch religiöses Handeln gerade in dieser Geschichte aufs Engste verflochten sind. Vor dem Hintergrund des zweischneidigen Religionsbegriffes haben religiöse (für die längste Zeit insbesondere christliche) Akteure und Gruppen in Europa Anstrengungen unternommen, in immer neuen alternativen Repräsentationen von Vergangenheit15 ihre eigene "Geschichte" – genealogisch an Gründungsfiguren oder -ereignisse anknüpfend und die Legitimität und Authentizität der Nachfolge aufweisend, oder als Abgrenzungsgeschichte, die den Ausschluss illegitimer Positionen und Gruppierungen beschreibt – zu schreiben und zu erzählen. Es ist für die Tradition westlicher "säkularer" Geschichtsschreibung bezeichnend, dass sie sich in der Kritik mythischer (Thukydides, 460–ca. 395 v. Chr.), institutionenlegitimierender (Konstantinische Schenkung; Nikolaus von Kues, 1401–1464 / Lorenzo Valla, 1407–1457) und biblischer Erzählungen selbst konstituiert und zugleich in den Selbsthistorisierungen römischer (Marcus Terentius Varro, 116–27 v. Chr.), jüdischer (Hebräische Bibel; Flavius Josephus, ca. 37/38–100) und christlicher Religion (Eusebios von Caesarea, ca. 260–340) ihre methodischen Präzedenzfälle findet. "Emische" und "etische", aus der Binnensicht und zumeist für ein Binnenpublikum oder aber von außen und oft für ein akademisches Publikum produzierte Geschichtsschreibung sind damit kaum zu trennen. Im Blick auf die Eröffnung wie hochselektive Kanalisierung von Austauschprozessen gehört dabei zu den größten Erfolgen "emischer" Geschichtsschreibung die Rede von "Christentum", "Judentum", "Heidentum" (oder auch "Idolatrie") und den Gruppenbildungen der Ausschlussgrenzen markierenden Ketzergeschichte. Trotz zahlloser Überschneidungen bei Personen erscheinen solche Gruppen als Akteure auf der Weltbühne, die klar voneinander geschieden, stabil und einheitlich sind. Dem empirischen Befund entsprechen diese klaren Gruppenzuschreibungen nicht, wie schon die Rede von "Volksreligiosität"[][] zeigt. Das hat als Modell für die Selbstorganisation sozialer Gruppen als nationale oder internationale Akteure hohe Attraktivität entwickelt. Diese Proliferation eines kontingenten historiographischen Produktes, das vor allem auf dem Rücken des Konzeptes "nationaler Identität" weitere Popularität entwickeln konnte, hat seit jeher den Blick auf religiöse Praktiken, Texte und Vorstellungen selbst zu einem Geschäft ständiger Grenzziehung gemacht – oder genealogische Konstruktionen von Allianzen wie die der "abrahamitischen Religionen" ermöglicht.
Wie einerseits Religionen (ihre) Geschichte erzählen und andererseits Wissenschaft Religionsgeschichte und dadurch auch Religion rekonstruiert, ist bisher nur ansatzweise untersucht worden.16 Eine Art Schnittstelle zwischen der Historisierung in den notwendigerweise heranzuziehenden und oft alternativlosen "Quellen" und der (auch von religiösen Akteuren oft in einer Standards setzenden Weise) wissenschaftlichen Religionsgeschichtsschreibung bildet die frühneuzeitliche Beschäftigung mit der Religionsgeschichte, die sich an der Auseinandersetzung mit dem "Heidentum" festmachen lässt und den kirchengeschichtlichen Raum definitiv verlässt. Wie sich die biblische Historiographie – bei aller neuzeitlichen historischen Kritik – bis in moderne Darstellungen der Geschichte Israels und des antiken Judentums oder des frühen Christentums fortsetzt, ist bisher kaum kritisch reflektiert oder untersucht worden. Auch wie die Selbsthistorisierung von Religion in Konfessionsgeschichtsschreibung umgesetzt wird, gerät nur vereinzelt in den Blick.17 Selbst die klassische Religionsphänomenologie, die auf Verstehen von außen zielte,18 war faktisch eine Religionsphilologie, die sich vor allem auf theologische Texte religiöser Traditionen konzentrierte.19 Auch intellektueller Transfer im Rahmen von Wissenschaft wurde damit in die Bahnen institutioneller Grenzziehungen gelenkt und durch die verführerische Nähe von diskursiver Wissenschaft und den diskursiven Bereichen ihres Gegenstandes geprägt.
