Einleitung
Seit der Frühen Neuzeit und verstärkt seit dem 19. Jahrhundert haben Politiker, Wissenschaftler, Schriftsteller und Intellektuelle politische Konzepte entwickelt, die auf der Vorstellung der kulturellen und sprachlichen Einheit der Slawen beruhen, um das Verhältnis der Slavia zum Westen Europas, die Rolle Russlands und die Beziehungen der slawischen Nationen untereinander zu diskutieren und politische Konzepte zu formulieren.1 Der Panslawismus, der als Begriff 1826 erstmals von dem slowakischen Philologen Ján Herkel (1786–1853) verwendet wurde, um die Verwandtschaft der slawischen Sprachen zu bezeichnen, trat zunächst als kulturelle Bewegung tschechischer und slowakischer Gelehrter in Erscheinung. Diese wurden beeinflusst durch die Romantik im Allgemeinen sowie die Schriften Johann Gottfried Herders (1744–1803) im Besonderen. Dieser hatte bereits Ende des 18. Jahrhunderts in seinem berühmten "Slawenkapitel" ein ideales Bild von den Slawen als friedfertigen Botschaftern der Menschlichkeit gezeichnet, die in der Zukunft eine neue Weltkultur schaffen würden.2
Seine Ausführungen stießen in den folgenden Jahrzehnten auf ein breites Echo. Erinnert sei nur an die Bedeutung des slowakischen Dichters Ján Kollár (1793–1852)[] für die slawische Wiedergeburt. Von Herder beeinflusst waren des Weiteren die Slowaken Pavel Josef Šafárik (1795–1861) und L'udovit Štúr (1815–1856), die Tschechen Josef Dobrovský (1753–1829) und Josef Jungmann (1773–1847), der Slowene Jernej Kopitar (1780–1844) sowie der Serbe Vuk Karadžič (1787–1864) – allesamt Philologen und wichtige Reformer ihrer Muttersprachen. Das Interesse an der slawischen Kultur erfasste auch das geteilte Polen und die im europäischen Exil lebenden polnischen Intellektuellen und Politiker.
Die Vorstellung von der kulturellen Verbundenheit der Slawen, aus der auch eine politische Einheit erwachsen sollte, inspirierte im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts einen literarischen Panslawismus, dessen Protagonisten sich auf der Suche nach einer gemeinsamen slawischen Sprache und Literatur einer kritischen historisch-philologischen Methodik bedienten. Doch obwohl Herder die Slawen als eine Nation verstand, ist es eine Ironie der Geschichte, dass viele Intellektuelle in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan, die unter dem Vorzeichen des "Erwachens der Völker" von einem panslawistischen Gedanken ausgegangen waren, tatsächlich nur die eigene(n) nationale(n) Bewegung(en) förderten. Immer wieder wurde die ideologische Homogenität der "Slawischen Idee" überschätzt, die so unterschiedliche Phänomene wie den demokratischen Austroslawismus, den russozentrischen autoritären Panslawismus oder den föderalen Jugoslawismus umfasste.3 Ähnlich vielfältig ist die Anwendung des Identifikationsmodells der "Slavizität": Als "Vorstellung eines sämtliche Slawen oder Slawischsprachige in Raum und Zeit verbindenden Elements"4 fungiert es als politisches Legitimations- und Mobilisierungsinstrument, definiert das Profil zahlreicher Wissenschaftsdisziplinen und kann bis in die jüngste Vergangenheit als produktiver Mythos in Kunst, Literatur und Film angesehen werden.
Das lange 19. Jahrhundert – die "Slawische Idee" zwischen Autokratie und Nation
Von einer politischen Bewegung des Panslawismus, die auf die "Befreiung" der slawischen Völker und deren Vereinigung in einem "slawischen Staat" abzielte, kann erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts gesprochen werden. Insbesondere in der Habsburgermonarchie, in der slawische Aktivisten die Existenz ihrer Völker durch die Dominanz der Deutschen und Magyaren bedroht sahen, erfolgte dann jedoch eine rasche politische Mobilisierung. Als mittelbare Folge fand in Zusammenhang mit den europäischen revolutionären Bewegungen des Vormärz und der 1848er Revolution vom 2. bis 12. Juni 1848 in Prag der erste Slawenkongress statt. Die Tagung, an der unter der Leitung von František Palacký (1798–1876) bekannte Slawophile wie Pavel Jozef Šafárik und Anarchisten wie Michail Bakunin (1814–1876)[] teilnahmen, kann einerseits als osteuropäisches Pendant zu den zeitgenössischen westeuropäischen Bewegungen gelten, andererseits spielte sie aber auch bei der Artikulation "slawischer" Ansprüche gegenüber den jeweiligen Fremdherrschaften eine bedeutende Rolle.
Der Kongress wurde von den austro-slawistischen Initiatoren zwar in gewisser Weise dominiert, gleichwohl zeigten sich bereits hier die Ansprüche und Gegensätze der verschiedenen panslawistischen Gruppen: Die Tschechen forderten die Errichtung eines selbständigen Königreichs, bestehend aus Böhmen, Mähren und dem österreichischen Schlesien. Die Protagonisten der südslawischen kulturellen und politischen Bewegungen waren dagegen kaum angemessen vertreten. Die polnischen Abgesandten wiederum engagierten sich für einen polnisch-nationalen Messianismus, während der Russe Bakunin die Idee einer allslawischen Föderation vertrat. Von den meisten anderen russischen Vertretern wurde der Panslawismus allerdings zum All- oder Großrussentum erklärt sowie ein russischer Führungsanspruch in den kulturellen, politischen und staatlichen Programmen panslawistischer Bewegungen formuliert.
