Einleitung
Im Jahr 1904 wurde auf der Weltausstellung Louisiana Purchase International Exposition in St. Louis, USA, ein anatomisches Vorlesungsmodell aus Lindenholz mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. Dieses Modell, eine in Einzelteile zerlegbare sechsfache Vergrößerung des menschlichen Schädels, war auf Veranlassung des Münchner Anatomen Johannes Rückert (1854–1923) von dem Holzschnitzer Albert Bechtel in zweifacher Ausfertigung hergestellt worden.1 Während das Münchner Exemplar im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, ist der Berliner Schädel noch heute in der Charité zu bewundern, wo im Foyer des Anatomischen Instituts eine bedeutende Sammlung2 an Präparaten und Demonstrationsobjekten präsentiert wird. Zu sehen sind hier neben verschiedenen Modellen auch die von Johann Nathanael Lieberkühn (1711–1756) gefertigten "Präparate von menschlichen und thierischen Koerpern" sowie seine Injektionspräparate des Magen-Darm-Traktes in 'Wundergläsern'.3
Wie in diesem Berliner Beispiel gibt es an vielen Universitäten in Europa außergewöhnliche Sammlungsbestände, die aber häufig in Vergessenheit geraten sind, weil sie nicht mehr für Forschung und Lehre genutzt werden. Dieser Reichtum wurde mancherorts über mehrere Jahrhunderte zusammengetragen und kann aus Ergebnissen akademischer Forschungstätigkeit, aus Produkten externer Hersteller oder aus Naturalien bestehen. Auch von Expeditionen und Ausgrabungen mitgebrachte, nicht selten erbeutete Objekte fanden Eingang in Sammlungen oder begründeten sie. Die Bandbreite der Bestände reicht dementsprechend von Alligators and Astrolabes4 über Minerals and Magic Lanterns5 bis hin zu Totems and Trifles.6
Bis Juni 2012 wurden in der University Museums and Collections Worldwide Database7 allein etwa 1.758 Sammlungen und Museen in Europa registriert. Eine systematische Untersuchung würde wahrscheinlich ergeben, dass die tatsächliche Anzahl deutlich höher liegt. Da viele Universitäten allerdings nicht einmal in der Lage sind, eine vollständige Übersicht über ihre eigenen Bestände zu geben, ist es schwierig, die entsprechenden Daten zu erheben; häufig sind sie nur wenigen Mitarbeitern in den jeweiligen Fachbereichen bekannt. Das gilt vor allem für die unzähligen kleinen, über die einzelnen Abteilungen der Fakultäten und Institute verstreuten Kollektionen, die die große Mehrheit der universitären Sammlungen ausmachen.
Daneben gibt es bedeutende Universitätsmuseen mit großen Sammlungsbeständen, die weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt sind wie z. B. das Ashmolean Museum der Universität Oxford,8 das 1683 offiziell eröffnet wurde und als das erste öffentliche Museum gilt,9 das Museum Gustavianum10 an der Universität Uppsala, das nicht nur das Thermometer von Anders Celsius (1701–1744), sondern auch den botanischen Garten von Carl von Linné (1707–1778) betreut, das Museo di Palazzo Poggi11 in Bologna, in dem die naturhistorische Sammlung von Ulisse Aldrovandi (1522–1605) bewundert werden kann oder das Collegium Maius – Muzeum Uniwersytetu Jagiellońskiego12 in Krakau. Manche Universitätsmuseen erhielten sogar den Status eines Nationalmuseums, so das Musée National des Arts et Métiers (CNAM)13 in Paris, das Museu Nacional de História Natural14 der Universität Lissabon oder das Museo Nazionale degli Strumenti per il Calcolo15 an der Universität Pisa.
