Einleitung
Es ist unbekannt, wann genau der heute internationial gebräuchliche Begriff "Wunderkammer" ("Wunderkamer" / "Wundercamera") im deutschsprachigen Raum (inkl. Niederlande) erstmalig aufkam. Ab Mitte des 16. Jahrhunderts erscheint er jedoch in einigen Inventaren bzw. Beschreibungen.1 Parallel begegnen Bezeichnungen wie Thesaurus, Museum, Studiolo oder – bereits zu Beginn jenes Jahrhunderts und der inszenatorischen Intention dieser Schausammlungen besonders nahe – Theatrum bzw. Theatrum Sapientiae / Memoriae. Ähnlich populär war die Bezeichnung "Kunstkammer". Die Zuordnungen sind anfangs selten spezifisch, da "Kunst" und "Wunder" bisweilen synonym genutzt wurden. Die Begriffe Kunst- und/oder Wunderkammer2 spiegeln das Prinzip der Gleichrangigkeit wider, nach dem sowohl un- oder kaum bearbeitete natürliche als auch künstliche Objekte und Gebrauchsgegenstände präsentiert wurden. Somit wurden Kunst und Natur in einen Kontext gesetzt und einem "globalen System der Entsprechungen"3 von Makrokosmos und Mikrokosmos zugeordnet. Unter Wundern verstand man staunenswerte Besonderheiten der Natur, die die drei aristotelischen Reiche (Pflanzen, Tiere, Mineralien) umfasste. Die Natur war in einer artifiziell bearbeiteten, hierzulande bis dato unbekannten Kokosnuss genauso präsent wie in filigranen Korallenästen oder Tierskeletten. In der um 1578 eingerichteten herzoglichen Wunderkammer in München fanden sich beispielsweise ein Auerochsenkopf und Gehörnmißbildungen in unmittelbarer Nähe zu "indianischen" Gefäßen bzw. Textilien; "indianische" Waffen standen neben Bleiabgüssen von Tieren.4
Das Sammeln selbst sowie der Impetus, Heilig- und Reichtümer zur Schau zu stellen, ging nicht zuletzt auf den christlichen Reliquienkult zurück. Im Übergang zur Frühen Neuzeit führte zudem die ganz allmählich beginnende Entsakralisierung religiös-transzendenter Weltbilder und die Ausbreitung humanistisch geprägten Wissens dazu, dass differenzierte profane Andachts- und Studierräume, sogenannte "Studioli", eingerichtet wurden. Die mythisch-mystische Aura etlicher Gegenstände – und damit der Antagonismus von Wissen und Glauben – sollte allerdings noch lange erhalten bleiben. Studioli können als Grundlagen für die um die Mitte des 16. Jahrhunderts entstandenen, raumgreifenden fürstlichen Sammlungskammern5 gelten. Deren Ausbreitung erreichte etwa in der Mitte des 17. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Bis dahin waren solche Kammern von nahezu sämtlichen elitären gesellschaftlichen Gruppen – vom Adel und dem Klerus bzw. den Klöstern,6 vom Patriziat ebenso wie vom aufkeimenden Bürgertum – errichtet worden, wobei die Initiativen jeweils auf unterschiedliche Motive zurückzuführen waren.
Von den Frühformen bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts existieren keine komplett erhaltenen Sammlungen. Zwar gibt es neben aussagekräftigen Inventaren auch Beschreibungen, Tagebucheintragungen und Reiseberichte als durchaus verlässliche Quellen. Historische Bildzeugnisse, die eventuell über die Ausstattung und somit über die räumliche Kontextualisierung der Dinge Auskunft geben könnten, fehlen jedoch. Dass Objekte und Naturalia nicht mehr auffindbar sind, erschwert es zusätzlich, die wesentlichen emblematischen Bedeutungszusammenhänge nachvollziehen zu können. Authentische Rekonstruktionen erscheinen somit unmöglich, und dennoch sind derartige Versuche, besonders in Museen, durchaus üblich. Mancherorts kommt deshalb der Eindruck auf, jene Institutionen sähen sich schlicht als Nachfolger frühneuzeitlicher Wunderkammern. Museen müssen aber "angesichts [ihrer] strikten Trennung der verschiedenen Gegenstandsbereiche und [ihrer] hochspezialisierten Sammlungen viel mehr als … Zerfallsprodukt [der Wunderkammern] gelten".7
Obgleich oder gerade weil die Ursprünge der Wunderkammern im Dunkeln liegen, bemerkenswert-kunstvolle Kammerstücke aber als deren Zeugnis überdauert haben, wirkt das Phänomen in vielfältiger Weise bis in die Gegenwart.– Sowohl in der realen Welt, in Gestalt von Rekonstruktionsversuchen8 in Ausstellungen,9 aber auch im virtuellen Raum des Internets, das das Sammlungs- und Vernetzungsprinzip aufnimmt, finden sich Spuren der Ideen, die der Kunst- und Wunderkammer zugrunde liegen.
