Die Rechtskreislehren
Die Lehre von den Rechtskreisen versucht, die Gesamtheit aller Rechtsordnungen nach bestimmten Kriterien in größeren Gruppen zusammenzufassen. Der Begriff des "Rechtskreises" wird von unterschiedlichen Teildisziplinen der Rechtswissenschaft, so der Rechtsvergleichung,1 der Rechtsmethodik2 und der Rechtsgeschichte3, sowie anderer Wissenschaften, etwa der Rechtsanthropologie verwendet, allerdings nicht immer gleichlaufend. Dabei werden u.a. auch die Begriffe "Rechtsfamilien", "Rechtsstile", "Rechtskulturen" gebraucht,4 letzterer Begriff wird stärker seitens anderer Disziplinen wie Soziologie, Ethnologie oder Politikwissenschaft verwendet.
Die Befassung mit dieser Frage nach der Einteilung des globalen Rechtsstoffes ist – jedenfalls seitens der abendländischen Rechtswissenschaft – noch nicht sehr alt. Der Beginn der Einteilung in Rechtskreise ist schwierig zu datieren. Bis etwa zum Ende des 19. Jahrhunderts hat sich die europäische Jurisprudenz (bis auf Teilbereiche, die bereits früh international orientiert waren und noch sind – wie z.B. Urheberrecht oder Patentrecht) fast nur mit den abendländischen Rechtsordnungen beschäftigt. Der deutsche "Universaljurist"5 Josef Kohler (1849–1919) hat sich zwar mit der Geschichte und der Vergleichung nahezu aller ihm bekannten Rechtsordnungen der Welt befasst,6 er hat aber noch keine übergreifende Einteilung in Rechtskreise vorgenommen.
Einen frühen Vorschlag der Einteilung in einen romanischen, germanischen, angelsächsischen, slawischen und islamischen Rechtskreis hat der französische Rechtsvergleicher Adhémar Esmein (1848–1913) zu Beginn des 20. Jahrhunderts gemacht : "Il faut classer législations (ou coutumes) des différents peuples, en les ramenant à un petit nombre de familles ou de groupes, dont chacun représente un système de droit original … " 7
Dabei gebraucht er immer wieder den Begriff der "civilisation occidentale" o.Ä. Dem romanischen Rechtskreis ("groupe latin") rechnet Esmein auch die lateinamerikanischen Rechte zu, dem "groupe germanique" als "Seitenzweig" die skandinavischen Rechte; als fünfte Gruppe – etwas à part – nennt er "le droit musulman", dieses sei aber in erster Linie von Interesse wegen der islamischen Bevölkerung in den europäischen Kolonien.8 Es herrscht zu Beginn und bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts also eine eurozentrierte Sichtweise vor, die außereuropäische Rechtsordnungen nur als "koloniale" Ableitung und insbesondere aus rechtspraktischen Gründen in Betracht zieht.
Von der Abgrenzung eines eigenen slawischen Rechtskreises, früh vorgeschlagen durch Esmein,9 ist man bald abgegangen, da sich für diesen geographischen Bereich das im 20. Jahrhundert prägende "politische" Kriterium "russischer" bzw. sozialistischer oder marxistischer Rechtskreis als charakteristisch durchgesetzt hat. Bereits Pierre Arminjon (1869-1960) spricht im Widerspruch zu Esmein von "système russe" bzw. "soviétique".10 Wieacker hebt für die "russische" oder "osteuropäische" Rechtsfamilie auf den "infolge der Errichtung einer sozialistischen Rechtsordnung" überwiegenden "Eindruck der Distanz von den westlichen Rechtsordnungen" ab.11 In den südosteuropäischen Ländern waren bis in die Neuzeit Einflüsse osmanischen sowie byzantinischen Rechts bzw. des Rechts der Ostkirche maßgeblich.12 Im 19. Jahrhundert überwogen dann Vorbilder aus den kontinentalen Rechtsordnungen (Code civil, historische Rechtsschule etc.). Dies gilt – zumindest was das Privatrecht betrifft – rechtstechnisch gesehen für die Mehrzahl der slawischen Gebiete, die erst im 19. Jahrhundert als selbständige Staaten auftraten.