Definition und Charakterisierung
Was aber versteht man eigentlich unter einer Universitätssammlung? Anstelle einer verbindlichen Definition wird an dieser Stelle eine Begriffsbestimmung vorgeschlagen, die aus einem Forschungsprojekt zu Universitätssammlungen in Deutschland hervorgegangen ist:
Als Universitätssammlungen gelten ... alle aktuell oder ehemals zu einer wissenschaftlichen, theologischen und künstlerischen Hochschule gehörenden Sammlungen mit gegenständlichen und audio-visuellen Objekten. Auch Orte, an denen lebende Organismen aufbewahrt werden (z.B. Botanische Gärten oder Aquarien), sowie mit der Universitätsgeschichte verbundene Memorialeinrichtungen, die in Lehre und Forschung genutzt werden und/oder museale Funktionen erfüllen, zählen zum Gegenstandsbereich des Projekts.16
Klassische Bibliotheks- und Archivbestände gehören nicht dazu. Das Spektrum an Sammlungen ist außerordentlich breit – von den Altertumswissenschaften bis zur Zoologie. Die traditionellen Disziplinen sind ebenso vertreten wie die jüngeren, die großen ebenso wie die kleinen.17
Universitätssammlungen sind in der Regel hinsichtlich ihres Entstehens und ihrer Nutzung eng an die Hochschule gebunden, da sie in erster Linie für Forschung und Lehre angelegt wurden und ganze Kategorien und Gruppen von Naturalia und Artificialia bewahren, die sonst nirgendwo verfügbar sind. Neben Objekten für Lehre und Forschung werden auch gegenständliche Zeugnisse der Universitätsgeschichte gesammelt.
Forschungsstand
Universitätssammlungen sind in der Historiographie wissenschaftlicher Praxis lange Zeit vernachlässigt oder gar ignoriert worden. Besonders die Rolle, die sie für die Herausbildung und Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Disziplinen gespielt haben, wurde bis heute nicht ausreichend erforscht.18 Wenn überhaupt, dann wurde die Geschichte von Sammlungen als Teil der Institutionengeschichte abgehandelt, etwa im Rahmen von Universitätschroniken oder Jubiläumsschriften. Diese Beiträge konzentrieren sich jedoch vorwiegend auf die lokale Entwicklung der Sammlungen und stellen sie nicht in einen breiteren wissenshistorischen Kontext.
Eine Ausnahme bildet hier das Vereinigte Königreich. Dort sind bereits in den 1980ern sowie Anfang der 1990er Jahre die ersten systematischen und detaillierten Überblicke über universitäre Sammlungen und zahlreiche Veröffentlichungen mit einem Fokus auf museologische Aspekte entstanden.19 In den Niederlanden wurde in den 1980er Jahren immerhin eine Initiative ins Leben gerufen, um eine Übersicht über die Universitätssammlungen zu erarbeiten.20 Italien folgte 1986;21 auch von Belgien,22 Spanien23 und Portugal24 liegen Verzeichnisse vor.25 In Deutschland wurden ab 2004 Universitätssammlungen sowie ausgewählte Objektgruppen systematisch in einem Online-Informationssystem26 erfasst und detaillierte Daten zum Bestand und zur Geschichte zusammengetragen. Schwierig ist die Quellenlage in Osteuropa; hier gibt es bisher nur einige wenige Darstellungen.
Auch zur europäischen Dimension akademischer Sammlungen ist bisher kaum umfangreiche wissenschaftliche Arbeit geleistet worden.27 Insgesamt steht gegenwärtig nur wenig Material zur Verfügung, um die Geschichte der Universitätssammlungen in Europa adäquat analysieren zu können. Zudem fehlen Beiträge zu spezifischeren Fragen, beispielsweise nach der Institutionalisierung von Sammlungen, nach den ihnen zugrunde liegenden Konzepten oder nach Netzwerken des Tausch- und Vertriebswesens.
Zur historischen Entwicklung europäischer Universitätssammlungen
Beim Versuch, eine übergreifende Geschichte der europäischen Universitätssammlungen zu entwerfen, ergeben sich nicht unerhebliche Schwierigkeiten: Zum einen sind die Geschichten einzelner Sammlungen stark in ihren jeweiligen disziplinären Kontexten verankert, zum andern nahmen sie gelegentlich einen höchst eigenwilligen Verlauf, der sich teils nur mühsam rekonstruieren lässt. Mitunter ist die Keimzelle eines Bestandes in einer kleinen Anzahl von Objekten zu suchen, die zunächst ohne Ordnung und Konzept zusammengetragen wurden und sich erst im Laufe der Zeit zu einer richtigen Sammlung entwickelten. Solche Einzelgeschichten sind in der Regel stark von äußeren Einflüssen geprägt, z. B. von Veränderungen der Besitzverhältnisse oder vom Wandel organisatorischer und logistischer Strukturen: Lange Zeit befanden sich Sammlungen im Privatbesitz von Professoren, so dass sie bei einem Hochschulwechsel an deren neuen Wirkungsort transferiert wurden. Auch Zusammenlegungen oder Aufgliederungen in verschiedene Teilsammlungen, Umstrukturierungen von Abteilungen, Instituten oder Fakultäten und damit einhergehende Verlagerungen von Sammlungen, die Abgabe an andere Institutionen oder sogar Auflösungen konnten und können Stationen von Sammlungsgeschichten markieren. In dem 1889 eröffneten Berliner Museum für Naturkunde28 beispielsweise sind die zuvor separat geführten naturkundlichen Sammlungen der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin vereint worden; seit 2009 ist das Museum Teil der Leibniz-Gemeinschaft und gehört nicht mehr zur Universität. Das 1773 begründete Akademische Museum der Universität Göttingen bildete bis 1840 räumlich und organisatorisch eine Einheit, danach wurden die Sammlungsbestände an die jeweiligen Fakultäten übertragen.29 Entsprechend hat jede Sammlung ihre Besonderheiten, die von spezifischen lokalen und institutionellen Gegebenheiten und nicht zuletzt von einzelnen Persönlichkeiten geprägt wurden.