Trotz der Beteiligung russischer Delegierter an dem Prager Slawenkongress ging St. Petersburg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich auf Distanz zu panslawistischen Ideen. Der autoritär regierende Zar Nikolaus I. (1796–1855) brandmarkte die Panslawisten seines Landes als "Rebellen" und ließ sie von der Geheimpolizei überwachen, da er in ihren Ideen eine Bedrohung der Monarchie sah.5 1847, ein Jahr vor dem Slawenkongress in Prag, befahl er die Schließung der Bruderschaft der Heiligen Kyrill und Method, des Zentrums der panslawistischen Bewegung in Kiev.6 Tatsächlich vertraten viele Panslawisten regierungskritische Ideen. Insbesondere Bakunin, der die Ideale der Französischen Revolution für grundlegende Charakteristika des Slawentums hielt, hatte 1846 im Namen der Befreiung aller Slawen vom Zarenjoch zu einer polnisch-russischen Union aufgerufen.7 Für das Russische Reich, das sich als Gründungsmitglied der "Heiligen Allianz"8 zum Ziel gesetzt hatte, revolutionäre und nationalistische Bewegungen auf dem europäischen Kontinent zu bekämpfen, waren solche Ideen selbstverständlich vollkommen inakzeptabel. 9
Zwar hatte Michail Pogodin (1800–1875), in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer der führenden panslawistischen Ideologen Russlands, Zugang zum Hof und konnte in den Jahren 1838 und 1842 dem Zaren seine Ideen schriftlich vorstellen. Dieser zeigte sich der Idee, ein slawisches Reich zu schaffen, keinesfalls abgeneigt, doch vermied es St. Petersburg zumindest bis zur Niederlage im Krimkrieg (1853–1856), expansionistische Zielsetzungen mit panslawistischen Argumenten in Verbindung zu bringen. Vielmehr berief man sich in seinen Versuchen, auf dem Balkan den russischen Einfluss zu stärken, auf den gemeinsamen Glauben, der die christlich-orthodoxen Untertanen des osmanischen Sultans mit der großen "Beschützermacht" im Norden verbinde. Zar Nikolaus I. betonte, jegliche panslawistische oder nationalistische Bewegung abzulehnen, die die Souveräne des Kontinents, darunter auch die Dynastie der Osmanen, in Frage stellen könnte. Seine Interventionen auf dem Balkan dienten lediglich dazu, nationale Revolutionen zu verhindern, die auf die Slawen unter seiner eigenen Herrschaft, insbesondere die Polen, übergreifen könnten.10
Eine politische Instrumentalisierung des Panslawismus von Seiten des Zarenreichs fand erst nach dem Krimkrieg11 statt und trat in Form eines russischen Hegemonialanspruchs sowohl innen- als auch außenpolitisch in Erscheinung.12 So entstanden während der sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts unter der geistigen Führung von Michail Katkov (1818–1887) und Nikolaj Ignat'ev (1832–1908) die ersten (Pan-)Slawistischen Komitees. Diese empfahlen, dass das Russische Reich seine nationale Identität erneuern solle, indem es die Nationenbildung bei den slawischen und orthodoxen Völkern Mittel- und Osteuropas fördere und in ihrem Namen einen Kreuzzug gegen das Osmanische Reich und das Habsburgerreich führe.13
Als die Grenzziehungen des Wiener Kongresses revidiert wurden, konnte Russland seine jüngsten Rückschläge wettmachen, indem es seine Beziehungen zu den anderen slawischen und orthodoxen Völkern Europas vertiefte und sich um ein politisches Bündnis mit ihnen bemühte. Es gab eine inoffizielle Prämisse für diesen Vorschlag: Würden sich die nicht-russischen Slawen ins Zarenreich eingliedern, könnten sie die zahlenmäßige Dominanz der Slawen darin sicherstellen. Dies sollte aus der Sicht politisch liberaler Akteure im Zarenreich die Einführung einer slawisch dominierten Demokratieform, etwa durch eine Landesversammlung, erleichtern.14
Einer der Gründe für die Anziehungskraft des Panslawismus war, dass er, noch bevor er als eine Doktrin der Realpolitik formuliert worden war, eine Heilsbotschaft enthielt. Fedor Tjutčevs (1803–1873) 1849 verfasstes Gedicht "Russische Geographie" ist ein gutes Beispiel für dieses historische und religiöse Sendungsbewusstsein.15 Nikolaj Danilevskij (1822–1885) wandelte diese messianische Stimmung dann 1869 in seinem Buch Russland und Europa in eine kulturhistorisch fundierte Prophezeiung um. Er glaubte, dass die Zeit der romanisch-germanischen Vorherrschaft in Europa, das nun in Verderbtheit, Materialismus und inneren Zwist versunken sei, sich ihrem Ende nähere und durch die Dominanz der slawisch-orthodoxen Kultur abgelöst werde, die "eine organische Einheit repräsentiert, welche nicht auf Grund eines mehr oder weniger künstlichen Mechanismus aufrechterhalten wird, sondern durch ein tief wurzelndes Vertrauen des Volkes zum Zaren." Nach Danilevskijs Ansicht würde die neue slawische Zivilisation (mit der Hauptstadt Konstantinopel) die Errungenschaften ihrer Vorgängerinnen auf dem Gebiet der Religion (Israel), Kultur (Griechenland), der politischen Ordnung (Rom) und des sozioökonomischen Fortschritts (das moderne Europa) miteinander verbinden und durch einen spezifisch slawischen Sinn für soziale und ökonomische Gerechtigkeit ergänzen: "Diese vier Ströme werden sich auf den weiten Ebenen des Slawentums zu einem mächtigen Meer vereinen." Diese Vorstellung eines seinem Höhepunkt zustrebenden irdischen Reiches mit seiner Hauptstadt im "Zweiten Rom" rief den ursprünglichen Mythos des "Heiligen Russlands" ins Gedächtnis.16
Die politische panslawistische oder großrussische Abwehrhaltung gegen den "Westen Europas", die einen Zusammenschluss der (ost-)slawischen Völker befürwortete, verstärkte sich. Dies wurde auch beim zweiten Slawenkongress in Moskau 1867 ersichtlich, der nun vollends von russischen Delegierten dominiert wurde. Während mit dem "Ausgleich" zwischen Österreich und Ungarn die Doppelmonarchie entstand und in Paris die "Ligue internationale de la paix et de la liberté" mit dem Programm der "Vereinigten Staaten von Europa" gegründet wurde, bot der Slawenkongress dem Panslawismus erstmals ein Forum für praktische Machtpolitik. Michail Katkov forderte nachdrücklich, Russland solle eine ähnliche Rolle spielen wie Preußen in Deutschland und die Slawen in einem Staat vereinigen, da eine solche Kampagne "den Triumph des Nationalitätsprinzips vollenden und eine solide Grundlage für das heutige Kräfteverhältnis schaffen [würde]". Der Rektor der Moskauer Universität verkündete: "Vereinigen wir uns, wie Italien und Deutschland sich zu einem einzigen Staat zusammengeschlossen haben, und der Name der vereinigten Nation wird sein: Gigant!" Er forderte, dass "eine einzige Literatursprache alle Länder von der Adria und von Prag bis nach Archangel'sk und zum Pazifischen Ozean miteinander vereinen [möge;] und möge jede slawische Nation ungeachtet ihrer Religion diese Sprache als Mittel zur Verständigung mit den anderen annehmen."17 Es kann keinen Zweifel geben, dass er das Russische im Sinn hatte.