Ausweitung des Blickfelds in außereuropäische Rechtsordnungen
Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte haben sich lange Zeit in erster Linie mit dem kontinentaleuropäischen und dem angloamerikanischen Recht befasst, wobei gelegentlich der vom europäischen Recht beeinflusste Raum (Lateinamerika, später auch China und Japan) mit berücksichtigt wurde. Erst seit einigen Jahrzehnten, vor allem im Zeichen der Globalisierung, werden auch außereuropäische Rechtsordnungen für sich und als je eigener Untersuchungsgegenstand vermehrt von der juristischen Forschung in den Blick genommen. Diese Ausweitung des Blickfeldes spiegelt sich auch in der Fortentwicklung der Rechtskreiseinteilungen (z.T. bei ein und demselben Autor) wider.13
Außerdem werden Rechtsräume, die zwar intensiv, aber in erster Linie aus der historischen kolonialen Perspektive erforscht wurden, nun auch seitens der Rechtsgeschichte in einen erweiterten Blick genommen. Das gilt etwa für den lateinamerikanischen Rechtsraum, für welchen lange Zeit die Einflüsse europäischer Rechte (des romanischen Rechtskreises) untersucht wurden. Dieser wird nun zunehmend sozusagen auch in anderer Richtung – hinsichtlich seiner Rückwirkung auf Europa – betrachtet. Besondere Erkenntnismöglichkeiten und eine neue Sicht auf diesen Rechtsraum können gewonnen werden, wenn das Verhältnis zwischen kolonialem und einheimischem Recht sowie das Missionsrecht und die rechtlichen Verarbeitungen kolonialer Erfahrungen auch seitens der Kolonialherren und ihre Rückwirkungen auf das Alte Europa untersucht werden. Als ein Beispiel sei nur die Auswertung der Rechtsdokumente in den spanischen und portugiesischen Kolonialarchiven oder in den auf Lateinamerika bezüglichen Akten des Vatikans angeführt.
Wenn die europäische Sichtweise des Rechts ("europäische Rechtsgeschichte" etc.) in früheren Jahren eine Ausweitung des Blickfelds über die nationalen Rechte hinaus bedeutete, kann man heute "europäisch" in dieser Hinsicht eher als nur europabezogen und insofern als eine Begrenzung sehen. Wenn es im Zeitalter der Globalisierung um "transnationale Geschichte", "atlantic history", "Imperienforschung"14 geht, sollte diese Perspektive allerdings nicht als einzig herrschende, sondern als eine Ergänzung früherer Forschungsfelder betrachtet werden.15
Ausweitung des Blickfelds in Hinsicht auf Rechtsmaterien
Die Lehre von den Rechtskreisen wurde zuerst aus privatrechtlicher Sicht entwickelt. Vor allem ist sie hier ausgehend von den großen Zivilrechtskodifikationen und unter Bezug auf diese und deren Rezeption angewendet worden.16 In der Folge wurden aber derartige Eingruppierungsversuche auch auf andere Rechtsbereiche (Strafrecht, öffentliches Recht etc.) ausgedehnt, wobei die Zugehörigkeit bzw. Zurechnung der materiellen Rechte eines Landes zu unterschiedlichen Rechtskreisen (Privatrecht – öffentliches Recht) möglich ist. Sogar innerhalb des Privatrechts kann die Zurechnung variieren – etwa zwischen Familien- und Erbrecht einerseits (das z.B. eher von religiösen Elementen beeinflusst sein kann) und Vermögensrecht (Sachen- und Schuldrecht) andererseits: Zweigert/Kötz sprechen von "materiebezogener Relativität".17
Zeitbezogenheit der Einteilung und Kritik an der Rechtskreislehre generell
Die Einteilung bleibt dabei nicht konstant, zu unterschiedlichen Zeiten können unterschiedliche Einteilungskriterien maßgeblich sein; es können sich Rechtsordnungen von einem Rechtskreis in einen anderen verschieben. Die Rechtskreiszuordnung unterliegt auch dem Prinzip der "zeitlichen Relativität".18 Waren die Anfänge der Rechtskreislehren stark vom Systemdenken der damaligen Zeit geprägt, so entspricht das heute nicht mehr dem Forschungsstand. Insbesondere die Auffassung, es gäbe "Rechte der zivilisierten Völker", hatte z.T. apologetischen Charakter:
Exkurs: Die Rechte der "zivilisierten Völker", der "nations civilisées","naçoes cultas do mundo civilisado"