Das Programm einer "Europäischen Religionsgeschichte" tritt dem, konzentriert man sich auf den religionswissenschaftlichen Forschungsstand, entgegen. "Europäisch" rekurriert dabei nicht auf einen vorgegebenen geographischen Raum, sondern ist bereits Ergebnis einer Reflexion auf sinnvolle zeitliche und räumliche Grenzen für eine der Komplexität des nicht Religionen addierenden, sondern auch quer zu ihnen liegenden Religionsgeschichte, die der oben skizzierten Gegenstandsbestimmung angemessen ist.20 Deren typische Konstellationen und Pragmatiken der Zeichenverwendung stellen sich dabei gerade nicht als ahistorische 'Religionen', sondern orts- und zeitgebundene Prozesse dar. Professionalisierung, Symbolkontrolle, vor allem aber das Verhältnis zu anderen Orientierungssystemen – im Falle der Europäischen Religionsgeschichte zu 'Wissenschaft', aber auch zu Recht und Ökonomie – bilden solche Charakteristika auf aggregierter Ebene. Beispiele dafür wären wirtschaftliche Rationalisierungen unter dem Einfluss religiöser Vorstellungen, von der Arbeitsethik einiger Formen des Mönchtums (Benediktiner/innen, Zisterzienser/innen) bis hin zur "protestantischen Ethik". Auch die spätantike christliche wie auch rabbinisch-jüdische Übernahme römischen Rechtsdenkens in eigene Organisations- und Lebensführungsformen und die Folgen der Ausbildung eines systematischen "kanonischen Rechts" bis in die Gegenwart zählen zu diesen Beispielen.
Voraussetzungen
Als Inhalt wie Ermöglichungsbedingung von Austauschprozessen war Religion in der Frühen Neuzeit, und das heißt parallel zu den ersten transkontinentalen imperialen Ausgriffen, durch mehrere religiös konnotierte räumliche Dynamiken bestimmt.21 Ein durch Latein als Bildungs- und Schriftsprache geprägter Raum, der schon in der Spätantike bis nach Irland reichte, tradierte eine aus dem Aramäischen, insbesondere aber Griechischen übersetzte Christlichkeit, die nach dem Grad ihrer intellektuellen Elaboriertheit, materiellen Ausdrucksfähigkeit und Zahl wie Stärke ihrer organisierten Kerne konkurrenzlos war. In unbekanntem Ausmaß könnte sie auch ein spätantikes lateinisches Judentum absorbiert haben.22 Auf lokaler wie überregionaler Ebene bot sie sich als Herrschaftsideologie, zum Teil in ihren herausgehobenen Vertretern als Herrschaftsträgerin an. Von den frühesten Texten an (Paulus, ca. 6 v. Chr–64 n. Chr) Apostelgeschichte, ca. 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts) stellte sich der Bezug auf Christus als Gottessohn als eine Transfergeschichte mit Rom und Jerusalem als Hauptbezugspunkten dar. Transfer-Erzählungen von Legitimation und Konversion (Konstantin, ca. 270/288–337 / Helena, ca. 250–330; Karl der Große, 747–814; Kreuzzüge) produzierten eine bis ins 20. Jahrhundert anhaltende Dynamik.