Nicht alle auf dem Kongress anwesenden Slawen waren bereit, die russische Hegemonie bedingungslos zu akzeptieren. Die wichtigsten tschechischen Wortführer, František Palacký und František Rieger (1818–1903), forderten eine Versöhnung zwischen Russland und Polen, bei der beide Seiten Zugeständnisse hätten machen müssen. Die russischen Delegierten blieben jedoch unnachgiebig. Diese Streitereien erhellen ein unvermeidliches Dilemma des damaligen Panslawismus, nämlich dass diejenigen, denen er angeblich dienen sollte, Hauptelemente seines Programms ablehnten und nicht zu einem russischen Staat gehören wollten. Besonders die katholischen Polen fühlten sich eher mit dem Westen verbunden und wollten eine russische Vorherrschaft nicht akzeptieren. Die polnische Frage und der Aufstand von 1863 fürten zu einer antipolnischen Rhetorik in Russland, die den Idealen des Panslawismus widersprach. Konservative Nationalisten spielten zwar immer noch mit panslawistischer Rhetorik; letztendlich hatten für sie jedoch imperiale Interessen Vorrang.18
Mit der Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 wurde der Panslawismus endgültig ein Mittel zur Eindämmung des deutschen Einflusses in Mittel-und Osteuropa und damit eine Doktrin der Realpolitik. General Rostislav Fadeev (1824–1883) etwa forderte, Russland solle es entweder auf einen Machtkampf mit dem deutschen Reich ankommen lassen und seine slawischen Verbindungen nutzen, um Österreich, den Verbündeten Deutschlands, zu schwächen, oder sich hinter den Dnjepr zurückziehen und eine vorwiegend asiatische Macht werden: "Slawentum oder Asien", pflegte er zu russischen Diplomaten zu sagen. Mit Unterstützung der slawischen Völker stünde der Eroberung Konstantinopels, das zu einer slawischen Stadt erklärt werden solle, nichts mehr im Wege. Der Panslawismus war für General Fadeev eine Voraussetzung dafür, dass Russland eine europäische Großmacht blieb.19
Nach wie vor dominierte am Petersburger Hof jedoch die Distanz zu panslawistischen Ideen, und Fadeev wurde aus dem aktiven Dienst entlassen. Schließlich untergruben derartige Ansichten die Legitimität der Monarchie, die der Zarenhof seit der Französischen Revolution verteidigte. Die offizielle Meinung des Außenministeriums war, dass Russland mit dem Deutschen Reich und Österreich zusammenarbeiten sollte, um die Unabsetzbarkeit von Monarchen zu bekräftigen, den revolutionären Bewegungen entgegenzuwirken und für ein stabiles Kräftegleichgewicht zu sorgen. Die russische Regierung konnte den Panslawismus somit nie konsequent vertreten; denn der expansionistische Unterton einer solchen Politik hätte unvermeidlich zum Krieg gegen das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie, wenn nicht gar gegen alle europäischen Mächte, geführt. Außerdem war der Panslawismus in seiner letzten Konsequenz eine revolutionäre Strategie, die gegen souveräne Staaten gerichtet war. Die Unterstützung eines aufrührerischen Nationalismus war für das Russische Reich somit zumindest ein zweischneidiges Schwert.20
Der Aufstand der christlichen Bauern gegen die Osmanen in Bosnien und der Herzegowina (1875) sowie vor allem die Aktivitäten bulgarischer Freischärler gegen das Osmanische Reich (1876) führten im darauf folgenden Jahr zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen Russland und der Hohen Pforte. Diese lieferten ideale Rahmenbedingungen für eine panslawistische Agitation und setzten die russische Regierung unter Handlungsdruck. Offiziere, Damen der Gesellschaft und Kaufleute gründeten slawische Wohltätigkeitskomitees, die Treffen abhielten, Geld sammelten und sogar Freiwillige zum Kampf in der serbischen Armee entsandten, nachdem Serbien und Montenegro dem Osmanischen Reich 1876 den Krieg erklärt hatten. Fedor Dostoevskij (1821–1881) pries den Krieg gegen die Türken als Mittel zur Erreichung des "ewigen Friedens";21 Petr Il'ič Čajkovskij (1840–1893) komponierte seinen "Slawischen Marsch" (1876) mit Bezug auf den Serbisch-Osmanischen Krieg. Die Regierung unterstützte die serbischen Bemühungen schließlich, indem sie russischen Offizieren und Soldaten gestattete, Urlaub zu nehmen, um als Freiwillige in der serbischen Armee zu dienen. Unter ihnen befand sich Fadeevs Freund, General Michail Černjaev (1828–1898), der bald ein Held der Panslawisten wurde.22 Dessen Versuch, die "slawischen Brüder" auf dem Balkan vom "türkischen Joch" zu befreien, scheiterte indes kläglich, und der damalige russische Innenminister Petr Valuev (1815–1890) mokierte sich in seinen Tagebüchern über die "slawophile Onanie" seiner panslawistisch inspirierten Zeitgenossen.23
Durch die Niederlage der Serben geriet die russische Regierung in ein Dilemma. Zusammen mit anderen europäischen Mächten drängte sie das Osmanische Reich, Reformen durchzuführen, um die Ursachen des Aufstandes zu beseitigen. Doch die Hohe Pforte widersetzte sich den Vorschlägen, so dass das Russische Reich schließlich dem Sultan den Krieg erklärte, nicht zuletzt um seinen Einfluss auf dem Balkan nicht zu verlieren. Auf einer Versammlung des Slawischen Wohltätigkeitsvereins bezeichnete der Schriftsteller Ivan Aksakov (1823–1886) den russisch-osmanischen Krieg als eine "historische Notwendigkeit" und fügte hinzu: "Das Volk hat noch nie einen Krieg mit einer so bewussten Sympathie betrachtet."24 Der Krieg fand bei der bäuerlichen Bevölkerung tatsächlich starke Unterstützung. Ein Starost' (Dorfältester) aus dem Smolensker Gebiet erzählte später, dass die Leute in seinem Dorf verwundert fragten: "Warum lässt unser Vater Zar zu, dass sein Volk unter den ungläubigen Türken leidet?", und Russlands Eintritt in den Krieg erleichtert und zufrieden zur Kenntnis nahmen.25 So oder so stellten die Bauern die meisten Freiwilligen, aber auch Hilfe in Form von Geld, Lebensmitteln und Arbeitskräften stammte meistens von ihnen.