Die Auffassung von einer Rechtsgemeinschaft der "pays civilisés" ist in der europäischen Rechtsgeschichte des 19. und auch noch des frühen 20. Jahrhunderts häufig anzutreffen. Bei vielen Autoren, die die Rechtsvergleichung mitbegründeten – wie z.B. Karl Josef Anton Mittermaier (1787–1867) und Josef Kohler –, und auch bei vielen an der Ausarbeitung internationaler Verträge beteiligten Rechtspolitikern ist die Vorstellung von der Einheit der Kulturnationen und einem daraus abzuleitenden "internationalen Standard" guter Gesetzgebung als ein Teil des juristischen "Wertungswissens" der Zeit zu betrachten.19 Hier seien nur zwei Beispiele aus sehr unterschiedlichen Rechtsmaterien erwähnt:
Wenn bestimmte Positionen im rechtspolitischen Diskurs über die pragmatisch-positive Argumentation hinaus moralisch-ethisch gewertet wurden, fand häufig eine (unbewusste) Abgrenzung zu nicht-abendländischen, auch räumlich entfernten Rechtsordnungen statt. So wurde etwa die unterschiedliche Haltung zur Todesstrafe als Gradmesser für den Zivilisations- oder Kulturstand eines Landes bzw. Rechtskreises betrachtet. Hier zeigte sich auch der europäische Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts: "Nicht gleichgültig dürfte auch das Zeugnis der Geschichte aufgenommen werden, daß bei jedem Volke die Art der Auffassung der Todesstrafe von dem Grade der Gesittung abhängt, und daß, sobald das Volk auf eine höhere Stufe der Bildung gelangt (...), auch die Todesstrafe aus dem Gesetzbuch verschwindet ...".20
Vor allem im Bereich des Rechts des Geistigen Eigentums (einer – wie erwähnt – genuin internationalen Rechtsmaterie) kommt oft die Abgrenzung der "estados civilisados", "tous les peuples civilisés" in den Beratungen zum Tragen. " Le principe de la reconnaissance internationale de la propriété des œuvres littéraires et artistiques en faveur de leurs auteurs doit prendre place dans la législation de tous les peuples civilisés "21, formulierte der Internationale Urheberrechts-Kongress 1858 in Brüssel.22 Der 1839 vorgelegte Entwurf für ein portugiesisches Urheberrechtsgesetz geht in eine ähnliche Richtung:23 Er weist besonders darauf hin, dass man sich in den einzelnen europäischen Staaten bemühe, "estabelecer um direito commum e internacional" ("ein allgemein und international geltendes Recht zu etablieren")24. Hier wird eine "grande alliança de todos os estados civilisados" ("große Allianz aller zivilisierten Staaten")25 postuliert. Wenn hier, wie so oft, die Gemeinschaft der zivilisierten Völker, die Allianz aller Kulturnationen etc. angesprochen wird, hat dies auch rechtspolitische Konsequenzen: Die Nationen, die zu den "zivilisierten" in diesem Sinne gerechnet werden und an internationalen Verträgen teilhaben wollten, unternahmen besondere Anstrengungen, um ihre Rechte diesen Anforderungen anzupassen.26
Im 20. Jahrhundert war die Hoffnung auf ein einheitliches europäisches Recht (auch was die Gesetzgebung betrifft) an dem erkenntnisleitenden Interesse an Vergleichsüberlegungen und an Einteilungsgrenzen beteiligt. Ein weiterer Indikator für die Zeitbezogenheit der Rechtskreislehren ist die Tatsache, dass die (politischen) Voraussetzungen für die Abgrenzung bestimmter Rechtskreise nahezu ganz verschwinden. Ein aktuelles Beispiel: Der sozialistische (marxistische) Rechtskreis hat als solcher mit der großen europäischen Wende 1989/1990 praktisch aufgehört zu existieren, findet aber als Untersuchungsgegenstand große Aufmerksamkeit.27
In letzter Zeit wurden zwar generell die Lehre von den Rechtskreisen und ihre wissenschaftliche Fruchtbarkeit in Frage gestellt,28 ein gewisser Nutzen der Systematisierung blieb aber weitgehend anerkannt. Es ist allerdings festzustellen, dass das Gewicht einzelner Einteilungskriterien variiert und dass neue Kriterien eingeführt werden, andere hingegen obsolet werden etc. Nach heutiger Auffassung kommt wohl dem Denken in Rechtskreisen eher eine dienende Funktion, die Funktion eines Mittels zum Verstehen von Recht zu.