Viele ältere Universitätssammlungen entstanden im Kontext universalistischer Vorstellungen von Wissenschaft; mit fortschreitender Spezialisierung und zunehmender Diversifizierung erfolgte eine Differenzierung der Sammlungen nach Fächern. Viele selbständige, fachbezogene Sammlungen entwickelten sich erst im Laufe des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts.
Die ersten organisierten Sammlungen waren mit der Lehre der Medizin verbunden, nämlich das Theatrum anatomicum und der Hortus medicus bzw. der botanische Garten, die sich rasch über Europa ausbreiteten.30 Die Anatomie, die Lehre vom Bau des Organismus, gilt als das erste akademische Lehrfach mit praktischen Demonstrationen.31 So forderte im 16. Jahrhundert der in Padua lebende flämische Arzt und Anatom Andreas Vesalius (1514–1564)[], "dass der Universitätslehrer selbst sezieren und die anatomischen Gegebenheiten an der Leiche demonstrieren sollte".32 Zu den Lehrveranstaltungen eines jeden Winterhalbjahres gehörten daher anatomische Präparationen und Demonstrationen. Das Theatrum anatomicum (Amphitheatrum anatomicum) in Padua entstand im Jahr 1594 als erstes seiner Art.33 Durch die dort vorgenommenen Sektionen wurden Präparate gewonnen, die der akademischen und praktischen Ausbildung dienten. Die zuvor traditionell aus Büchern gelehrte Anatomie wandelte sich damit allmählich zu einer empirischen Naturwissenschaft.34 In der Folgezeit entstanden allerorts an den medizinischen Fakultäten anatomische Kabinette, wobei sich dieser Prozess in manchen Ländern bis ins 18. Jahrhundert hinzog.35
Die botanischen Gärten zählen zu den ältesten und traditionsreichsten wissenschaftlichen Einrichtungen. Ihre Vorläufer waren die Klostergärten des Mittelalters, in denen man Gewürz- und Arzneipflanzen für den praktischen Gebrauch kultivierte. Als die ersten Universitätsgärten gegründet wurden, war die Botanik noch keine selbständige Wissenschaft; sie wurde von Medizinern gelehrt, die ihren Studenten die Kenntnis und Wirkungsweise der Heilpflanzen vermittelten. Daher wurde mancher Universitätsgarten zunächst als Hortus medicus (Hortus physicus, Hortus simplicium) gegründet, dessen Aufgabe es war, Anschauungsmaterial für die Studenten der Medizin zu liefern. Der erste Hortus physicus wurde 1543 in Pisa angelegt, dann folgte der Hortus medicus Patavinus. In Padua führte der Mediziner und Botaniker Francesco Buonafede (1474–1558) die Trennung von Vorlesung (lectio) und Demonstration (ostensio) der Heilpflanzen (simplices) ein. Der Ostensor simplicium war gleichzeitig der Direktor bzw. Präfekt des Gartens.36 In den botanischen Gärten wurden jedoch nicht nur Pflanzen für medizinische Zwecke (Materia medica) angebaut, getrocknet und gemischt, sondern auch geologische Präparate gesammelt, denen eine gewisse Heilkraft zugesprochen wurde. Mineralien und Fossilien wurden im 17. und 18. Jahrhundert auch in den medizinischen oder anatomischen Schulen in Europa wie in Leiden oder Oxford gesammelt, "for the light they might shed on comparative anatomy, or as teaching aids".37