Der Begriff "Wunderkammer" wird im Allgemeinen inflationär gebraucht. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein blieben diese vielgestaltigen Modelle der Weltaneignung als wenig erkenntnisleitende "Kuriositätenkabinette" auch von Seiten der Wissenschaftsgeschichte weitgehend unbeachtet.10 Vor allem Kunsthistoriker bzw. Bildwissenschaftler zu Beginn und gegen Ende des 20. Jahrhunderts erkannten allerdings die Bedeutung und Tragweite dieser Weltmodelle. Zwar sah deren Wiederentdecker Julius von Schlosser (1866–1938) die Sammlungen noch als Skurrilitäten in einem Zeitalter "voll der sonderbarsten Schrullen und Grillen";11 ab den 1970er Jahren des letzten Jahrhunderts begann jedoch eine breite wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Sujet.12 Auch Künstler und Kuratoren riefen Wunderkammern en miniature oder als raumgreifende Installationen wieder ins Gedächtnis13 und erlaubten so zumindest den adäquaten ganzheitlichen Blick. Der künstlerisch-gestalterische Einfluss und die Rezeption der Wunderkammern sind somit Zeichen der Kontinuität. In der Renaissance waren es in Geometrie und Arithmetik versierte Künstler, die durch ihre Wanderschaft maßgeblich zum grenzüberschreitenden kulturellen Austausch beitrugen, im Barock dann Maler und Bildhauer, die ihren vielfach ungenannten Anteil an der Gestaltung und bisweilen – sofern naturwissenschaftlich "imprägniert" – ebenso an der Systematik von Wunderkammern hatten.
Wurzeln im 15. Jahrhundert: Der erweiterte Blick
Entscheidend für die Entstehung der Wunderkammer war die "Erfindung" der Zentralperspektive, anhand derer die ordnende Struktur des Raumes anschaulich wurde.14 Als Ausgangspunkt für diese neue Wahrnehmung sind die Studioli des italienischen Adels zu verstehen.
Bevor das perspektivische Sehen in der italienischen Malerei des 15. Jahrhunderts nachhaltig manifest wurde, kannte die mittelalterliche Optik, die auf der arabischen Sehtheorie basierte, die Perspectiva Naturalis. Gegenstand von (Architektur-)Zeichnungen waren bis dahin vor allem Komponenten, die physikalische Besonderheiten einbezogen, beispielsweise menschliche Sehvorgänge oder optische Phänomene, wie etwa die Lichtbrechung. Erst als die Perspectiva Artificialis eingeführt wurde, ließ sich der Blick des Betrachters erweitern. Natürliche Wahrnehmungseindrücke konnten nun zweidimensional nachvollzogen werden.
Der Fensterbegriff der Neuzeit in seinem künstlerischen und philosophischen Sinn lässt sich [vom Konzept der Perspektive] als Modell der Wahrnehmung nicht trennen. Auch ein neuer Raumbegriff gehört, gemeinsam mit der Entdeckung des Horizonts, zu dem Kontext, aus dem sie hervorgegangen ist.15
Zu den ersten Raumtypen, die auf dieses Prinzip zurückgehen, gehören die Studioli des Herzogs Federico III. da Montefeltro (1422–1482) in seinen Residenzen Urbino und Gubbio aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. Ihre intarsierten Wandpaneele mit Darstellungen von Kammern, Nischen, Ausblicken und Gegenständen als Trompe-l'œil evozieren eine zweidimensionale Öffnung des dreidimensionalen Innenraums nach außen.16
Die Fürsten nördlich der Alpen orientierten sich ebenfalls an dieser Idee und nahmen in ihren Wunderkammern eine sich weitende Welt modellhaft vorweg. Der Mikrokosmos wurde allerdings mit Gegenständen umrissen, die der realen Welt entnommen waren. Der Raum dehnte sich nicht mehr illusionistisch nach außen, sondern die Welt selbst wurde in die Kammer geholt. Durch die bewusste Positionierung der Wunderkammerobjekte erschien auch der unendliche Makrokosmos beherrsch- bzw. interpretierbar. Während die perspektivischen Intarsienbildern der Wunderkammervorläufer noch die Ordnung im Bild und als Bild erfassten, verlagerte sich diese Struktur – parallel mit der Erfindung der Perspektive – gewissermaßen von der Wandvertäfelung in den Raum selbst. Durch den Blick und die Bewegung des Betrachters konnten die Sammlungsgegenstände räumlich in Beziehung zueinander gesetzt werden, wodurch Korrelationen entstanden. Im dreidimensionalen Äquivalent der fürstlichen Wunderkammer wurden – vom Großen bis ins Kleinste und natürlich auch vice versa – schier unzählige Behältnisse und Modelle gezeigt, die die Welt erklären sollten. Dazu zählten ausklappbare Schränke, Schubladen, Regale oder Tische mit den darin oder darauf befindlichen Objekten unterschiedlichster Größe. Angefangen bei kleinen, gedrehten Elfenbeinobjekten, in Gold und Silber gefassten Nautilusmuscheln oder Trinkhörnern bis hin zu Architekturmodellen, Perspektivkästen und anderen optischen Spielereien oder Miniatur-Panoramen präsentierte man erstaunliche Dinge. Besonders die Panoramen waren als "beredsame Dinge" frühneuzeitlicher Sammlungspraxis zu verstehen. Mit ihrer Hilfe ließen sich spezifische Interessen, Fähigkeiten und Handlungsabläufe darstellen – in diesem Sinne wirkten sie an den experimentell-spielerischen Untersuchungen der visuellen Wahrnehmung mit."17