Unabhängig von der Stimmung im Volk war die russische Regierung nicht geneigt, den im Krieg gegen die Osmanen schließlich errungenen Sieg so weit auszunutzen, dass das europäische Kräftegleichgewicht gefährdet würde. Im Vorfrieden von San Stefano, den Russland mit der Hohen Pforte im März 1878 unterzeichnete, setzte es Reformen im Osmanischen Reich durch und erwirkte die Schaffung eines bulgarischen Vasallenstaates, der fast ganz Makedonien umfasste und damit Russland Zugang zur Ägäis verschafft hätte. Als jedoch die anderen europäischen Staaten Einsprüche gegen eine solche Ausdehnung des russischen Einflusses auf den Balkan erhoben, wich das russische Außenministerium zurück und stimmte Verhandlungen auf einem internationalen Kongress im Sommer desselben Jahres in Berlin zu. Dort wurde das Kräftegleichgewicht zwischen den europäischen Mächten wiederhergestellt, und die Grenzen wurden neu festgelegt: Bulgarien wurde verkleinert und in das Vasallenfürstentum Bulgarien sowie die autonome Provinz Ostrumelien aufgeteilt. Makedonien verblieb unter osmanischer Herrschaft, und die europäischen Mächte übernahmen an Stelle von Russland die "Garantie" für Reformen im "Imperium der Kontinente". Obwohl der Berliner Kongress als "eine offene Verschwörung gegen das russische Volk, die unter Teilnahme der Vertreter Russlands durchgeführt wurde", angeprangert wurde,26 konnte Russland so das im Krimkrieg verlorene Bessarabien – und damit seine Machtstellung an der Donaumündung – wiedererlangen. Außerdem erhielt es wichtige Gebiete im Kaukasus, einschließlich des Hafens von Batumi, der für die expandierende Erdölindustrie von entscheidender Bedeutung war. Verglichen mit den glänzenden, aber nicht haltbaren Resultaten von San Stefano waren diese Gewinne in den Augen der Panslawisten jedoch unbedeutend.27
Obwohl der Panslawismus in den gebildeten Schichten und der Presse beträchtlichen Anklang fand, blieb er den meisten einfachen Russen unzugänglich, auch wenn in ihm eine Idee des sozialen Protests vorhanden war. Alles in allem war der Panslawismus für ein Vielvölkerreich, das Demokratie, Krieg und ethnische Konflikte fürchtete, schlecht geeignet und wurde daher nie zur Grundlage der offiziellen Politik. Zudem schwelte unter den russischen Nationalisten der Konflikt zwischen denjenigen, die eine Nationsbildung im Innern befürworteten, und jenen, die eine russische Expansion herbeisehnten. Der missionarische Zug des russischen Panslawismus schrieb den Russen eine Sonderstellung als Primus der slawischen Völker, als ihr Beschützer und Befreier zu.28
In diesem Zusammenhang wurde die mittelalterliche deutsche Ostsiedlung von der russischen Geschichtswissenschaft und der panslawistischen Publizistik häufig mit dem weltanschaulichen Streit zwischen "östlicher" Orthodoxie und "westlichem" Katholizismus verknüpft, in dem die "nach Osten drängenden" Deutschen die aggressive germanisch-romanische Kraft und den Expansionswillen der römischen Kirche verkörperten. In diesem Kräftemessen sah man die slawischen Kulturen folglich als Verbündete der russischen Orthodoxie, deren Zukunft völlig von der (einzigen) slawischen Großmacht Russland abhängig sei. Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts nutzten Vertreter imperialer Ansprüche im Zarenreich das politische Schlagwort vom "deutschen Drang nach Osten" bewusst als Instrument, um ihre außenpolitischen Ziele durchzusetzen. Sie legitimierten so das vermeintlich "historische Recht" des russischen Imperiums auf die Rolle des Beschützers aller slawischen Brüder (insbesondere auf dem Balkan) und beanspruchten einen freien Zugang vom Schwarzen Meer zum Mittelmeer. Der Topos von einem deutschen "Drang nach Osten" blieb in ideologisch entsprechend umcodierter Form auch in der sowjetischen Historiographie virulent und erlebte noch zu Zeiten des Kalten Krieges seine periodischen Neuauflagen als Angstbild vor einer (west-)deutschen Ostexpansion.29
Vom Zarenreich zur Sowjetmacht – Panslawismus als imperiale Idee
Im 20. Jahrhundert trat die "Slawische Idee" in Russland in drei Varianten auf: als Neo-Slawismus des späten Zarenreiches, als panslawistische Rhetorik im Hochstalinismus und als Splitter in der postsowjetischen Suche nach einer neuen russischen Nationalidentität. Die Protagonisten beriefen sich jeweils auf den Panslawismus des alten Zarenreiches.
Der Versuch einer russischen Expansion in Fernost endete mit der militärischen Niederlage gegen Japan im Herbst 1905, so dass sich die russische Außenpolitik wieder auf Europa konzentrierte. Auch das Interesse am Balkan kehrte zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg spielte die panslawistische Idee zwar keine dominante, aber eine bedeutende Rolle im gesellschaftlichen Leben des europäischen Teils des Zarenreiches. In zahlreichen Städten – besonders in St. Petersburg und Moskau – existierten weiterhin Vereine, die sich mit dem Thema beschäftigten. Auch in der Wissenschaft, der Publizistik und der Debatte über die imperiale Außenpolitik wurde panslawistisch argumentiert.
Um die Jahrhundertwende war versucht worden, diese imperial-hegemonistische Konzeption durch die Kompromissformel vom "Eurasismus"30 zu entschärfen und in Richtung zeitgenössischer westeuropäischer Vorstellungen, etwa der Idee von "Pan-Europa", zu modifizieren. Auch der zwischenzeitlich auftretende Neo-Slawismus kann als Wiederbelebungsversuch der inzwischen immer bedeutungsloser gewordenen panslawistischen Bewegung gelten. Vertreter fanden sich unter den russischen liberalen Kadetten (z.B. Pavel Miljukov (1859–1943)), den polnischen Nationaldemokraten (z.B. Roman Dmowski (1864–1939)) sowie den Jungtschechen (z.B. Karel Kramár (1860–1937)). Unter diesen Vorzeichen fanden der dritte Slawenkongress 1908 in Prag und der vierte 1910 in Sofia statt. Im Zuge der (groß)russischen Führungsansprüche in der neo-slawistischen Bewegung wurden teilweise unverhohlen die zu Beginn des 19. Jahrhunderts von dem erzkonservativen russischen Bildungsminister Sergej Uvarov (1786–1855) formulierten Prinzipien "Orthodoxie, Autokratie, Volkstümlichkeit" als Leitideen propagiert.31
Trotzdem wahrte die offizielle Petersburger Politik nach wie vor Distanz zu den panslawistischen Strömungen. Die Regierung Nikolajs II. (1868–1918) bevorzugte einen nach innen gewandten Slawismus, eine Idealisierung der Rus' und ihrer Hauptstadt Moskau vor der Regierungszeit Peters des Großen (1672–1725).32 Allerdings griff im Sommer 1914 auch der Zar auf die panslawistische Ideologie zurück, als die Solidarität mit Serbien zum Eintritt des Russischen Reiches in den Ersten Weltkrieg führte.
Mit Vladimir Il'ič Lenin (1870–1924) kam durch die Oktoberrevolution und den Bürgerkrieg ein Vertreter der radikalen "intelligencija" an die Macht, der für die panslawistischen Träume der russischen Nationalisten nur Verachtung empfand und den "großrussischen Imperialismus" als "reaktionäre Ideologie" bezeichnete.33 Für die Außenpolitik der jungen Sowjetunion spielte die panslawistische Idee in den Jahren nach der Revolution daher keine Rolle. Die slawischen Staaten, die im Zuge der Pariser Friedensordnung (1919) entstanden waren, orientierten sich wiederum nach Westen und bildeten so einen antisowjetischen "cordon sanitaire".