Etwa gleichzeitig mit der Begründung botanischer Gärten wurden Herbarien angelegt, also Sammlungen von getrockneten oder gepressten Pflanzen. Ulisse Aldrovandi, Naturforscher und Professor de fossilibus, plantis et animalibus an der Universität Bologna38 beispielsweise begann 1551 mit der Anlage seines Herbariums.39 Als das erste institutionalisierte Herbarium gilt eine sechs Jahre zuvor an der Universität Padua begründete Pflanzensammlung.40
Gegen Ende des 16. Jahrhunderts brachten Apotheken und botanische Gärten auch Museen hervor.41 An der 1575 begründeten Universität Leiden gab es zwei solcher Einrichtungen, eine im Ambulacrum des Hortus physicus, eine im Theatrum anatomicum. Die Kataloge des Hortus physicus belegen, dass dort neben Naturalia, einer großen Anzahl exotischer Tiere, auch Artificialia gesammelt wurden.42 Die größere Sammlung befand sich allerdings im anatomischen Theater, gebaut 1591–1593, in dem die beiden Professoren der Medizin, Pieter Paaw (1564–1617) und Otto van Heurn (1577–1652), eines der berühmtesten Kuriositätenkabinette in Europa schufen. Außer im Winter, wenn das Theater für öffentliche Sektionen reserviert war, wurde der Platz für die Ausstellung einer Sammlung von Skeletten genutzt.43 Nach Paaws Tod im Jahre 1617 übernahm Otto von Heurn die Verantwortung für die Einrichtung und begann damit, Paaw's Anatomiekammer in ein enzyklopädisches Kuriositätenkabinett umzuwandeln.
Nicht wenige akademische Sammlungen übernahmen Bestände von Kuriositäten- oder Naturalienkabinetten und Kunstkammern aus dem Besitz von Gelehrten, wissenschaftlichen Gesellschaften oder Landesfürsten. Die Basis für das Zoologische und das Mineralogische Museum der Universität Kopenhagen, etabliert 1862 und 1879, bildete das Kabinett von Frederik III. von Dänemark (1609–1670).44 Den Grundstock des 1773 in Göttingen gegründeten ersten Königlichen Akademischen Museums in Deutschland45 stellte das von der Universität erworbene Naturalienkabinett aus dem Besitz von Christian Wilhelm Buettner (1716–1801) dar, der in Göttingen Naturgeschichte lehrte. Und die Universität Amsterdam nahm die Sammlung der Königlichen Zoologischen Gesellschaft Natura Artis Magistra auf.46
Dass sich viele der älteren Universitätssammlungen zunächst in Privatbesitz befanden, liegt darin begründet, dass akademische Lehrer ihre Ausstattung in Wissenschaft und Lehre in der Regel selbst beschaffen, unterhalten und pflegen mussten.47 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts änderte sich diese Praxis, so zum Beispiel an der Universität Göttingen, die um 1800 "als Inbegriff einer geglückten Reformuniversität, als die aufgeklärteste, modernste Hochschule des Reichs, wenn nicht gar Europas"48 galt. Hier wurde ein Akademisches Museum eingerichtet, um die "unentbehrlichsten Hülfsmittel"49 für Forschung und Lehre bereitzustellen. Das Museum beherbergte naturwissenschaftliche Sammlungen, darunter botanische, zoologische und geowissenschaftliche Kollektionen, sowie Münzen, Kunstgegenstände und ethnologische Objekte.50 Darüber hinaus kaufte die Universität in der Folgezeit Sammlungen an, die von Professoren mit privaten Mitteln angelegt worden waren.