Fürstliche und patrizische Kunst- und Wunderkammern im 16. und 17. Jahrhundert
Die ersten universal angelegten Sammlungsräume richteten Fürsten nördlich der Alpen als Zeichen ihres Herrschaftsanspruchs, mitunter aber auch als Zeugnis eines humanistischen Bildungshintergrundes ein. Das Ziel war dabei stets, eine möglichst vollständige mikrokosmische Enzyklopädie des Makrokosmos zu schaffen. Jedes dafür ausgewählte und darin präsentierte Objekt stellte ein ungewöhnliches Einzelstück dar und stand doch in materieller – vielfach allein durch die Art seiner Anordnung – und in symbolischer Korrespondenz zum benachbarten Ding. Früheren Sammlungsgepflogenheiten entsprechend waren kostbare Gegenstände entweder in geheimen Schatzgewölben, Silberkammern oder Archivräumen aufbewahrt worden. Auf Reisen bzw. Ortswechseln von Residenz zu Residenz hatte man sie in Kisten verpackt, mitgeführt und nur temporär gezeigt. Im Gegensatz dazu bekamen die Gegenstände nun in Studierzimmern oder größeren Raumfluchten einen festen, stets zugänglichen Ort zugewiesen, an dem sie jederzeit vorgeführt werden konnten.
Ordnung wird als ein analogisches Prinzip verstanden; nicht der Maßstab makrokosmischer oder mikrokosmischer Dimension ist entscheidend, sondern allein die Reproduktion und Wahrung der im Schöpfungswerk eingeschriebenen, perfekten Ordnung. Erst eine solch analogische Anbindung der Kunstkammer an das Schöpfungswerk entlastet die Sammlungen von dem Vorbehalt, nicht mehr als eine additive Reihung von Objekten zu sein.18
Hinzu kam ein weiterer Ordnungsaspekt, denn die Dinge fanden nicht nur im räumlichen Kontext Platz, sondern wurden auch im Bewusstsein bzw. Gedächtnis des Besitzers, dem sogenannten "Inventor", verankert. Dieser herrschte somit über ein symbolisch überhöhtes, nunmehr überschaubares Miniaturreich. Ein angemessenes architektonisches Ambiente erlaubte es ihm, seine Position gleichsam illustrativ zu manifestieren.
Die Bedeutung einzelner Sammlungsgegenstände, die Horst Bredekamp (geb. 1947) adäquat den Bereichen "Naturform – antike Figur – Kunstwerk – Maschine"19 zuordnete, ergab sich durch verschiedene Aspekte. Ihre Einzigartigkeit verdankten sie entweder ihrem materiellen Wert, ihrer technischen Raffinesse, einer unverwechselbaren Geschichte (z.B. ihrer Herkunft, wodurch der mittelalterliche Reliquienkult nachklang), oder sie waren wegen ihrer Seltenheit weithin unbekannt und galten nicht zuletzt deshalb als "wunderbar".
Die bedeutendsten Inventoren entstammten – angesichts ihrer weltumspannenden Handelskontakte und des imperialen Anspruchs der Familie wenig überraschend – der Habsburger Dynastie. Die Basis der Sammlungen von Erzherzog Ferdinand von Österreich (1529–1595) auf Schloss Ambras in Innsbruck und seinem Neffen Kaiser Rudolf II. (1552–1612) in Prag ging auf die Kaiser Maximilian I. (1459–1519) und Ferdinand I. (1503–1564) zurück. Nicht zuletzt war der Erwerb etlicher Stücke den intensiven Verbindungen zu den Fuggern zu verdanken.
Auch mit den Wittelsbachern unterhielt die Augsburger Handelsfamilie Wirtschaftskontakte und einen kulturellen Austausch. Diese gestalteten sich ähnlich nachhaltig wie im Falle der Habsburger, auch wenn die Fugger seltener als Kreditgeber fungierten. Die Wittelsbacher gehörten insofern zu den Pionieren der Wunderkammerentwicklung, als Bayernherzog Albrecht V. (1528–1579) in der erweiterten Münchner Neuveste mutmaßlich das erste eigenständige Gebäude errichtete, um dort die bereits erwähnte Kunst- und Wunderkammer zu etablieren. In München fanden sich ca. 6000 Objekte,20 verteilt über vier Säle auf 60 Tischen und Kredenzen. Teilweise stammten die Gegenstände aus der Sammlung von Herzog Ludwig X. (1495–1545), der wahrscheinlich schon in den 1540er Jahren im sogenannten "Italienischen Bau" seiner Landshuter Stadtresidenz eine Kunstkammer initiiert hatte.21 Die Antikensammlung war bereits sieben Jahre zuvor (1571) in der tonnengewölbten Raumflucht des Antiquarium aufgestellt worden. Ihr Bestehen war besonders der Vermittlung Johann Jakob Fuggers (1516–1575) mit dem Mantuaner Diplomaten und transalpinen Verbindungsmann Jacobus Strada (1507–1588) zu verdanken. Letzterer stand um 1571 für Albrecht V. als Antiquarius in Lohn und war mit dem als gelehrt geltenden Johann Jakob Fugger für die Systematisierung der antiken Numismatik zuständig.