Erst mit der Herrschaft Iosif V. Stalins (1879–1953) verabschiedete sich die Sowjetunion von ihrer internationalistischen Mission. Seit der Mitte der 1930er Jahre vollzog sich ein Wandel in ihrer Selbstbeschreibung, indem die Abneigung gegen das alte Russland, die Lenin und die Bolschewiki seiner Generation geprägt hatte, vom Stolz auf jene Aspekte der russischen Vergangenheit ersetzt wurde, die im Stalinismus als positiv galten.34 Die panslawistische Propaganda der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg war demnach nicht ausschließlich eine Reaktion auf den deutschen Überfall im Juni 1941. Überlegungen zu einer "slawischen Richtung" in der Außenpolitik waren bereits vorher angestellt wurden, und das Regime nutzte etwa im September 1939 Versatzstücke des panslawistischen Repertoires zur Rechtfertigung des sowjetischen Einmarsches in Polen.35 Nach dem deutschen Überfall am 22. Juni 1941 griff die sowjetische Regierung zur Mobilisierung der eigenen Bevölkerung und gegenüber den (besetzten) Staaten Europas aber massiv auf panslawistische Rhetorik zurück.36
Das Hauptaugenmerk galt hierbei den West- und Südslawen. Selbst die Polen, die seit 1920 regelmäßig zur "Feindnation" erklärt worden waren, standen jetzt neben Russland in der imaginierten Front gegen den Faschismus. Im September 1941 bereitete der Bulgare Georgi Dimitrov (1882–1949), Vorsitzender der Kommunistischen Internationale (Komintern), zusammen mit dem Schriftsteller Aleksandr Fadeev (1901–1956) die Gründung eines slawischen Komitees vor, das aus einer Reihe sowjetischer Militärs und Intellektueller sowie Vertretern slawischer Länder bestand. Ab 1942 diskutierte auch die von Dimitrov herausgegebene Zeitschrift Slavjane ("Die Slawen") die Themen des sowjetischen Panslawismus.37
Für die sowjetische Panslawismus-Propaganda erwies sich zudem die Broschüre Barba slavianskich narodov protiv germanskovo fašisma ("Der Kampf der slawischen Völker gegen den deutschen Faschismus") von Emel'jan Jaroslavskij (1878–1943) aus dem Jahre 1941 als tonangebend,38 die die Sowjetunion mit dem Russischen Imperium in Verbindung brachte, indem sie beide als eine slawische Macht mit russischem Kern präsentierte. In diesem Sinne verwendete Jaroslavskij auch die Adjektive "russisch" und "sowjetisch" synonym und instrumentalisierte die gemeinsame Kultur und Geschichte, die das russische Volk seiner Meinung nach mit "Tschechoslowaken", Polen, Bulgaren und "Jugoslawen" verbinde, um eine "slawische Front gegen den Faschismus" auszurufen. Ost-, West- und Südslawen waren für ihn eine Leidens- bzw. Kampfgemeinschaft.
Auf ähnliche Weise zog 1944 der Schriftsteller Vsevolod Ivanov (1895–1963) in der Zeitung Slavjane eine Kontinuitätslinie zwischen vorkommunistischem und bolschewistischem Russland. Er wies auf das historische Vermächtnis des russischen Volkes hin, das seit der Ära des Nationalhelden Aleksandr Nevskij (ca. 1220–1263) die slawischen Interessen verteidigen müsse. Für die Zeit nach dem Sieg über den Faschismus prophezeite er den "slawischen Brüdern" in Europa die historisch notwendige Vereinigung unter der Obhut des sowjetischen Russlands. Selbst der gebürtige Georgier Stalin appellierte während des Krieges regelmäßig an die slawische Solidarität im Kampf gegen den deutschen Faschismus und bediente sich dabei gern panslawistischer Parolen.39
Die Wirkmächtigkeit der panslawistischen Rhetorik im Zweiten Weltkrieg lässt sich indes nicht abschließend bestimmen, zumal sie von Land zu Land variierte. Ihr Ziel lässt sich jedoch klar benennen: die Mobilisierung für den Krieg, sowohl im Innern als auch außerhalb der Sowjetunion. Generell fügte sich der sowjetische Panslawismus in das Denken in ethnischen Kategorien ein, das im Stalinismus der 1930er Jahre an Gewicht gewann. Somit kann die Renaissance panslawistischen Gedankengutes als Teil der selektiven Aufwertung verschiedener geschichtspolitisch relevanter Topoi aus dem Zarenreich gewertet werden. Auch passte die Selbstdarstellung der Sowjetunion als "slawische Großmacht" zum Konzept der "Volksfront", welches die Komintern seit der Mitte der 1930er Jahre verfolgte: Statt der internationalistischen Utopie sollte die nationale Mission im Mittelpunkt der Agitation stehen.
Im Spiegel des Westens – Panslawismus als Bedrohungsszenario im 19. Jahrhundert
Obgleich es die Westslawen der Donaumonarchie waren, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Idee der slawischen Gemeinschaft propagierten und slawische Vereinigungspläne schmiedeten, wurde im nicht-slawischsprachigen Europa das panslawistische Gedankengut dem russischen Zaren zugeschrieben. In zahlreichen Streitschriften, Reiseberichten und politischen Abhandlungen dieser Zeit wurde Russland als eine barbarisch-asiatische und despotische Macht beschrieben, die eine Bedrohung für das "zivilisierte" Europa und dessen freiheitliche Kultur darstelle. Die Gefahr, dass das Zarenreich expandieren könnte, wurde unter dem Begriff "russischer Panslawismus" zusammengefasst und mit dem sogenannten "Testament" Peters des Großen belegt, das Ausweitungspläne in Hinsicht auf die Ostsee, das Schwarze Meer, Südosteuropa und die Levante beinhalten sollte.
Zwar handelte es sich bei dem "Testament" um eine 1828 entlarvte Fälschung polnischer, ungarischer und ukrainischer Provenienz aus den frühen 1700er Jahren, aber seine Verbreitung und Wirkung war zunächst groß. Keineswegs zufällig veröffentlichten die Franzosen das Dokument, das sie seit den 1760er Jahren im Archiv ihres Außenministeriums gelagert hatten, erstmals 1812, im Jahre des Feldzugs von Napoleon Bonaparte (1769–1821) gegen Russland.40 Auch viele Briten, deren bereits bestehende Russophobie nach dem beeindruckenden Sieg Russlands über Napoleon stark zunahm, warnten in antirussischen Pamphleten vor der panslawistischen Bedrohung und plädierten für einen Präventivschlag gegen das Zarenreich.41 Nach der brutalen Niederschlagung des polnischen Aufstands 1831 durch die zaristische Armee riefen Teile der britischen Öffentlichkeit zum Krieg gegen die "moskowitischen Barbaren" und die "Barbarenhorden Russlands" auf.42
Deutsche Nationalisten wiederum betrachteten den russischen Panslawismus als eines der größten Hindernisse auf dem Weg zur nationalen Einheit und territorialen Erweiterung in Richtung Osten. Die ersten deutschen imperialistischen Pläne wurden um die 1830er Jahre von Friedrich List (1789–1846) konzipiert, der von einem "germanisch-magyarischen östlichen Reich" träumte, das einerseits vom Schwarzen, andererseits vom Adriatischen Meer umgeben und von "deutschem und ungarischem Geist" beseelt wäre. Russland betrachtete er als ein Hindernis, das es aus dem Weg zu räumen galt, um diese Pläne zu realisieren.43 Aber auch andere Vertreter des liberalen, deutsch-gesinnten Bürgertums verbanden um das Revolutionsjahr 1848 ihren Imperialismus mit einem ausgeprägten Anti-(Pan)-Slawismus, der zudem bei der deutschen Nationalversammlung von 1848 in Frankfurt am Main intensiv diskutiert wurde. Zuvor hatten die Panslawisten auf ihrem Slawenkongress am 2. Juni 1848 in Prag eine Einverleibung in ein großdeutsches Reich kategorisch abgelehnt.