Einen speziellen Sammlungstyp verkörpert das physikalische Kabinett des 17., 18. und 19. Jahrhunderts. Eine der ältesten Einrichtungen dieses Typs ist das im Jahre 1675 begründete Leidener Physikalische Kabinett,51 das heute zum Boerhaave Museum52 gehört, dem Nationalmuseum für die Geschichte der Wissenschaften und der Medizin in Leiden. Leiden war die erste Universität, die die neue Experimentalmethode in ihr Curriculum aufnahm und dafür einen speziellen Raum mit Instrumenten einrichtete, das sogenannte Theatrum physicum. Lehrveranstaltungen in Physik wurden nun nicht mehr allein mit Wortvorträgen bestritten, sondern durch Demonstrationen angereichert. In der Folge entstanden auch an anderen Universitäten entsprechende Kabinette mit Instrumentensammlungen. Eines der am besten erhaltenen Kabinette für experimentelle Physik ist das 1772 an die Universität Coimbra überführte physikalische Kabinett des Colégio dos Nobres in Lissabon, das noch heute im Museu da Física53 zu besichtigen ist. Es enthält physikalische Instrumente aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Ein weiteres berühmtes Beispiel ist das im Jahr 1778 von Alessandro Volta (1745–1827) begründete physikalische Kabinett54 an der Universität von Pavia.
Einige physikalische Kabinette enthalten auch spezielle Instrumente von Universitätssternwarten für astronomische Beobachtungen. Vor der Errichtung von eigenständigen Universitätssternwarten wurden zunächst private Dachgeschosse aus- oder Türme angebaut. Als älteste Universitätssternwarte in Europa gilt die Sterrewacht Leiden.55 Sie wurde 1633 als Observatorium der Universität Leiden erbaut. 1726 wurde der Bau von La Specola in Bologna, an der ältesten Universität Europas, vollendet. Sie beherbergt heute ein Museum56 mit einer Sammlung von astronomischen Instrumenten.
Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts spielen zudem Modellsammlungen – teilweise eigens in Modellkammern untergebracht – eine wichtige Rolle. An manchen Universitäten waren sie Teil mathematisch-physikalischer Kabinette, z. B. in Cambridge oder Haarlem. In Göttingen und Heidelberg bildeten sie eigenständige Bereiche, die allen Universitätsprofessoren zur Verfügung standen. In der meist von Mathematikern betreuten Göttinger Modellkammer57 wurden Modelle und andere Objekte aus den Bereichen Res militaris, Architectura, Machinae, Res metallica sowie Scientifica gesammelt. Eine eingehende Untersuchung der Geschichte solcher universitären Modellkammern steht noch aus.58
In einigen Disziplinen sind besondere Lehrsammlungen angelegt worden, die in manchen Fächern bis heute genutzt werden. Zu den frühen kulturwissenschaftlichen Studiensammlungen, die sich überall in Europa etabliert haben, gehören numismatische Sammlungen und Sammlungen von Gipsabgüssen antiker Skulpturen. Die vermutlich früheste numismatische Lehrsammlung an einer deutschen Universität wurde 1768 an der Universität Halle begründet. Ihren Grundstock bildete die von Johann Heinrich Schulze (1687–1744) angelegte Sammlung antiker Münzen, das sogenannte Numophylacium Schulzianum. Schulze hielt 1738 anhand seiner Privatsammlung ein eigenes Kollegium über die Münzwissenschaft und wurde damit zum Begründer dieser wissenschaftlichen Disziplin.59 Christian Gottlob Heyne (1729–1812), der als Begründer der Archäologie "als eines universitären Lehrfachs"60 gilt, richtete ab 1767 an der Universität Göttingen die erste deutsche Sammlung von Gipsabgüssen antiker Skulpturen ein, um den Hörern der Vorlesung Die Archäologie oder die Kenntniß der Kunst und der Kunstwerke des Alterthums "eine Vorstellung von der realen Größe und der plastischen Form dieser Bildwerke"61 zu geben.
In den technischen und naturwissenschaftlichen Fächern sind vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Sammlungen mit Modellen, Maschinen und Werkzeugen; Instrumenten, Geräten und Apparaten; Materialien etc. aufgebaut worden, einerseits zur Unterstützung experimenteller Arbeiten und andererseits zur Demonstration im Unterricht. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Bedeutung dieser Sammlungen für Forschung und Lehre jedoch merklich nachgelassen; das Interesse daran erlebte erst im Zuge jüngerer wissenschaftshistorischer Forschung einen neuen Aufschwung.