Für das patrizische Sammlertum im 16. Jahrhundert war Süddeutschland als merkantile Zentralregion der wesentliche Ausgangspunkt. Neben den Nürnberger waren es besonders die Augsburger Gelehrten und Patrizier, die auf eine lange Sammlungstradition zurück blicken konnten. Unklar ist jedoch, inwieweit sie die entscheidenden Impulse zur Ausformung der universal angelegten Sammlungsräume gaben, die der Hochadel dann zur Blüte treiben sollte. Es wird vermutet, dass bereits Raimund Fugger (1489–1535) in seinen Privaträumen über eine der ersten profanen "Studiosammlung[en] … außerhalb der Humanistenkreise"22 verfügte. Damit legte er wahrscheinlich den Grundstein für den Sammlungsbestand der Fuggerschen Dynastie. Eine der herausragenden humanistischen Sammler- und Gelehrtenpersönlichkeiten war der Stadtschreiber Konrad Peutinger (1465–1547). Er betrieb Inschriftenforschung und Studien zur Geschichte der Augsburger Gegend. Der Grundstock seiner Sammlung ist um 1500 anzusiedeln und umfasste eine Bibliothek sowie Münzen und Antiken. Die daraus erwachsenen "studiorien" – womit der räumliche Charakter auf Vorbilder hinweist, die Peutinger bei zahlreichen Italienreisen nachweislich rezipiert hatte – verteilten sich über drei Räume. Dort fanden sich – vermischt mit dem Wohnmobiliar – Gemälde und Graphiken, Antiken, Waffen sowie Geweihe und ausgestopfte Tiere.
Für die umfangreicheren fürstlichen Sammlungen bzw. Wunderkammern ließ sich eine Systematik überwiegend mithilfe von Inventaren oder theoretischen Entwürfen nachvollziehen, weniger jedoch anhand der eher assoziationsreichen Kammerarrangements selbst. Eine der bedeutendsten frühen museumstheoretischen Schriften, die Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi (1565), verfasste der aus Antwerpen stammende Arzt Samuel Quiccheberg (1529–1567). Als vormaliger Bibliothekar bei Johann Jakob Fugger wurde er nach 1557 Kustos der herzoglichen Münchner Wunderkammer. Naturwissenschaftlich geschult, orientierte er sich bei der Entwicklung seines Idealplans allerdings nicht an den Gegebenheiten der Wunderkammer, sondern ließ sich von einem Theatrum Sapientiae inspirieren, dem eine mnemotechnische Struktur zugrunde lag. Der Italiener Giulio Camillo (ca. 1480–1544) hatte um 1550 in L' idea del theatro ähnliches propagiert. Als architektonische Form sah Quiccheberg eine Art Amphitheater bzw. eine nach allen Himmelsrichtungen offene Wandelhalle vor. Außerdem untergliederte er die Dinge ihren Materialien entsprechend und teilte sie in fünf Gruppen auf, deren Teilbereiche einer planetarischen Ordnung unter dem Patronat des Merkurs folgten. Dieses Prinzip setzte sich jedoch weder in München noch in einer der unmittelbar danach errichteten Kammern durch.
Die hier beispielhaft aufgezeigten, auch personellen Verbindungen heben die vielfältigen Strömungen jener Zeit hervor: Die Wunderkammern wurden zu einer Zeit etabliert, als die internationale Handelstätigkeit zunahm, vor allem zwischen dem Mittelmeeranrainer Italien und Deutschland. Der anfängliche Antikenhandel umfasste schon bald etliche Sparten besonders gefragter Kunstkammergüter bzw. deren teils aus Übersee importierten Ausgangsstoffe. Dazu zählten Korallen, Narwalzähne ("Einhörner") sowie Perlen, aber auch präparierte Tiere oder Seychellennüsse. Diese Güter waren über die Niederlande oder im 17. Jahrhundert auf Märkten, wie etwa dem Pariser Foire St. Germain, zu erwerben. Zudem setzte ein nie dagewesener, grenzüberschreitender Wissenstransfer ein. Daran wirkten – anfänglich zwar nicht federführend, aber doch zunehmend – sowohl patrizische Sammlungen als auch teilweise die fürstlichen Kunst- und Wunderkammern entscheidend mit.