Einteilungskriterien
Die in den unterschiedlichen Disziplinen verwendeten Einteilungskriterien des globalen Rechtsstoffes sind mannigfaltig. Genannt seien unter den Hauptfaktoren die Folgenden: Sprache, geographische bzw. territoriale Zugehörigkeit, gesellschaftlich-politische Elemente, religiöse Faktoren (hier ist in erster Linie an die Bedeutung der Religion für die Rechtsordnung im Ganzen bzw. für die Rechtsausübung der Individuen zu denken).
Sprache
Das Kriterium Sprache liegt bereits frühen Einteilungsversuchen (vgl. Adhémar Esmein) zugrunde, bildet dort aber eigentlich nur ein äußeres Merkmal weitergehender Verwandtschaft: die Parallele Sprachverwandtschaft – Rechtsverwandtschaft ist augenfällig bei der Einordnung in eine romanische, germanische, angelsächsische und slawische Gruppe.
Geographische/territoriale Zugehörigkeit
Ein fernöstlicher oder (süd-)ostasiatischer Rechtskreis, vor allem Japan und China, dann auch Korea umfassend, wurde – über die geographischen Zusammenhänge hinaus – gesehen als charakterisiert durch Neigung zu außergerichtlicher Verständigung, die auf konfuzianischen Traditionen beruhe. Eine solche Betrachtung ist aber in jüngerer Zeit stark relativiert worden. Die Zusammenfassung von Rechtsordnungen, die zwar geographisch benachbart, aber höchst unterschiedlichen politischen Systemen zugehörig waren, wie das lange Zeit kommunistisch geprägte China und das monarchisch regierte Japan, in denen zudem im frühen 20. Jahrhundert europäische Einflüsse auf verschiedenen Feldern wirksam waren, wurde in der Folge von der Rechtsvergleichung in Frage gestellt. Ob man die Rechtsordnungen der afrikanischen Länder südlich der Sahara, die seit längerem Gegenstand der rechtsvergleichenden, rechtssoziologischen und rechtsethnologischen Forschung sind, auch zu einem "afrikanischen Rechtskreis" zusammenfassen kann, wird seit einiger Zeit diskutiert.29 Dabei wird vor allem auf die erheblichen Divergenzen innerhalb der Völker dieses möglichen Rechtskreises hingewiesen, die etwa je nach Bedeutung der autochthonen Rechte, Religionseinflüssen und dem Bezug zu den früheren Kolonialrechten bestehen.
Politisches System
Das herausragende Beispiel eines Rechtskreises, dessen Rechte in erster Linie durch das gemeinsame politische System bestimmt waren und auch durch eine Vormacht in diesem System zusammengefasst wurden, ist bzw. war der sozialistische/marxistische Rechtskreis mit seiner Vormacht – der Sowjetunion.