Auch Kunstsammlungen weisen an den europäischen Universitäten eine lange Tradition auf. In ihrer Entwicklung unterscheiden sie sich dabei von allen anderen Sammlungen, da sie nicht mit der Begründung universitärer Lehrfächer verknüpft sind. Oft beherbergen sie aber Objekte, welche die Geschichte einer Universität repräsentieren, etwa in Form von Gelehrtengalerien. Eine der ältesten bedeutenden akademischen Kunstsammlungen in Europa bewahrt die 1692 begründete Akademie der schönen Künste in Wien.62 Als visuelles Gedächtnis spiegelt sie die über 300 Jahre dauernde Lehrtätigkeit wider.63 Viele Kunstsammlungen kamen als Schenkungen an die Universität; im 18. Jahrhundert war dies eine gängige Praxis. General John Guise (1682–1765) beispielsweise vererbte seine Picture Gallery mit über 200 Gemälden und 2.000 Graphiken an sein ehemaliges College, das Christ Church College an der Universität Oxford.64
Bestandsaufnahme: Typen von Sammlungen
Bei dem Versuch, Universitätssammlungen zu kategorisieren, lassen sich fünf verschiedene Typen ausmachen: die Forschungssammlung, die Lehrsammlung und – kombiniert – die Lehr- und Forschungssammlung, die nicht mehr aktuell genutzte, historische Lehr- und Forschungssammlung sowie die (sonstige) Sammlung, die nicht in erster Linie für Lehr- und Forschungszwecke angelegt ist. In letztere Kategorie fallen insbesondere Sammlungen zur Geschichte der Universität oder Nachlässe. Daneben gibt es spezielle Sammlungsformen, die an Universitäten zu den Studieneinrichtungen gehören und die von der üblichen musealen Kategorisierung abweichen: Aquarium / Terrarium / Zoo, Botanischer Garten / Arboretum, Geopark / Geologischer Garten, Herbarium, Karzer, Schallarchiv und Sternwarte.
Lehr- und Forschungssammlungen können ganz unterschiedliche Funktionen übernehmen: Sie bilden allgemein die Materialbasis für Forschung und Lehre, sie dienen als Archiv oder als Labor, sie unterstützen die Lehre innerhalb einer Disziplin mit einer ständigen oder einer thematisch beschränkten, temporär genutzten Sammlung oder ermöglichen als historische Quelle spezifische wissenschaftliche Untersuchungen. Die geschilderten Varianten schließen sich dabei nicht gegenseitig aus; im Gegenteil ist die jeweilige Nutzung einer Sammlung stets abhängig von den Fragestellungen bzw. den Forschungsmethoden und didaktischen Konzepten des jeweiligen Faches, die im Laufe der Zeit variieren. Darüber hinaus werden akademische Sammlungen auch der allgemeinen Öffentlichkeit präsentiert.
Funktionen
Die Sammlung als primäre Materialbasis für Forschung und Lehre
Die Anlage einer Sammlung war bei der Herausbildung zahlreicher Disziplinen von wesentlicher Bedeutung, denn sie stellte die eigentliche Arbeitsgrundlage für die Forschungs- und Lehrtätigkeit dar. Einerseits wurde das Material als Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Arbeit genutzt, andererseits diente es in der Lehre als Anschauungsmaterial. Das gilt für viele human- und veterinärmedizinische Fächer, aber auch für alle naturkundlichen Fächer. Auch im kulturwissenschaftlichen Bereich stellte und stellt die Sammlung zuweilen die primäre Materialbasis dar. Das Fundament der Anfang des 20. Jahrhunderts etablierten Vergleichenden Musikwissenschaft in Berlin bildete beispielsweise eine Sammlung von Tondokumenten, das 1904 begründete Phonogramm-Archiv, das 1963 in die Abteilung Musikethnologie im Ethnologischen Museum integriert wurde.65
Die Sammlung als Archiv
Selbst wenn eine wissenschaftliche Sammlung in Forschung und Lehre keine zentrale Rolle mehr spielt, besteht ihr Wert in ihrer Funktion als Archiv. Das gilt insbesondere für naturkundliche Sammlungen. Wenn zum Beispiel eine neue Pflanzenart entdeckt wird, muss sie mit dem jeweiligen Typusexemplar verglichen werden, also mit dem Exemplar, an dem die Art zum ersten Mal beschrieben wurde. Hierbei kann auf entsprechende Bestände zurückgegriffen werden. Geowissenschaftliche Sammlungen enthalten häufig besonders wichtiges Referenzmaterial, also Belegmaterial, das im Rahmen von Qualifizierungs- oder Forschungsarbeiten untersucht und in wissenschaftlichen Veröffentlichungen beschrieben ist. Darüber hinaus stellen geowissenschaftliche Sammlungen wertvolle Informationsquellen für die Umweltforschung dar, beispielsweise Bohrkernarchive für die Rekonstruktion von klimatischen und ökologischen Umweltbedingungen.66 Entsprechend können auch ältere medizinische Sammlungen als Archiv dienen. Beispielsweise werden historische Bestände heute dazu genutzt, mit Hilfe von DNA-Analysen frühere Krankheiten zu untersuchen.67
Die Sammlung als Labor
Sammlungen können als eine Art "Labor" dienen, in dem Objekte beobachtet, miteinander verglichen und für experimentelle Untersuchungen genutzt werden. In Disziplinen wie z. B. der Zoologie, Botanik, Geologie, Mineralogie, Paläontologie und Archäologie kann Wissen durch die direkte Beobachtung und den Vergleich von Objekten generiert werden. In der Physik und den davon abgeleiteten Wissenschaften sowie in den Ingenieurwissenschaften geschieht dies durch Experimente, deren Materialbasis die Objekte darstellen. Diese Gegenstände haben nach Abschluss des Experiments jedoch nur noch einen historischen Wert, so dass viele dieser Objekte und Sammlungen nicht aufbewahrt werden, während die Sammlungen der ersten Kategorie erhalten bleiben.