Erzherzog Ferdinand II. richtete um 1570 auf Schloss Ambras neben einer Bibliothek, einem Antiquarium und einem Raum für Rüstzeug, auch eine Kunstkammer ein.23 Deren artifzielle Objekte – von Handsteinen über Exotica bis zu Musikinstrumenten – waren im Wesentlichen nach Materialgruppen geordnet und wurden vor farblich unterschiedlich gestalteten Schauregalen präsentiert. Flankiert wurden diese sogenannten "Tatten" von einer, wie in den meisten Sammlungskammern unverzichtbaren, umfangreichen Ahnengalerie sowie von Portraits weiterer historischer Persönlichkeiten. Es fehlte aber auch nicht an diversen Wundern auf Gemälden oder in Gestalt ausgestopfter Tiere.
Nach Ambras gelangten sowohl etliche Objekte aus der "wundercammer" des Grafen Wilhelm Werner von Zimmern (1485–1575) aus dessen Burg im schwäbischen Herrenzimmern24 wie auch aus der Kollektion des Grafen Ulrich von Monfort und Rothenfels (gest. 1574).25 Darüber hinaus wurden komplette Spezialsammlungen in zeitgenössische Kammern aufgenommen, so etwa von Naturalia und Exotica aus dem Kabinett des Bernhard Paludanus (1550–1633) aus Enkhuizen, wo sich eine Niederlassung der Niederländischen Ostindien-Kompanie befand. Diese Stücke fanden sowohl Eingang in die Stuttgarter Kunstkammer von Herzog Johann Friedrich von Württemberg (1582–1628) als auch in die Sammlung von Herzog Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf (1597–1659). Letzterer machte sein Schloss Gottorf in Schleswig mit einer "Kunst-Kammer"26 zu einem nicht zuletzt geographisch einzigartigen Zentrum für Kunst und Wissenschaft im hohen Norden Deutschlands. Zu den spektakulärsten "Einverleibungen" dieser Art gehörten im 18. Jahrhundert die Sammlungen anatomischer und anderer Präparate der naturforschenden Holländer Albertus Seba (1665–1736) und Frederik Ruysch (1638–1731) in die Kunstkammer Peter des Großen (1672–1725).27 Dorthin gelangte übrigens auch der seinerzeit berühmte, weil begehbare sogenannte "Gottorfer Riesenglobus", den Adam Olearius (1599–1671), Hofmathematikus und Sammlungskustode von Friedrich III., um 1660 konstruiert hatte.28
In der Epoche des Manierismus gehörten neben Kaiser Rudolf II. auf dem Prager Hradschin die Landgrafen von Hessen-Kassel in Kassel zu den Inventoren, die Forschungsstätten einrichteten und auf diese Weise Kunst und Wissenschaft explizit förderten. In Prag wurden um 1590 nicht nur eine Wunderkammer, sondern auch Laboratorien, Künstlerateliers und Wildgehege geschaffen. In Kassel eröffnete man etwa gleichzeitig (1590) eine weitgehend öffentlich zugängliche Kunstkammer, die dortige Gründung einer der ersten Sternwarten war sogar bereits 1560 erfolgt.29 In jener Phase konfessioneller Umbrüche dienten diese Orte nicht nur als geeignete Terrains für pansophische Spekulationen, sondern auch dazu, spezifisch naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu erlangen. So wirkten in dieser Zeit Persönlichkeiten wie der Jesuitenpater Athanasius Kircher (1602–1680)[] und der Protestant Johannes Kepler (1571–1630), der mit der Abfassung der sogenannten "Rudolfinischen Tafeln" am Prager Hof der modernen Kosmographie zum Durchbruch verhalf (Keplersche Gesetze).
Abgesehen von den genannten Beispielen ist kaum abschließend zu klären, welche Absichten fürstliche Inventoren der Renaissance bzw. des Barock mit der Initiierung einer Wunderkammer verfolgten. Ob sie darauf zielten, Wissen im Sinne des Fortschritts zu erlangen, oder ob sie die Einrichtungen allein als plastisch-theatrale Inszenierung eines hermetischen Weltbildes bzw. ihrer sozialen Distinktion wegen für ihre Zwecke instrumentalisierten, bleibt offen. Bisher fehlt es zudem an hinreichenden Aussagen darüber, wie viele der zahlreichen Inventoren tatsächlich mit gelehrten bürgerlichen Sammlern und Künstlern – über ein prestigeträchtiges Mäzenatentum hinaus – in unmittelbarem intellektuellem Austausch standen. Es deutet sich aber an, dass der standesübergreifende Dialog verstärkt an solchen kleineren Fürstenhöfen gepflegt wurde, die über bedeutende Bibliotheken statt über prächtige Universalsammlungen verfügten. Dazu zählten etwa die Höfe von Graf Simon VI. zur Lippe (1554–1613) in Lippe-Brake, Laienastronom und Kunstagent für Kaiser Rudolf II., oder des hoch gelehrten Herzogs August von Braunschweig-Lüneburg (1579–1666), der u.a. mit Athanasius Kircher und Johann Valentin Andreä (1586–1654) korrespondierte.30 Obwohl also die Intentionen der einzelnen Investoren insgesamt eher diffus erscheinen, blieb das äußere Kennzeichen der Wunderkammern – Inszenierung geht vor Systematisierung – bis zu ihrer Auflösung bestehen. Zweifellos waren die Wunderkammern aber als Orte des Staunens nicht zu unterschätzende Impulsgeber für die Aneignung von Wissen.