In die Panslawismus-Debatte der späten 1840er Jahre schaltete sich auch Friedrich Engels (1820–1895) ein, dessen Einschätzung der russischen Gefahr nicht nur mit der der Nationalversammlung, sondern auch mit der Ansicht von Karl Marx (1818–1883) übereinstimmte. Obgleich der Panslawismus "nicht in Russland oder in Polen, sondern in Prag und in Agram" entstanden sei und ursprünglich die "Allianz aller kleinen slawischen Nationen und Natiönchen Österreichs" dargestellt habe, sah Engels hinter diesem Konzept nun eine vorwiegend von Russland ausgehende Gefahr. "Der direkte Zweck des Panslawismus" war ihm zufolge "die Herstellung eines slawischen Reiches vom Erzgebirge und den Karpaten bis ans Schwarze, Ägäische und Adriatische Meer unter russischer Botmäßigkeit".44 Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte sich schließlich in der deutschen Öffentlichkeit die Überzeugung gefestigt, dass der Weg zur "Weltherrschaft" über das östliche Europa führe und dies einen Krieg gegen die Slawen erfordere.45
Wer regiert Byzanz? Pan-Hellenismus vs. Panslawismus in Südosteuropa
Dasselbe panslawistische Feindbild beeinflusste auch die griechischen Verfechter der "Wiederherstellung" eines hellenisch-dominierten Byzantinischen Reiches in Südosteuropa. Der Ausbruch des Krimkriegs 1853 löste in der Öffentlichkeit des erst 1830 gegründeten Königreichs Griechenland eine erregte Debatte über die Rolle Russlands auf dem Balkan aus – insbesondere in Hinsicht auf den Anspruch von St. Petersburg, als Schutzmacht des griechisch-orthodoxen millet46 des Osmanischen Reiches zu fungieren. Während das russophile Lager hoffte, Südosteuropa mit Hilfe des Zaren vom "türkischen Joch" zu befreien und Griechenland in Richtung Norden zu erweitern, sah die Gegenseite darin eine "panslawistische Bedrohung" für die hellenische Vormachtsstellung in der Region. Daraus zog man im pro-westlichen Lager den Schluss, dass das weitere Bestehen des Osmanischen Reiches nicht nur für Großbritannien und Frankreich, sondern auch für Griechenland wünschenswert sei. Sollte allerdings die Bedrohung durch die panslawistische "Moskauer Sintflut" wieder nachlassen, dann sei damit zu rechnen, dass sich Bulgaren und Serben sowie die nicht-slawischsprachigen Albaner und Walachen für ein "neues" Byzantinisches Reich unter griechischer Vorherrschaft aussprechen würden.47
Die griechische Feindseligkeit gegenüber dem vermeintlich von Russland aus gesteuerten Panslawismus nahm in den kommenden Jahrzehnten enorm zu, vor allem aufgrund der Eskalation der Makedonischen Frage, also des Konflikts zwischen Griechen, Bulgaren und Serben über die Aufteilung der zentralbalkanischen, unter osmanischer Herrschaft stehenden Region Makedonien. Die Entscheidung des Sultans Abdülaziz (1830–1876)[], den bulgarischen Forderungen nach der Gründung einer eigenständigen Kirchenorganisation 1870 nachzukommen, und der darauffolgende Bruch des neu gegründeten bulgarischen Exarchats mit dem Konstantinopeler Ökumenischen Patriarchat schürten weitere Konflikte.48 Ein aussagekräftiges Beispiel dafür, wie man in Griechenland über die bulgarische Emanzipation von den griechischen Einflüssen, die Rolle Russlands dabei und die in engster Verbindung dazu stehende Makedonische Frage dachte, ist das Buch I Ellas kai o Panslavismos ("Griechenland und der Panslawismus", 1869) von Vlasios Gavriilidis (1848–1920), dem "Vater" des modernen griechischen Journalismus. Der Autor bezeichnet darin den russischen Panslawismus als "gnadenlosen Feind" des Griechentums, der seit der Gründung des neugriechischen Staates im Dienste Russlands an dessen Zerstörung arbeite.49
Auch die Ungarn und die Rumänen des 19. Jahrhunderts fürchteten die panslawistische Gefahr. Im Fall der ungarischen Nationalisten war diese Angst nicht nur die Folge der starken südslawischen und russischen Beteilung an der Unterdrückung des ungarischen Aufstands von 1848, sondern auch der slowakischen Unabhängigkeitsbestrebungen nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867. Den ungarischen Argwohn erregten insbesondere die panslawistischen Pläne tschechischer und slowakischer Nationalisten, die ab Anfang des 20. Jahrhunderts die Gründung einer tschechoslowakischen Union forderten, entweder als drittes gleichberechtigtes Staatsgebilde neben Österreich und Ungarn innerhalb einer föderalisierten Donaumonarchie oder gar als unabhängiger Staat.50 Vor allem in Oberungarn, der späteren Slowakei, registrierten die Behörden ab 1900 eine zunehmende panslawistische Tätigkeit der dortigen slowakischen Nationalisten.51
In Rumänien wiederum hinterließen die wiederholten russischen Einfälle in Bessarabien, die zaristische Besetzung dieser Provinz 1806 und die 1812 folgende Annexion ein tiefes Trauma. Vor allem die russischen Gewaltexzesse während des Einmarsches von 1806 prägten sich ins kollektive Gedächtnis der Rumänen ein. Karl Marx malte 1860 in einem für die New York Tribune verfassten und niemals veröffentlichten Bericht auf der Basis rumänischer Aussagen ein Bild des Grauens von den Ereignissen 1806:
Es gab grausame Exzesse, Zwangsabgaben aller Art, Frondienste, Diebstahl, Mord. … Männer und Frauen wurden vor Wagen gespannt, die Kosaken waren Kutscher und sparten nicht mit Stockhieben. Mehr als 30 000 Rumänen wurden aus der Feldarbeit herausgerissen, um als Arbeitsvieh zu dienen. … Nie hat eine schrecklichere Vernichtung stattgefunden. Eine riesige Plünderung, Diebstahl durch Offiziere, Barbarei durch russische Soldaten.52
Der Fall Italien: Imperiale Visionen, Slawenfeindlichkeit und der Streit um Triest