Die Sammlung als permanenter akademischer Lehrraum
In einigen Fächern stützt sich die Lehre neben schriftlichen oder bildlichen Zeugnissen auch auf Sammlungen von Naturalia und Artificialia. Dafür wurden vielfach spezielle Sammlungen aufgebaut und Studienräume angelegt, vor allem für naturkundlich ausgerichtete Fächer mit botanischen, zoologischen und geowissenschaftlichen Sammlungen. Typische Beispiele sind der Botanische Garten und das Herbarium.
In den kulturwissenschaftlichen Fächern bilden Lehrsammlungen vor allem im Bereich der Archäologie eine der Grundlagen des akademischen Unterrichts, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung. Besonders bedeutsam sind sie in der Klassischen Archäologie, der prähistorischen Archäologie, der Ägyptologie, der Sudanarchäologie, der Vorderasiatischen Archäologie oder der Christlichen Archäologie. Eine solche Sammlung beinhaltet etwa das 1803 begründete Tartu Ülikooli Kunstimuuseum,68 heute im Hauptgebäude der Universität Tartu untergebracht, in dem neben Objekten der Klassischen Archäologie auch moderne Kunstwerke ausgestellt werden.
Die thematische Sammlung zur temporären Unterstützung der Lehre
In zahlreichen Disziplinen wurden Lehrsammlungen zu bestimmten Themenbereichen angelegt, deren Nutzung von der Aktualität des Gegenstandes abhing und entsprechend zeitlich beschränkt war. Von dieser Flüchtigkeit ist auch die Geschichte vieler Modellsammlungen bestimmt, beispielsweise im Falle von mathematischen Modellen. Modellsammlungen wurden vor allem in den technischen Fächern intensiv genutzt, spielten aber auch für den Unterricht in anderen Fächern, z. B. in der Medizin oder in der Biologie, eine große Rolle.69 Berühmt geworden sind die Glasmodelle von Leopold (1822–1895) und Rudolf Blaschka (1857–1939), die weltweit in vielen zoologischen Sammlungen zu finden sind.70
Die historische Sammlung als Quelle für wissenschaftsgeschichtliche Untersuchungen
An den Universitäten existieren des Weiteren zahlreiche sogenannte historische Sammlungen, die nicht mehr ihre ursprüngliche Forschungs- und Lehrfunktion erfüllen, wie z. B. Sammlungen physikalischer Geräte, Instrumentenkabinette oder Maschinen- und Modellsammlungen. Dazu gehört die Sammlung physikalischer Geräte, die Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799)[] 1783 an der Universität Göttingen aufbaute und aus privaten Mitteln finanzierte.71 In seiner Vorlesung zur Einführung in die Experimentalphysik waren die Demonstrationsobjekte die Hauptattraktion. Derartige Sammlungen, die die historische Entwicklung eines Faches dokumentieren, spielen nicht nur eine wichtige Rolle im Hinblick auf die Identität der jeweiligen Disziplinen, sie dienen auch als Quelle für Untersuchungen zur Wissenschaftsgeschichte und können damit selbst zum Forschungsgegenstand werden.