Die Empfindung der Neugierde hat […] ein Gerüst von moralischen, ästhetischen und emotionalen Elementen für die frühmoderne Wissenschaft errichtet, es sorgte für die Auswahl der Gegenstände, der Inhalte und der Haltung: fremdartige Gegenstände – oder landläufige, welche verfremdet wurden –, welche in angespanntester Aufmerksamkeit durch Menschen untersucht wurden, die untereinander häufig lediglich durch ihren Geschmack an solchen Gegenständen und durch die Kultivierung dieser Haltung verbunden waren.31
In einer von dem Augsburger Kaufmann Philipp Hainhofer (1578–1647) erdachten "Produktpalette" ist glücklicherweise die ansonsten fehlende Übersicht zum Kontext der Dinge erhalten geblieben. Der protestantische Humanist und Diplomat hatte sich um 1605, auch aufgrund einer eigenen Wunderkammer, auf den An- und Verkauf von Kunstgegenständen und Kuriosa spezialisiert. Sein Sammlertum und der freie Zugang zu den Bezugsquellen in ganz Europa brachte ihn auf die Idee einer verkäuflichen "transportablen Miniatur-Kunstkammer" in Form eines Schranks bzw. Kastens. Hainhofers Handelsverbindungen zu Fürstenhäusern und seine intensiven Einblicke in deren Kammern sind dank seiner Korrespondenzen mit dem Hause Braunschweig-Lüneburg oder durch Tagebucheintragungen von 1611 über die Münchner bzw. von 1616 über die Stuttgarter Kunstkammer belegt.32 Der berühmteste von drei bekannten, in Ebenholz ausgeführten Schränken ist heute als Gesamtkunstwerk im Museum Gustavianum der Universität von Uppsala zu bewundern: der Kunstschrank für Gustav II. Adolf. Fast der komplette ursprüngliche Inhalt ist erhalten – allerdings ohne Naturalia, die ohnehin selten überdauerten. Aus dem einstigen Besitz des Schwedenkönigs Gustav II. Adolf (1594–1632) ist dieses um 1630 von etlichen Künstlern und Handwerkern geschaffene Prunkstück, im Gegensatz zu seinen jüngeren Pendants, hinsichtlich der Zahl von Geheimfächern oder des Schubladensystems das technisch ausgereifteste und raffinierteste. Sowohl die darin untergebrachten zahllosen filigranen Kunstkammerstücke als auch unterschiedlichste Naturalia und Gebrauchsinstrumente sowie das Bildprogramm sind bzw. waren bis ins kleinste auch emblematisch aufeinander abgestimmt. Dieses konzentrierte Welt-Modell ermöglicht noch heute als eines der wenigen, wenn nicht als einziges Exempel verlässliche Einblicke in die Weiterentwicklung der Wunderkammeridee zu Beginn des 17. Jahrhunderts.
Zeitgleiche kommunale Sammlungsräume im 17. Jahrhundert
Mitte des 17. Jahrhunderts existierte in Mitteleuropa ein flächendeckendes Netz von Kunst- und Wunderkammern jedweder Couleur sowie von spezialisierten Naturalienkabinetten. Dieses Geflecht reichte von Bologna bis Prag, von Straßburg bis ins Burgenland, von Kopenhagen bis Zürich.33 Reiseführer, Verkaufskataloge34 und zu Beginn des 18. Jahrhunderts schließlich bedeutende sammlungs- bzw. museumstheoretische Leitfäden, wie von Johann Daniel Major (1634–1693) oder Caspar Friedrich Jencquel (1679–1729), verdeutlichen dies.
Neben fürstlichen Kammern und patrizischen Sammlungsräumen gab es in den größeren Städten schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts kommunale Einrichtungen bzw. erste Vorläufer von Universalsammlungen. Diese waren jedoch angesichts fehlender Mittel und inszenatorischem Potential nicht mit den großen Kunst- und Wunderkammern des Adels zu vergleichen. Auch die Herkunft der Sammlungsobjekte hatte selten einen ähnlich weitreichenden Radius. Die kommunalen Institutionen, wie jene mit universitärem und kirchlichem bzw. klösterlichem Hintergrund, gingen oftmals aus Bibliotheken hervor bzw. waren mit ihnen (räumlich) verbunden. Bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts waren eigenständige Bibliotheksbauten zu verzeichnen,35 die weniger der Repräsentation als der Bildung privilegierter bzw. geistlicher Stände dienten.