Eine weitere Austauschdynamik ergab sich im Süden und Osten aus dem zirkummediterranen Raum in griechischer, arabischer und hebräischer Sprache, die schnell durch religiöse Differenz konnotiert war, monophysitisch, islamisch, "orthodox". Diese engeren Kontaktzonen, im Hochmittelalter in Spanien und Sizilien durch den intensiven Austausch – religiös vor allem in Wahrnehmung und Übersetzung – von Texten geprägt, waren ebenso wie der unmittelbare Kontakt nach Byzanz im 15. Jahrhundert durch die sich verschiebende Militärgrenze zum Osmanischen Reich und einer breiten, aber stärker durch lokale Austauschprozesse geprägten Überlagerungszone im Südosten ersetzt worden. Diese Rahmenbedingungen erzeugten im Laufe der Zeit Dispositionen für religiöse Praktiken und Ideen, die selbst anhaltend wirken konnten. Diese breite, aber stark regional geprägte Kontaktzone setzte sich nach Nordosten in den politischen Formationen um das Russische Reich herum fort, sprachlich wie religiös – orthodoxe und lateinische Christen; askenasische Juden als Folge der Vertreibungen aus Westmitteleuropa – vielfältig. Auch wo religiöse Austauschbeziehungen personell begrenzt waren und Praktiken eher kleinräumig "wanderten", gab es doch Netzwerke aus "weak ties", die unter bestimmten Bedingungen über städtische Knoten zu weiträumigen und schnellen Austauschprozessen von Nachrichten und Texten führen konnten, wie der Chassidismus, die Bewegung von Shabtai Zvi (1626–1676)[],23 oder orthodoxe monastische Praktiken zeigen. Luxuswaren, die gerade auch in religiöse Deponierungen wie "Kirchenschätzen" zu finden sind oder als liturgisches Gerät Verwendung fanden, blieben von solchen Einschränkungen ohnehin unberührt. Maritime Austauschrouten folgten hier politischen und ökonomischen Logiken. Sekundäre Folge der Reconquista in Spanien war die Ausweitung von Netzwerken sephardischer Juden von Portugal bis nach Nordeuropa.
Deutlich zurück ging die Dynamik der "Heidenmission", der kirchlichen und – vor- oder nachlaufend – politischen Dominanz als religiös diametral entgegengesetzt konzeptualisierten Kulturen im Nordosten Europas, Preußens und Skandinaviens. Intensive Austauschprozesse sind auch hier sichtbar, bleiben aber vielfach lokal und gewinnen erst in den oben angesprochenen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts eine Dynamik auch aus der Peripherie heraus.
Religiöse Identität und Migration
Die Wechselwirkungen zwischen Emigrations- und Immigrationserfahrung einerseits und individuellen wie kollektiven religiösen Identitäten andererseits sind komplex. Für die Gegenwart sind sie zum Gegenstand intensiver, vor allem sozialwissenschaftlicher Forschung geworden. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse laden zu einem kritischen Umgang mit dem historiographischen Topos der religiös bedingten Migration ein, der seinerseits in der Form der biblischen Exodus-Erzählung hohe Präsenz in der religiösen Selbstdeutung und der europäischen Historiographie besaß.24 Der Eindruck einer permanenten Zugehörigkeit zu einer durch religiöse Geschichten, Vorstellungen, Ethos oder spezifisch religiöse Institutionen bestimmten Gemeinschaft – schon dieses sind alles Variablen – kann in der Zuschreibung wie in der eigenen Erfahrung sehr unterschiedlich ausgeprägt sein und kann Grade der Intensität, Kontinuität, Zentralität oder Exklusivität aufweisen.25 Weder schafft ein einzelnes Initiationsritual (Taufe, Beschneidung für Männer) noch selbst wiederholte Teilnahme an Ritualen eine permanent aktualisierte Zugehörigkeit. Unter diesen Bedingungen kann Religion Legitimationsressource für Emigration sein, ohne als Vektor der Immigration zu dienen – und umgekehrt. Am Zielort kann eine religiöse Identität verheimlicht oder getauscht werden, sie kann zur Konstruktion legitimer Differenz unter den Bedingungen religiöser Pluralität beitragen und dann neue Netzwerke eröffnen. Auch hier gilt, dass die "aspirations", die Migration antreiben, sich zu religiösen Motiven und Zielvorstellungen sehr unterschiedlich verhalten können.26
Unbestritten ist, dass unter dem dominierenden europäischen Religionsbegriff Religion soziales Kapital bedeutete, das gerade bei Migration in diasporisch lebenden religiösen Gruppen auch von großer wirtschaftlicher Bedeutung sein konnte (Jüdische Migration; Jainas). Zunehmende Territorialisierung und die Bedeutung religiöser bzw. konfessioneller Identitäten (ob zugeschrieben oder angeeignet) für die administrative Erfassung der Bevölkerung [] veränderten hier gegenüber religiös pluralen Räumen in bestimmten Regionen oder vielfach Hafenstädten und Knotenpunkten des Fernhandels (Venedig) die Rahmenbedingungen (konfessionelle Migration).