Die Sammlung als Raum der Präsentation
Universitätssammlungen wurden und werden vielfach als Museum bezeichnet. Aber mit diesem Terminus wurde im Laufe der Geschichte eine Vielzahl von Dingen bezeichnet: unter anderem eine "Sammlung von Kunstwerken, öfters auch von Büchern und Naturproducten", eine "Kunst-Kammer", ein "Müntz-Cabinet", eine "Rarität- und Antiquitäten-Kammer" oder ein "Ort, wo man zusammen kommt, um sich mit den Wissenschaften und schönen Künsten zu beschäftigen".72 Demnach stimmt die Kennzeichnung oder Charakterisierung als 'Museum' oft nicht mit derzeitigen Begriffsbestimmungen wie der modernen ICOM-Definition überein.73 Anders als heute waren Universitätssammlungen jedoch in der Vergangenheit vielfach für Außenstehende geöffnet. Beispielsweise führt der Wegweiser für Fremde und Einheimische durch Berlin und Potsdam74 aus dem Jahr 1833 neben vielen anderen Sehenswürdigkeiten auch die "Museen" der Berliner Universität auf, die nach Vorlage einer Einlasskarte oder auf Voranmeldung auch von Touristen besucht werden konnten.75 Aus der gegenwärtigen Perspektive stellt sich daher die Frage, ob nicht erst eine zunehmend aktive und intensive Nutzung als Lehr- und Forschungssammlung zum Ausschluss der allgemeinen Öffentlichkeit führte.
Fazit und Ausblick
Die europäischen Universitäten verfügen über ein außerordentlich breites Spektrum an Sammlungen mit einer einzigartigen Materialkultur, die für die Herausbildung vieler wissenschaftlicher Disziplinen wesentlich war. Selbst Experten sind bisweilen von der Fülle und Vielfältigkeit an Beständen überrascht, die an den Universitäten zu finden sind. Aber selbst Sammlungen, die offensichtlich nur noch historischen Wert besitzen, können durch neue Forschungsmethoden, Fragestellungen oder didaktische Konzepte wieder an Relevanz gewinnen. Es ist daher grundsätzlich notwendig, Universitätssammlungen zu bewahren, um die Forschungspotentiale für künftige Generationen zu sichern sowie die materiellen Zeugnisse der Wissenschaftsgeschichte zu erhalten und als Kulturgut zu schützen.
Erfreulicherweise hat in den letzten Jahren eine breite historische Forschung zu den Sammlungen und ihren Beständen in Europa eingesetzt, woran die zu Beginn des 21. Jahrhunderts entstandenen überregionalen Netzwerke im Bereich der Universitätssammlungen einen wesentlichen Anteil haben.76 Durch sie wurde der Blick nicht nur auf museologische Aspekte gelenkt, sondern auch auf die Geschichte der Sammlungen. Hinzu kommt ein neu erwachtes historisch-epistemologisches Interesse an der Bedeutung von Materialitäten für die wissenschaftliche Praxis mit anregenden Studien zu ausgewählten Sammlungsobjekten oder Objektgruppen. Bisher wird der Kulturtransfer in Europa vor allem auf der Objektebene sichtbar, beispielsweise bei den Lehrmodellen. Die von dem Florentiner Clemente Susini (1754–1814) für das Museum La Specola hergestellten anatomischen Wachsmodelle haben in viele europäische Sammlungen Eingang gefunden. So hat Kaiser Joseph II. (1741–1790) bei einem Besuch des Museums im Jahre 1780 eine große Anzahl von Modellen für das Museum Josephinum77 in Wien geordert.78 Von besonderer Bedeutung sind überdies u. a. die Arbeiten des Franzosen Louis Auzoux (1797–1880), dessen botanische und zoologische Modelle aus Pappmaché in ganz Europa abgesetzt wurden.79 Auch mathematische Modelle sind auf Reisen gegangen: So finden sich die in Deutschland weit verbreiteten Modelle der Verlagshandlung Martin Schilling aus Leipzig und anderen Orten auch an der Universität von Coimbra, wo gerade an einer Erschließung der Modelle gearbeitet wird. Hält diese Tendenz an, wird man wohl bald eine umfassende Geschichte der Universitätssammlungen im europäischen Kulturraum schreiben können. Diese könnte auch die überregionalen Beziehungen zwischen den Sammlungen nachzeichnen, die schon in der Frühen Neuzeit entstanden und bisher nur unzureichend erforscht wurden.