Religion
Der Faktor Religion wurde zuerst im Hinblick auf das Islamische Recht als rechtskreis-prägendes Element erkannt und bereits früh als Distinktionsmittel herausgearbeitet (Josef Kohler nennt beispielsweise das "islamistische" Recht). Mit der fortschreitenden Einbeziehung außereuropäischer, nicht oder wenig von europäischen Einflüssen betroffenen Rechtsordnungen kamen auch hinduistische Rechte ins Blickfeld. Zweigert/Kötz behandeln unter dem Begriff "religiöse Rechte" das islamische Recht und das Hindu-Recht.30
Rechtstechnik/Rechtsquellen
Ein wesentliches Einteilungskriterium – wenn man etwa die Unterschiede zwischen kontinentaleuropäischen und angloamerikanischen Rechten (civil law – common law) betrachtet – ist das Vorherrschen von Gesetzesrecht/Kodifikation einerseits, case law (precedents) andererseits. Es ist der Gegensatz juristischer Denkweisen zwischen abstrakter Normierung durch Gesetzgebung und Wissenschaft und entscheidungsbasiertem, d.h. in einer langen richterlichen Tradition entwickelten konkreten Falldenken.
Rechtsgeschichte und Rechtskreislehre
Im Folgenden soll der Umgang der Rechtshistorie mit dem Phänomen "Rechtskreise" betrachtet werden. Dabei sind auch innerwissenschaftliche Beweggründe kurz anzusprechen: Seit den 1950er Jahren begann (als ein Ausdruck der Neuorientierung) die stärkere Hinwendung zu einer europäischen Sichtweise und damit die Untersuchung der Europa gemeinsamen Rechtsentwicklung, vor allem der Privatrechtsentwicklung. Diese Sichtweise war sozusagen die Voraussetzung einer rechtshistorischen Anwendung und Fortbildung der Rechtskreislehre. Initiativen zu einer Europäisierung kamen von Vertretern sowohl der germanistischen – Hans Thieme (1906–2000), Erich Molitor (1886–1963) – als auch der romanistischen Zunft – Erich Genzmer (1893–1970), Paul Koschaker (1879–1951), Franz Wieacker (1908–1994), Helmut Coing (1912–2000). 1947 hat Paul Koschaker in dem Werk "Europa und das römische Recht" ein umfassendes Forschungsprogramm formuliert, das die Untersuchung der europäischen Stellung des römischen Rechts mit Bemühungen um eine "Soziologie des Juristenrechts … aus einer vergleichenden Betrachtung des römischen, anglo-amerikanischen und französischen Juristenrechts" verbindet.31 Im Zuge der europäischen Einigung und auch der Rechtsvereinheitlichungsvorgänge in der EU ist der Begriff "Rechtsraum Europa" o.Ä. vorwiegend unter diesem rechtspraktischen Gesichtspunkt verwendet worden, als Ziel einer einheitlichen Rechtsordnung dieser Staatengemeinschaft.
Zwei Aspekte aus der Historie der Rechtskreiseinteilung werden im Folgenden betrachtet: erstens die inhaltlichen und/oder strukturellen Zusammenhänge von Rechtsordnungen (Rechtskreis – Rechtsfamilie) und zweitens die räumliche Ausdehnung und die räumlichen Zusammenhänge von Rechtsordnungen (Rechtskreis – Rechtsraum), wobei sich beide Betrachtungsweisen überschneiden können.
Rechtskreis – Rechtsfamilie
Unter Einbeziehung dieser vielfältigen Kriterien und bei Zusammensicht von jeweils mehreren hat die europäische Rechtsgeschichte innerhalb der kontinentaleuropäischen Rechte – seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und vor allem seit dem Zeitalter der "Nationalstaaten" – die Unterscheidung in zwei bzw. drei große Rechtskreise ausgebildet: den romanischen und den germanischen (bzw. deutschen), mit dem Nebenzweig des skandinavischen (nordischen) Rechtskreises. Diesen stehen der anglo-amerikanische (angelsächsische) und der südosteuropäische Rechtskreis gegenüber. Zum romanischen Kreis werden im allgemeinen Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, die BeNeLux-Staaten und die romanische Schweiz gezählt, zum deutschen Rechtskreis Deutschland, Österreich (z.T. auch die Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie) und die deutsche Schweiz, auch die baltischen Staaten des 19. Jahrhunderts.32 Die Zuordnungen variieren leicht in der Sicht der einzelnen Autoren. Hans Schlosser umfasst in seiner Privatrechtsgeschichte mit dem Begriff mitteleuropäischer Rechtskreis33 die deutschsprachige Rechtsgruppe. Die engere Verwandtschaft zwischen dem romanischen und dem deutschen Rechtskreis beruht nach allgemeiner Auffassung auf der wesentlichen Basis beider, der Rezeption des römisch-kanonischen Rechts (ius commune). Demgegenüber haben die skandinavischen Rechtsordnungen eine eigene Entwicklung genommen, die aber den romanisch-germanischen Rechten näher ist als den angelsächsischen.