Medien und Institutionen
Religiöse Praxis ist überall möglich, greift aber vielfach auf eine Infrastruktur von sakralisierten Orten zur individuellen oder kollektiven Nutzung oder auf nicht sakralisierte, aber habitualisierte Versammlungsorte zurück. Letzteres bedingt in der Regel kurze Wege, ist also lokale Praktik; nur in Ausnahmefällen verbindet sich der Wunsch, bestimmte Orte zu nutzen, mit weiten Wegen, was als "Pilgern" bezeichnet wird. Das Aufsuchen etwa von Kathedralkirchen an wenigen Tagen im Jahr liegt dazwischen. Es sind spezifische Heilsgüter, Erleuchtung, Sündenvergebung, Gebetserhörung, Heilung, die von sehr entfernten Orten erwartet werden; typischerweise verbinden sich damit materielle Zeichen (s.u.), Heiligengräber (auch im Islam und Judentum), "Reliquien", wundertätige Bilder, Quellen. Möglichkeiten, sich solche Zeichen im Reliquienraub oder Gabentausch anzueignen, zu kopieren (Heilige Gräber/Jerusalem-Modelle wie in Görlitz) oder zu teilen (Berührungsreliquien, Knochenteilungen) wurden von Konkurrenzunternehmen gesucht und genutzt, was ebenso Zeichen bewegte wie für Besucherinnen und Besucher Wege kürzer und damit attraktiver machte. Orte wie die Praxis selbst unterlagen und unterliegen Konjunkturen; Reformation und Gegenreformation waren hindernde und begünstigende Faktoren, aber erst die Revolution der Fortbewegungsmittel, namentlich die Eisenbahn, ließ Pilgern seit den 1850er Jahren zu einem Massenphänomen werden.27
Fernwanderungen Einzelner wurden typischerweise auch durch eine schon mittelalterliche, in der Frühen Neuzeit dann zunehmend auch außerhalb des kirchlichen Raumes tretende Institution ausgelöst, durch "hohe Schulen" und jene "Universitäten", in denen nicht nur der Bedarf an Juristen für die entstehende stadtstaatliche und territorialstaatliche (aber auch kirchliche) Verwaltung gedeckt wurde, sondern in denen, wie in Paris oder Oxford, die Theologie als Königsdisziplin auftrat.28
Seit dem Mittelalter übernahm der große Kirchenbau, nicht nur als bischöfliche Kathedrale, die Funktion antiker Tempel oder Theater als Prestigebau von Kommunen. Das geschah oft genug am Rande der ökonomischen Möglichkeiten oder darüber hinaus, wie unvollendete Bauprojekte in kleinen wie großen Orten vom rheinischen Köln oder dem flämischen Lissewege (Ter Doest) bis zum benachbarten Damme im Norden Brügges zeigen. Architektur diesen Typs sicherte Sichtbarkeit nach außen; im Inneren wiederum barg ein solcher Ort die Möglichkeit, dem Prestigewettstreit der Einwohner bzw. der als Bürger Qualifizierten in Grabmälern oder Stiftungen sakralen Gerätes und Schmuckes Raum zu geben.29 Der in diesen Formen geführte Wettbewerb erzwang eine Wahrnehmung