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rief der Konkurrenzkampf mit den Südslawen um Julisch-Venetien auch unter italienischen Nationalisten anti-slawische Gefühle hervor. Wie die griechischen Imperialisten von einem Byzantinischen Reich träumten, so strebte man im 1861 gegründeten Königreich Italien einen zukünftigen Staat von der Größe und Stärke des altrömischen Imperiums an. Der territorialen Erweiterung Italiens auf Julisch-Venetien, das die italienischen Irredentisten in kultureller, ökonomischer und politischer Hinsicht zu Italien rechneten, standen allerdings zwei Hindernisse im Weg: das Habsburgerreich, unter dessen Herrschaft sich die Region befand, und die südslawische Bevölkerung, die seit Jahrhunderten dort ansässig war und innerhalb derer sich seit den späten 1870er Jahren eigenständige Nationalbewegungen gebildet hatten. Für glühende Verfechter der Inkorporation Julisch-Venetiens in Italien, wie z.B. die Journalisten der nationalistischen Triester Zeitung Il Piccolo, waren in den späten 1870er Jahren die Slawen eine "semi-barbarische Bauernbevölkerung", die trotz ihrer "rassischen Minderwertigkeit" eine große Gefahr für den italienischen Charakter Istriens darstellte. Insbesondere beschuldigte man die adriatischen Südslawen, auf heimtückische Art und Weise eine "panslawistische Bewegung" gegründet zu haben, um die nördlichen Adria-Gebiete zu de-italianisieren bzw. zu slawisieren.53
Als in der Folge des Ersten Weltkriegs Triest und die istrische Halbinsel in das Königreich Italien inkorporiert wurden, sah sich Italien mit dem Problem einer großen slawischsprachigen Minderheit in den neu eingegliederten Territorien konfrontiert. Zudem grenzte das 1918 in Belgrad proklamierte Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen direkt an diese Gebiete an und unterstützte irredentistische Organisationen und Exilvereinigungen der julischen Slowenen und Kroaten. Die Machtübernahme durch die Faschisten Benito Mussolinis (1883–1945) 1922 hatte die Radikalisierung der italienischen slavofobia und der Politik der italianizzazione forzata (Zwangsitalianisierung) zur Folge. Durch die Verbannung des Slawischen aus staatlichen Institutionen und Schulen, das Verbot slawischsprachiger Zeitungen und Bücher, die Italianisierung von Ortschaften, Plätzen, Straßen und slawisch klingender Namen sowie den ökonomischen Druck auf slawische Bauernfamilien und Kleinbesitzer zielte Rom auf die De-Slawisierung seiner slowenischen und kroatischen Staatsbürger oder auf deren Auswanderung ab.54 Die Organisation der "Schwarzhemden" Mussolinis in Triest, deren Faschismus laut dem sozialistischen Zeitgenossen Giovanni Zibordi (1870–1943) vorwiegend "nationalistisch und antislawisch" geprägt war, verübte zudem terroristische Anschläge auf die slawische Bevölkerung. Mussolini selbst betonte im September 1920, "dass man gegenüber einer minderwertigen und barbarischen Rasse wie der der Slawen keine Politik des Zuckerbrotes, sondern der Peitsche betreiben" müsse.55
Ein neues, altes Feindbild? Das Gespenst des "Slawokommunismus" an Adria und Ägäis
Zur Zeit des Zweiten Weltkrieges erfolgte in Italien eine weitere Radikalisierung des faschistischen Anti-Slawismus, dessen Verfechter zunehmend den "slawischen Feind" mit dem "kommunistischen" identifizierten. Diese Verschmelzung der Feindbilder im Italien der 1940er Jahre spiegelte sich in dem Neologismus "Slawokommunismus" (slavocommunismo) eindrücklich wieder. Damit waren die slowenischen und kroatischen Partisanen von Marschall Josip Broz (1892–1980), genannt Tito, in der Adria-Region gemeint, die in das italienische Territorium expandieren wollten.56 Laut slowenisch-kommunistischen Vorstellungen sollte nach Kriegsende in der Tat ein "vereintes Slowenien" im Rahmen eines sozialistisch-föderativen Jugoslawien entstehen, dem auch Gebiete westlich des Flusses Isonzo (Soča) anzugliedern gewesen wären. Die kroatischen Kommunisten planten ihrerseits die zukünftige Annexion Istriens durch eine jugoslawische Volksrepublik Kroatien und kündigten bereits einige Tage nach der italienischen Kapitulation vor den westlichen Alliierten am 8. September 1943 dieses Ziel öffentlich an.57
Insbesondere Mussolinis norditalienische Repubblica Sociale Italiana (RSI) versuchte unter Berufung auf das "slawische Schreckgespenst", die italienische Bevölkerung, vor allem in Julisch-Venetien und auf der istrischen Halbinsel, für die faschistische Sache (zurück-) zu gewinnen. In diesem Zusammenhang wurden die foibe ab Mitte 1943 zum Symbol slawokommunistischer Grausamkeit stilisiert. Es handelt sich hierbei um die zahlreichen Schlünde im Kalkgestein Istriens und des Triester Karsts, in denen die Tito-Partisanen nach der Entmachtung Mussolinis im September / Oktober 1943 sowie nach dem Ende der deutschen Besatzung im Mai / Juni 1945 Hunderte, vielleicht sogar Tausende tatsächliche oder auch nur vermeintliche Faschisten hinrichten und verschwinden ließen.58
Aufgrund der auf eine großsüdslawische Föderation zielenden Balkanpolitik Jugoslawiens kam es in den 1940er Jahren nicht nur im faschistischen Italien zu einer Wiederbelebung der anti-panslawistischen Thematik und Rhetorik. Nach der Befreiung Griechenlands begann bereits in der Besatzungszeit der dreijährige Bürgerkrieg zwischen dem kommunistischen und dem bürgerlichen Lager (1946–1949). Das antikommunistische Lager verstand sich als "nationalgesinnt", weil es einen vermeintlich "edlen" Kampf um die Rettung des Hellenismus vor der Slawisierung führte. Nach "nationalgesinnter" Auffassung ging es im Kampf gegen den "Slawokommunismus" nicht nur um den Erhalt des bürgerlich-demokratischen Systems, sondern vor allem um das "Überleben" der Nation trotz des Angriffs von "zweihundert Millionen Slawen", die unter der Führung der Sowjetunion vereint den Zugang zum Mittelmeer suchten – so erklärte etwa die meinungsmachende konservative Athener Zeitung I Kathimerini (Die Tageszeitung) im März 1947 die Ursachen der "griechischen Tragödie".59
Als Anlass für diese Interpretation der "kommunistischen Revolte" gegen die Athener Regierung galt für die "Nationalgesinnten" die Tatsache, dass sich die kommunistische "Demokratische Armee Griechenlands" (DSE) nicht nur aus "ethnischen" Griechen, sondern zu einem großen Teil auch aus Angehörigen der südslawischsprachigen Minderheit des griechischen Westmakedonien zusammensetzte. Schon während der Besatzungszeit hatten sich Letztere zu militanten, separatistischen Organisationen formiert, die die Lostrennung Ägäis-Makedoniens von Griechenland und seinen Anschluss entweder an das bulgarische Pirin-Makedonien oder an das jugoslawische Vardar-Makedonien propagierten.