Der Begriff Rechtsfamilie impliziert eine gewisse Verwandtschaft, Abstammung, Beeinflussung einer Rechtsordnung durch eine andere, wenn etwa die Rechtsvergleichung auch von "Mutterordnung" und "Tochterordnungen" spricht.34
Ein herausragendes Beispiel für eine solche Rechtsfamilie ist die Gruppe der Rechte, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts auf der europäischen und weltweiten Ausstrahlung der französischen Kodifikationen, allen voran des Code civil von 1804 basieren.35 Zu ihr werden die romanischen Länder Europas gerechnet, die auf unterschiedliche Weise dem Einfluss der cinq codes (der fünf unter Napoleon eingeführten Kodizes) unterliegen. Auch der außereuropäische Einflussbereich des französischen Rechts reicht weit: Dass der Code civil in den früheren französischen Kolonien – jedenfalls für französische Bürger – in Geltung war, versteht sich von selbst. Auf dem nordamerikanischen Kontinent bildeten der amerikanische Bundesstaat Louisiana, wo er 1808, sowie die kanadische Provinz Québec, wo er 1886 eingeführt wurde, lange Zeit sozusagen "kodifikatorische Inseln" im Common-law-System. Das französische Gesetzbuch wurde darüber hinaus zum unmittelbaren oder mittelbaren Vorbild für die Zivilrechtsgesetzgebung in Lateinamerika: Viele südamerikanische Staaten nahmen sich bei ihren Bemühungen um Zivilrechtskodifikation im 19. Jahrhundert den Code civil zum Vorbild, teils direkt, teils durch Vermittlung des spanischen oder des portugiesischen Código civil, die beide in vielem methodisch oder inhaltlich dem französischen Gesetzbuch folgten. In Santo Domingo, wo der Code civil 1825 unter haitianischer Herrschaft eingeführt wurde, ist er im Prinzip heute noch in Kraft. Andere Staaten wie z.B. Argentinien, Bolivien, Mexiko, Peru, Venezuela folgten mehr oder weniger stark dem französischen Muster,36 wobei sich aber auch eigenständige Rechtsentwicklungen finden. Durch die Vorbildfunktion dieser Gesetzbücher für andere südamerikanische Staaten zog der Einfluss des französischen Zivilrechts immer weitere Kreise und es lassen sich zahlreiche "Filiationen" nachvollziehen. Auch auf Ägypten, Syrien und den Libanon wirkte das französische Vorbild in gewissem Umfang ein, am stärksten lassen sich diese Spuren im Libanon verfolgen.37 Nach dem angelsächsischen dürfte dieser Rechtskreis heute – nach Verschwinden des "sowjetischen/sozialistischen" – der räumlich umfassendste der Welt sein.