In Nürnberg ist neben bzw. in Verknüpfung mit der patrizischen Sammlungsstradition schon sehr früh eine kommunale Sammlung nachweisbar, die ihren Ursprung möglicherweise im 14. Jahrhundert in der Gründung der Ratsbibliothek hatte.36 Bedeutende Bücherschenkungen bildeten die Basis für die Erweiterung einer dezentralen Sammlung, die durch gezielte Ankäufe von astronomischem Gerät – wie etwa Astrolabien oder Himmels- und Erdgloben –, Naturalia, Münzen und Gemälden von Albrecht Dürer (1471–1528)[] ergänzt wurde.37 Ein Teil der Ratsbibliothek und möglicherweise einige Sammlungsgegenstände wurden allerdings erst später im Bibliotheksraum des zwischenzeitlich aufgehobenen Dominikanerklosters mit den dortigen Beständen zusammengeführt. Bereits um 1625 erlebte das inzwischen als "Stadtbibliothek" titulierte Kloster eine Expansion um das Zehnfache. Im Kontext der nunmehr thematisch geordneten Bücher existierte auch eine disparate Wunderkammer-Sammlung; dieser Verbund stellte eine Art öffentlich zugängliches Museum der Stadt dar. Ähnlich wie in fürstlichen Kammern gab es hier ebenfalls eine Bildnisgalerie, die im Wesentlichen protestantischen Gelehrten, beispielsweise Philipp Melanchton (1497–1560)[], oder stadthistorisch bedeutsamen Persönlichkeiten, wie dem Dürer-Vertrauten Willibald Pirckheimer (1470–1530), gewidmet war. Desweiteren wurde ein Trinkglas Luthers als Memorabilia verwahrt, aber auch der versteinerte Baumstamm aus dem Garten von Willibald Imhoff (1519–1580), eines weiteren Nürnberger Kaufmanns und bedeutenden Kunstsammlers.
Höhepunkt und Niedergang der Wunderkammern zu Beginn des 18. Jahrhunderts
Drei bemerkenswerte Beispiele adliger bzw. bürgerlicher Wunderkammern sollen im Folgenden den Höhe- und gleichzeitigen Wendepunkt dieser Einrichtungen im Verlauf bzw. Ende des 17. Jahrhunderts dokumentieren. Die Kunstkammer in der Zürcher Wasserkirche wurde auf Initiative von Bürgern um 1629 gemeinsam mit einer Bibliothek angelegt. Die Schatz- und Wunderkammer der Fürstenfamilie Esterházy, die jüngst auf Burg Forchtenstein im österreichischen Burgenland wieder entdeckt wurde, stammt aus der Zeit um 1690. Wenig später wurde die Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zu Halle an der Saale errichtet.
Während die Zürcher "Bürgerbibliothek" als städtische Einrichtung jedem Stadtbürger offen stand,38 hatte der pietistische Theologe August Hermann Francke (1663–1727)[] die "Naturalienkammer der Glauchischen Anstalten" in einem Waisenhaus bzw. einer Schule gegründet. Nach der Jahrhundertwende entwickelte sich die Naturalienkammer jedoch zu einer enzyklopädischen Lehrsammlung, und war damit ebenfalls einer breiteren Öffentlichkeit, besonders Geistlichen und Schülern, aber auch interessierten Laien, zugänglich.
Anders auf Forchtenstein unter Palatin Paul Esterhazy von Galántha (1635–1713). Dort wurden das Familienarchiv sowie eine anfänglich disparate Sammlung von wertvollen Gold- und Silberarbeiten, Automaten und filigranen Elfenbeindrechselarbeiten in einer Kunstkammer untergebracht, die mit Schränken versehen und nur über eine Falltür zu erreichen war. Diese strikten Vorgaben, die noch rigider ausfielen als einst bei manchem fürstlichen Inventor, schlossen eine größere Öffentlichkeit von vornherein aus. Einen gelehrten Sammlungskustoden, wie etwa der zuvor erwähnte Adam Olearius in Gottdorf, der für eventuelle Ankäufe und die Inventarisierung zuständig gewesen wäre, gab es nicht. Der privilegierte Besucher betrachtete kostbare Kleinodien und Preziosen in einem noch weitgehend geschlossenen Kosmos.39
Die formale Einrichtung, Inventarisierung sowie die Pflege der Kammern wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts zunehmend Universalgelehrten bzw. -künstlern übertragen. Bei der Zürcher Wasserkirche ist unklar, wer – neben zunächst zwei hauptamtlichen Bibliothekaren und einem für die Münzsammlung zuständigen Antiquarius – speziell als Kustode für die Kunstkammer bis zu ihrer Auflösung 1779 zuständig war. Als Förderer dieser Einrichtung fungierten jedoch von Anfang an Gelehrte, wobei der Stadtarzt und Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) zu den Prominentesten gehörte. Für den Unterhalt der Institution sorgten der Rat, die Mitglieder der Bibliotheksgesellschaft sowie großzügige Legate und Nachlässe.