anderer Architekturen und Objekte und führte zu einer weiträumigen Bewegung von Experten und ihren Techniken und Materialien – im Zweifelsfall in der virtuellen Form der lokalen Imitation, etwa von Marmorstuck oder Marmormalerei auf Holz. "Stile" breiteten sich in diesen Medien schnell aus, die im Prestigewettbewerb wie einer spezifischen religiösen Heilsökonomik in besonderer Weise Ressourcen mobilisierten.30
Regionale oder überregionale Attraktivität durch wundertätige Reliquien oder Statuen konnten die Position entscheidend verbessern und zugleich zur gefährlichen Konkurrenz für Heiligtümer der Umgegend werden; die Epiphanie im Wald und der private Kapellenbau bedeutete auch eine partielle Entmachtung des lokalen Klerus.31 Reliquienraub, einvernehmliche -translation oder die Anlage großer "Heilthums"-Sammlungen (mit der entsprechenden Schau-Architektur)32 gingen auch in katholisch dominierten Regionen zurück, blieben aber neben neuen Epiphanieorten wie Fatima oder Lourdes bedeutsam als Auslöser religiös bedingter, zumeist temporärer, im Einzelfall auch dauerhafter Mobilität.
Ein zentrales Medium für religiöse Transfers wurde in der Frühen Neuzeit der Kalender.33 Liturgische Kalender waren in Antike wie Mittelalter – bei allen Versuchen von Vereinheitlichung wenigstens einiger großer Feste – lokale Praktiken und Dokumente gewesen. "Die" Reformation, die sich als ein Prozess lokaler Kirchen- und Liturgiereformen darstellte, hatte das weiter verschärft. Dem trat das Konzil von Trient (1545–1563) mit einer zentralistischen Reformagenda entgegen. Die Kalenderreform im Gefolge des Konzils (1582), die in heutiger Perspektive als technische Reform erscheint, bildete tatsächlich nur ein Teilprojekt der Einführung eines universalen, vor allem römisch formulierten liturgischen Kalenders. Im Kontext des Konfessionalisierungsprozesses seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert erfolgte darauf eine regional differenzierte Reaktion. Katholischerseits wurde die technische Reform übernommen, die Abschaffung lokaler Partikularitäten aber abgelehnt oder faktisch durch die erneute lokale Modifikation des Universalkalenders unterlaufen. Protestantische Staaten konnten sich erst, als diese Dissoziierung des technischen und liturgischen Reformvorhabens katholischerseits abgeschlossen war, seit 1700 zu einer Übernahme der nun nicht mehr primär religiös konnotierten Reform verstehen.34 Gleichwohl blieben Kalender – in immer größeren Auflagen gedruckt und vertrieben – ein Medium, das mit Informationen und Interpretationen (kurz: mit Wissen) aufgefüllt werden konnte und diese ebenso verbreitete wie Normen und Narrationen ("Kalendergeschichten").