Rechtskreis als Filiation von Stadtrechten
Hier sei nur auf einen weiteren Rechtskreis-Begriff hingewiesen, der nicht im Detail ausgeführt werden kann: Für den Mediävisten und Frühneuzeithistoriker ist die Konnotation "Rechtskreis" eher mit den Stadtrechtsfamilien des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit verbunden. Hier werden Mutter- und Tochterstädte in ihren Rechtsbeziehungen untersucht. Wenn vom "lübischen Recht"38 im gesamten Ostseeraum oder dem "Magdeburger Recht"39 gesprochen wird, wird damit auf die Existenz eines entsprechenden Rechtskreises, eine Art "Abstammungsfolge" von Stadtrechten40 verwiesen. Solche Stadtrechtsfamilien gab es auch in anderen Gebieten des Alten Reichs, so z. B. die Soester Stadtrechtsfamilie,41 die Frankfurter Stadtrechtsfamilie etc.42 Ein Stadtrechtskreis, entstanden aus der "Verleihung" eines bedeutenden und einflussreichen Stadtrechts an eine andere Stadt, beinhaltet meist auch einen organisatorischen bzw. einen Rechtsprechungszusammenhang zwischen den Mutter- und Tochterstädten.
Rechtskreis – Rechtsraum
Diese Sicht geht von geographischen Faktoren aus und gliedert Rechtsordnungen in einem territorialen Zusammenhang, der auch andere Elemente wie Sprache oder Religion beinhalten kann. Hier sind in erster Linie die neueren Betrachtungen zu nennen, die vor allem auch außereuropäische Rechte als eigenen Forschungsgegenstand einbeziehen. Betrachtet sei die Diskussion um die Abgrenzung und Charakterisierung eines fernöstlichen (ostasiatischen) Rechtskreises. Dabei kann nur an einem Beispiel auf neuere Tendenzen und Diskussionen hingewiesen werden, wobei gerade der indigene, der "nichtwestliche" Blick auf die Rechtskreislehre hervorgehoben sei. Ähnliche Diskussionen gibt es neuerdings auch um die Abgrenzung eines afrikanischen Rechtskreises.
Unter den westlichen Rechtsvergleichern war es zuerst René David, der China als einem eigenen Rechtskreis zugehörig untersuchte, indem er zwischen Recht und Konvention als hauptsächlichem sozialen Normsystem unterschied; auch Japan ordnete er so zu. Ab den siebziger Jahren bezog er Korea, die Mongolei und Indochina in die "anderen Konzeptionen der sozialen Ordnung und des Rechts" ein, die nach ihm auch islamische und Hindurechte umfassen.43 Ähnliche Kriterien, die auf der Vorstellung von Recht als Mittel zur sozialen Ordnung basierten, wandten zunächst auch Zweigert/Kötz an. Ausgehend von der unterschiedlichen Auffassung von Recht als Ordnungsfaktor des menschlichen Zusammenlebens und seiner Wertigkeit im Vergleich zu konventioneller nichtgerichtlicher Streitschlichtung hat man die "fernöstlichen" bzw. südostasiatischen Rechte zusammenfassend in einen "ostasiatischen Rechtskreis" eingeteilt. Kötz ging dann aber von diesem Kriterium ab und betont in der 3. Auflage der Einführung in die Rechtsvergleichung 1996 den Unterschied zwischen dem modernen kapitalistischen Staat Japan und dem sozialistischen China. Konsequent werden das chinesische und das japanische als je eigene Rechte untersucht und dargestellt. 44
Westliche Rechtsvergleicher wie David oder Zweigert/Kötz unterscheiden drei verschiedene asiatische Rechtssysteme: Westasien (Vorherrschen des islamischen Rechts), Südasien (Hindu-Rechtskreis) und einen ostasiatischen Rechtskreis, der die südostasiatischen Länder ausschließt. Demgegenüber bzw. in Ergänzung dessen plädiert der japanische Wissenschaftler Kiyoshi Igarashi (Sapporo) für das Bestehen eines "ostasiatischen Rechtskreises", wobei er gleichzeitig feststellt, dass auch unter den japanischen Kollegen die Meinungen über diese Einteilung geteilt sind. 45 Wenn hier die Meinung vertreten wird, die "Asien-Rechtsforschung ist eine Aufgabe, die asiatische Rechtsvergleicher lösen sollten", weist dies auf eine neuere Tendenz hin, gegen