Für die Gestaltung und Konzeption der Franckeschen Kammer in Halle zeichnete der Universalgelehrte und Künstler Gottfried August Gründler (1710–1775) fast allein verantwortlich.40 1735 ordnete er eine auf zwischenzeitlich ca. 4700 Objekte angewachsene Sammlung, für die er im ehemaligen Schlafsaal der Waisen eine prächtige Wunderkammer schuf. Die Kollektion setzte sich aus Dingen zusammen, die aus der lokalen Umgebung oder aus den hauseigenen Werkstätten stammten und wurde zudem von überseeischen, pietistischen Missionaren ständig ergänzt. Mithilfe der Taxonomie Carl von Linnés (1707–1778)[] systematisierte Gründler Naturalia, ordnete Modelle, Artificialia (u.a. aus den Missionsländern) sowie "heilige Sachen", die er in jeweils 16 verglasten sogenannten "Repositorien" (Schauschränken) präsentierte. Auch deren illusionistische Bekrönungen stammen von seiner Hand und fassen mit gemalten Motiven den jeweiligen Inhalt zusammen. Heute hängen und stehen wieder wie einst – in "traditioneller" Wunderkammer-Inszenierung – über den Raum verteilt Gemälde, Kupferstiche, präparierte Tiere, Knochen, Landschafts- und Hausmodelle sowie jeweils ein geo- bzw. heliozentrisches Weltsystem.
In Halle lässt sich gleichsam Anfang und Ende einer Entwicklung beobachten, der diese Kammer so einzigartig macht. Die verglasten Schranktüren verweisen auf die Demarkationslinie zwischen zwei unterschiedlichen Weltbildern: auf der einen Seite der Universalismus der Dinge, die im Raum gleichwertig angeordnet sind, auf der anderen Seite die Ordnung innerhalb des Schranks, die Kunst und Natur voneinander trennt. Es scheint, als sei ein lang andauernder Verständnisprozess erstarrt, oder um es mit Michel Foucault angesichts dieser sichtbaren Modifikationen des Denkens zu formulieren:
Die Aktivität des Geistes […] wird also nicht mehr darin bestehen, die Dinge auseinanderzurücken, auf die Suche all dessen zu gehen, was in ihnen gewissermaßen eine Verwandtschaft, eine Anziehungskraft […] enthüllen kann, sondern darin, zu unterscheiden: das heißt, die Identitäten festzustellen, dann die Notwendigkeit des Überganges zu allen Graden, die sich davon entfernen.41
Nachhall in der Gegenwart
Der allgemeine Niedergang der Wunderkammern als begehbare holistische Weltmodelle hatte zu Beginn des 18. Jahrhundert längst begonnen. Ihr ästhetisches Prinzip, das auf der theatralen Präsentation von Wundern und Artefakten als Zeugnissen von Weltanschauung und Wissen basierte, hatte ausgedient. "Die einzelnen Sammlungsbereiche beginnen sich zu verselbständigen, so wie sich in der zweiten Jahrhunderthälfte [des 17. Jahrhunderts] die Naturwissenschaften aus dem Kontext umfassend polyhistorisch-humanistischer Gelehrsamkeit herauslösen und als autonomes Teilsystem etablieren."42 Das alte Bündnis zwischen Kunst und Handwerk schien aufgekündigt,43 was sich etwa in Aussagen wie von Daniel Major aus dem Jahr 1674, niederschlug. Er riet potentiellen Inventoren, nunmehr ausschließlich gelehrte Kämmerer zu berufen "und nicht einen Uhrmacher / Dräher oder andere Künstler und Handwercks-Mann."44 "Stimmen wie diese", befand Robert Felfe, "markieren eines jener zentrifugalen Momente, die den Mikrokosmos der Kunst- und Naturalienkammer als sinnvolles Ensemble auseinandertreiben sollten."45
Sofern es keine Spezialinteressen des jeweiligen Inventors gab oder ein (universal-) gelehrter Künstler bzw. Kustode die Sammlung betreute, war die intellektuelle Beschäftigung mit den Gegenständen und den Prinzipien der Wunderkammer meist jenseits der fürstlichen Sammlungsbühnen erfolgt. Auch wenn Wissen in den Wunderkammern vielleicht weniger generiert als akkumuliert wurde, waren sie als Foren des Austauschs dennoch wesentliche und in ihrer Wirkung nicht zu unterschätzende Instrumente einer geschärften Wahrnehmung.
Zur Auflösung bzw. Zerstreuung einst geschlossener Sammlungen trugen zudem Erbteilungen oder Verkaufsverpflichtungen der Erben bei, so dass heute kaum eines der ursprünglichen Ensembles komplett erhalten ist und darum nicht in historischem Zustand wieder hergestellt werden konnte. Bei den meisten Rekonstruktionsversuchen gelingen deshalb im besten Falle musealisierte Fassungen dieses verschwundenen Phänomens universeller Weltsicht. Unser Blick trifft dann, bei aller Pracht und Herrlichkeit der präsentierten Kammerstücke (oft nur) ein bestimmtes Objekt – und vermag darin selten die Welt zu betrachten.46