Wie konfliktträchtig dieser Prozess im Einzelnen war, lässt sich gerade im Deutschen Reich ablesen, an Einfuhrverboten und Kalendermonopolen oder im bürgerkriegsartig eskalierenden Streit in Augsburg der Jahre 1582/1583 nach der Gregorianischen Kalenderreform. Hintergrund dieser Entwicklungen ist die Konsolidierung der prekären und oft kleinteiligen territorialen politischen Einheiten, die mit dem Ausbau einer lokalen und höfischen Festkultur einherging. In aufwändig inszenierten Feierlichkeiten, die in Umzügen, Vorführungen, Musik und Festmählern, aber auch liturgischen Inszenierungen und Feuerwerken von Versailles bis Dresden, von Venedig bis London die Ortsansässigen wie eigens Angereisten beeindruckten, wurde in besonderem Maße die Distinktion über den eigenen Ort hinaus gesucht. Entsprechend aufwändig wurde die exportorientierte mediale Repräsentation dieser Feste in Form von Gemälden, Medaillen und gedruckten Bilderbögen betrieben.35
Praktiken und Ideen
Die angesprochenen Medien verschafften den ihnen zugrundeliegenden Praktiken eine weitere, aber auch sekundäre Öffentlichkeit. Primär waren Rituale und die komplexen, als "Feste" bezeichneten Rituale auf Präsenz und Autopsie angelegt, und führten gerade damit zu Mobilität und Transfers, ob durch die involvierten Spezialistinnen und Spezialisten oder bloße Zuschauerinnen und Zuschauer. Es waren ganz unterschiedliche Personen und Rollenträger, die in solchen Ritualen zusammengebracht wurden, Initiatoren und geladene Gäste – etwa Delegationen anderer Städte, Verbündete oder Verwandte – nicht anders als Mitläufer und am Rande Stehende. Nicht nur allgemeine religiöse Feiern, sondern auch auf einzelne oder Gruppen bezogene Feste waren Anziehungspunkte: zahlreiche Bewohner oberitalienischer Städte säumten die Umzüge von Bruderschaften. Anschaulich werden die Formen der Integration im venezianischen Reisebericht des Thomas Coryate (1577–1617), der Zeuge eines jährlichen Dankfestes (10. Juli) zum Ende einer Pest wurde:
"Es war an einem Sonntag, an dem sich der Doge in seinem amtlichen Ornat, begleitet von den Senatoren in ihren Gewändern aus schwerem, rotem Damast und anderen angesehenen Persönlichkeiten, wie Gesandten und Ordensrittern, in diese Kirche begab, um die Messe zu hören und Gott zu loben. Zu diesem Fest schlägt man eine breite Brücke über das Wasser, die aus geschickt zusammengefügten Booten besteht, über die man Bretter legt, um dem Volk den Weg zur Kirche und zurück zu erleichtern. Diese Brücke erstreckte sich bald eine Meile lang von Ufer zu Ufer, und ich sah große Menschenmengen über sie in die Kirche strömen. Über der Kirchentür hing, von einer Seite zur anderen, eine große Girlande aus frischen, grünen Blättern … Das Dankesfest gipfelte hier in einer feierlichen Prozession, an der alle Orden und religiösen Gemeinschaften teilnahmen. Sie trafen sich hier mit ihren Kreuzen und Leuchtern, trugen sie in die Kirche und brachten sie dann wieder zurück an die gewohnten Plätze … An vielen Stellen der Stadt wurden allerlei Sorten von Wein ausgeschenkt und Kuchen und andere Leckereien verteilt."36
Hier kommt der rituellen Form der Prozession besondere Bedeutung zu. In geradezu aggressiver Weise konnte sie sich des öffentlichen Raumes bemächtigen, macht sich so aber zugleich auch angreifbar. Aus eben den Gebieten, in denen dies beiden Konfessionen gestattet war, ist z.B. das gegenseitige Stören von katholischen und protestantischen Prozessionen bekannt. Aber wichtiger noch ist in diesem Bericht der auktoriale Erzähler: Er ist es, der – paradigmatisch – mit seinem Text Kenntnisse fremder Praktiken verbreitete und zur Nachahmung einlud.