Bei der "Slawisierung" des Griechischen Bürgerkriegs spielte auch die Gründung der jugoslawischen Volksrepublik Makedonien im August 1944 eine wichtige Rolle. Denn die Entscheidung Titos, auf dem Gebiet der ehemaligen serbisch-makedonischen Vardar-Banschaft die sechste Teilrepublik der jugoslawischen Föderation ins Leben zu rufen, beruhte auch auf Expansionshoffnungen in Richtung des angrenzenden griechischen bzw. ägäischen Makedonien und seiner Hafenmetropole Thessaloniki (slawisch Solun). Zum großen Ärger Athens schaltete sich Jugoslawien wie kein anderes kommunistisches Land in den Griechischen Bürgerkrieg ein. Es stellte sich im Namen seiner makedonischen Teilrepublik als "Vaterland" der südslawischsprachigen Bevölkerung dar und forderte auf der Pariser Friedenskonferenz von 1946 sogar offiziell den Anschluss Ägäis-Makedoniens an die kurz zuvor gegründete jugoslawische Volksrepublik Makedonien.60
Tatsächlich wurde die DSE in ihrem Kampf gegen den von Belgrad so bezeichneten Athener "Monarchofaschismus" hauptsächlich durch Jugoslawien unterstützt und erhielt nur geringe Hilfe seitens der Sowjetunion.61 Dennoch wurde im antikommunistischen Diskurs der Bürgerkriegsjahre das alte Feindbild des Russen, der seit einem Jahrhundert den Hellenismus von den Mittelmeergebieten verdrängen wolle, reaktiviert, indem eine Linie der Kontinuität zwischen der russischen und der sowjetischen Expansionspolitik hergestellt wurde.62
Auch die national-konservativen Deutsch-Kärntner Österreichs sahen sich mit einer jugoslawischen Politik konfrontiert, die auf eine Vereinigung aller Südslawen von der Adria im Westen bis zur Ägäis im Süden und dem Schwarzen Meer im Osten hinauslief. Nachdem sich die mehrheitlich slowenischsprachige Bevölkerung des Kärntner Unterlandes (die Distrikte Rosegg, Ferlach, Bleiburg und Völkermarkt) in einer Volksabstimmung von 1920 für einen Verbleib in Österreich ausgesprochen hatte,63 setzten slowenische Revisionismusbestrebungen ein. Kulturvereine slowenisch-kärntnerischer Emigranten wie der Klub Koroških Slovencev (Klub der Kärntner Slowenen) bemühten sich, ihre "Landsleute" vor der Germanisierungspolitik der Kärntner Landsregierung zu schützen, und propagierten den Anschluss Klagenfurts zusammen mit Görz und Triest an Slowenien.64 Während der NS-Herrschaft in Österreich, insbesondere im Laufe des Zweiten Weltkrieges, wurden die als "verbissen" und "staatsgefährdend" eingestuften "Nationalslowenen" deportiert und die verbleibenden slawischsprachigen Kärntner zwangsgermanisiert. Das slowenische Kulturleben wurde nahezu vollständig unterdrückt.65
Ähnlich wie im Fall Istriens warben Kärntner Slowenen, die in den Partisaneneinheiten Titos Zuflucht gefunden hatten, für die Einverleibung ihrer unterkärntnerischen Heimatgebiete in die neue kommunistische Volksrepublik Jugoslawien. Die Nationalsozialisten reagierten darauf, insbesondere in der Endphase des Krieges, mit der Instrumentalisierung des slawischen "Schreckgespenstes", indem sie die Bedeutung Kärntens als 1.000 Jahre altes germanisches Grenzland bzw. als "treuen Wächter an Deutschlands Südgrenze" hervorhoben.66 Die Mitarbeiter des Instituts für Kärntner Landesforschung erklärten die Slawen zu einer Bedrohung für die "europäische Rasse", da im 7. und 8. Jahrhundert n. Chr. der "slawische Bestandteil im Volkskörper Mitteleuropas" durch den engen Kontakt mit den "asiatischen Awaren unerfreulich viel Blut der gelben Rasse" aufgenommen habe und dadurch "blutmäßig durchfremdet" worden sei. Die Verbindung zur Gegenwart erfolgte durch die Konstruktion einer Gefahr des "asiatischen Bolschewismus", gegen die das "unter Adolf Hitler geeinte deutsche Volk" den Kampf anführe.67
Ausblick: Die "panslawistische Gefahr" nach 1945
Im Gegensatz zu dem von der Sowjetunion dominierten Ostblock, in dem nach dem Tito-Stalin-Bruch von 1948 die politische Instrumentalisierung des Panslawismus stark nachließ,68 ist das panslawistische Feindbild in einigen Teilen des nicht-slawischsprachigen Europas weiterhin von Bedeutung. Insbesondere in der Erinnerungskultur der nationalistischen Sieger des Griechischen Bürgerkriegs spielte es eine hervorstechende Rolle. Immer wieder, etwa während der siebenjährigen Militärdiktatur (1967–1974), war anlässlich antikommunistischer Gedenktage von den griechischen Soldaten die Rede, die in den Jahren 1946–1949 den "wilden Fluss aus dem roten Norden" aufhielten, der "permanenten slawischen Untergrabung" Griechenlands ein Ende setzten und die "hinterlistigen Pläne der Panslawisten" zerstörten.69
Auch in der nordwestitalienischen Region Friaul-Julisch-Venetien, in der sich die Mehrheit der ca. 250.000 Italiener aus Istrien und Dalmatien nach der Annexion durch das kommunistische Jugoslawien niederließ, wird bis heute noch eine dezidiert antislawische Erinnerungskultur beobachtet. Dieser "antislawische Chauvinismus" werde hauptsächlich von den Flüchtlingen aus Istrien, den sogenannten esuli, und ihren Nachkommen, die in einem "Familienhaus voller Hass gegen die Slawen" aufgewachsen seien, getragen.70 Diese regionalspezifische Erinnerungskultur hat mittlerweile auch den gesamtitalienischen Diskurs beeinflusst. 2005 ernannte schließlich die auf eine antikommunistische Rhetorik zurückgreifende Regierung Silvio Berlusconis (geb. 1936) den 10. Februar zum nationalen "Tag des Gedenkens" (giorno del ricordo) an die Morde in den foibe sowie den italienischen Exodus aus Istrien und Dalmatien. Auch die Rede des italienischen Präsidenten Giorgio Napolitano (geb. 1925) anlässlich dieses Gedenktags im Jahre 2007 stellte eindrücklich unter Beweis, dass das Schreckgespenst des Panslawismus im heutigen kollektiven Gedächtnis der italienischen Nation noch immer nicht völlig verschwunden ist.71