einen west-zentrierten Blick und für eine "indigene" Forschungsperspektive zu plädieren. Die diversen Abgrenzungs- bzw. Zusammenfassungs-Tendenzen schreiben auch in diesem Rechtskreis unterschiedlichen Einteilungskriterien verschiedene Wertigkeiten zu bzw. führen neue Kriterien (hier etwa wirtschaftsgeographische, wie z.B. Reispflanzenzonen46) ein. Igarashi sieht, Nobuyuki Yasuda folgend, einen einheitlichen ostasiatischen Rechtskreis, zu dem seiner Ansicht nach China, Taiwan, Korea und Japan gehören und führt dies auf die historische Entwicklung zurück. Der ostasiatische Rechtskreis weise vom rechtsinstitutionellen Standpunkt zwar Gemeinsamkeiten mit dem kontinentaleuropäischen Rechtskreis auf, habe jedoch im 20. Jahrhundert eine eigenständige Rechtskultur entfaltet, und er leitet daraus den Charakter eines selbständigen Rechtskreises ab.47
Rechtskreis – Rechtsstil
Wenn die europäische Rechtsgeschichte und z.T. auch die Rechtsvergleichung längere Zeit die Einteilung in Rechtskreise stärker auf die Gesetzgebungs-, insbesondere Kodifikationszusammenhänge bezog, ist seit einiger Zeit eine stärkere Beachtung der Rechtsprechung und sonstigen Rechtsdurchsetzung zu beobachten. Der Begriff "Rechtsstile" wurde z.B. seitens der Rechtsvergleichung von Konrad Zweigert (1911–1996) eingeführt, seitens der Rechtsgeschichte hat bereits Franz Wieacker darauf hingewiesen, dass der "Stil" der Juristen im romanischen Rechtskreis stärker als etwa im germanischen durch eine "politisch-forensische Justizkultur" geprägt sei.48 Hier wie auch im angelsächsischen Bereich komme der Justiz neben der praktischen Rechtsdurchsetzung eine politisch-öffentliche Relevanz zu. Wenngleich diese Analyse Wieackers aus den 1960er Jahren stammt und inzwischen die europäische Rechtsvereinheitlichung der letzten Jahrzehnte eine starke Annäherung der europäischen Rechtsordnungen gebracht hat, ist sicherlich auch heute noch die unterschiedliche Juristenausbildung ein wesentlicher bestimmender Faktor der Ausformung von Rechtsstilen und maßgeblich für Distinktionen innerhalb historisch verwandter Rechtsordnungen.
Zusammenfassung
Der Versuch der Einteilung des globalen Rechtsstoffes nach verschiedenen Kriterien in unterschiedlich "dichte" und unterschiedlich klar abgegrenzte Gruppen von Rechtsordnungen, d.h. die Entwicklung, Diskussion und Kritik der Einordnung in "Rechtskreise" ist von verschiedenen Disziplinen der Rechtswissenschaft wie auch seitens anderer Humanwissenschaften etwa seit dem ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert betrieben worden. Dabei ist eine Vielfalt von Einteilungskriterien entwickelt worden, wobei deren Wertigkeit in ihrem Zusammenwirken immer weiter diskutiert wird, mit je "materiebezogener" und "zeitbezogener" Relevanz. In dem Maße, in dem sich die Rechtswissenschaft und auch die historische Forschung im Zuge der Globalisierung mit außerwestlichen Räumen und ihren Rechtsordnungen als eigenständigen Forschungsobjekten befassen, werden neue Kriterien entwickelt, treten zusätzliche Protagonisten auf den Plan. Ebenso wie der im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert häufig verwendete Begriff "zivilisierte Völker, nations civilisées", der eine bestimmte rechtsräumliche Dimension hatte, immer stärker diskutiert und in Frage gestellt wurde, verhält es sich mit neuerdings diskutierten Konzepten wie "westliche Welt", "atlantische Welt".49 Bei den Versuchen, eine bessere Trennschärfe zu erzielen, ist die Einbeziehung der Dimension "Recht" und der (rechts)historische Blick auf den Raum eine stetige Herausforderung. Die Lehre von den Rechtskreisen ist wie die Befassung mit der räumlichen Sicht auf Recht in Bewegung und der Blick des Historikers muss hier immer wieder bis in die Gegenwart "nachjustiert" werden.