Letztere betraf auch alltäglichere religiöse Praktiken. Der Einsatz der schon antiken Orgel in christlichen Gottesdiensten und Kirchen hatte sich, aus Byzanz kommend, im Hoch- und Spätmittelalter als sehr anspruchsvolle und aufwändige Technik nur sehr allmählich verbreitet, wurde aber in der Frühen Neuzeit in weiten Teilen des lateinischen Christentums (auch über Europa hinaus) nahezu ubiquitär.37 Im 19. Jahrhundert finden Orgeln ihren Raum auch in jüdischen Synagogen. Christliche liturgische Gewänder wie Geräte wurden als Geschenke oder Auftragswerke quer durch Europa bewegt. Dasselbe gilt für christliche Praktiken des Umgangs mit der neuen "seelsorgerlichen" Herausforderung der inflationär wachsenden Industrie- und Großstädte.38
Universalismus und Globalisierung
Wechselseitige Wahrnehmung, materielle Importe, Bewegungen von Personen und die Nachahmung blieben weder auf den regionalen noch den europäischen Raum begrenzt. Jüdische, christliche und islamische Geschichtsbilder, ja ihre grundlegenden, kanonisierten Schriften verwiesen über den europäischen Raum hinaus in den östlichen Mittelmeerraum und das angrenzende Syrien und Arabien. Jüdische und christliche Ursprünge wurden in spanischen, irischen, skandinavischen oder russischen Erzählungen in Palästina und Ägypten verortet, in Cordoba wie Istanbul wurde auf die Entstehung der islamischen Umma in Mekka und Medina verwiesen. Narrative der frühislamischen Expansion und der Kreuzzüge wie ihre materiellen Relikte hielten die Idee und die Auswüchse religiös motivierter Expansion präsent und deuteten zugleich die eigene Geschichte als eine des geographischen Ausgriffs und der Migration. Eine solche Geschichte ließ sich beliebig in wie über Europa hinaus fortsetzen (Christliche/Katholische[]/ Protestantische Mission). In ihrer konzeptuellen Lösung von politischen Einheiten (bei aller gegenteiligen Praxis) wurde der Gedanke der "Weltreligionen" entwickelt, die allein auf den einzelnen Akteur und sein Gottesverhältnis bezogen und damit transkulturell zu verbreiten seien.39 Der Begriff wies ja programmatisch auf die Überwindung jeder ethnischen und räumlichen Beschränkung hin. Mit entsprechenden Akkommodationen, Anpassungen an lokale Sprachen und Gewohnheiten, die immer wieder Gegenstand heftiger und langanhaltender Kontroversen unter den europäischen Initiatoren solcher Aktivitäten – von den Jesuiten bis zu protestantischen Missionsgesellschaften – waren, ließen sich "Weltreligionen" auch weltweit verbreiten. Als Selbstdeutung, zumal christlicher Akteure, dominant, waren die von Anderen als "europäisch" identifizierten religiösen Vorstellungen und Praktiken in der europäischen Sicht damit gerade dieses nicht. Im Gegenteil, die eigene Position wurde als universal verstanden, die eigenen Praktiken und religiösen Vorstellungen als universalisierbar. Religiöse Differenz ließ sich damit leicht als zivilisatorisches Gefälle und zivilisatorischer (erzieherischer, medizinischer, juristischer) Auftrag interpretieren, auch wenn in Einzelfällen (und mit je begrenzter räumlicher und zeitlicher Reichweite) universalistische Interpretationen der eigenen Religion gegenteilige Konsequenzen zeitigen konnten (z.B. im paraguanischen Jesuitenstaat). In der Regel verband sich damit imperialer Ausgriff und selbst wirtschaftlicher Austausch über die Grenzen Europas (das für den islamischen Ausgriff nach Südasien und ins subsaharische Afrika einen wichtigen, aber nur einen Teil der eigenen Kernzone bildete) hinaus mit einem Transfer religiöser Ideen und Institutionen. Menschen und Objekte, wie sie am Artikelanfang als Grundelemente auch religiöser Transfergeschichte herausgestellt worden waren, unterlagen damit häufig mehrfachen Kodierungen bzw. Zuschreibungen, von denen die religiöse nur eine war.