Kunst- und Wunderkammern

von by Gabriele Beßler Original aufOriginal in Deutsch, angezeigt aufdisplayed in Deutsch
PublishedErschienen: 2015-07-09
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    Die universal angelegten Sammlungsräume der Kunst- und Wunderkammern sind eine Besonderheit der Vormoderne. In ihnen wurden Artefakte und natürliche Gegenstände als Abbild des Makrokosmos einer neuen irdischen Ordnung en miniature präsentiert. Sie sind zudem als Wahrnehmungsphänomen zu begreifen, da ihre beinahe endemische Ausbreitung auf dem europäischen Kontinent – ausgehend von Italien und speziell im deutschen Reich – im Zusammenhang mit einem neuen Bewusstsein für den Raum steht. Besonders die Entdeckung der Zentralperspektive in der Renaissance spielte eine maßgebliche Rolle bei der Entstehung der Wunderkammern. Die bedeutendsten und kostbarsten Sammlungen wurden von bzw. in Fürstenhäusern angelegt und dienten mindestens bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts überwiegend der Repräsentation. Im Gegensatz dazu wurden kleinere Wunderkammern von forschenden Patriziern und Gelehrten gegründet, die möglicherweise als Pioniere dieses Sammlungsphänomens gelten können. Darüber hinaus waren vor allem der zunehmend weltumspannende Handel, die Wiedergeburt der Antike, eine zunehmende profanierte Naturbeobachtung sowie die Besinnung auf genealogische und kulturelle Wurzeln für die Durchsetzung der Kunstkammern wichtig. Die Hochphase dieser Universalkollektionen erstreckte sich von nach 1500 bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Die Spezialsammlungen heutiger Museen entstanden dagegen weitgehend unabhängig von den holistischen Weltmodellen, wie sie in den Kunstkammern inszeniert wurden.

    InhaltsverzeichnisTable of Contents

    Einleitung

    Es ist unbekannt, wann genau der heute internationial gebräuchliche Begriff "Wunderkammer" ("Wunderkamer" / "Wundercamera") im deutschsprachigen Raum (inkl. Niederlande) erstmalig aufkam. Ab Mitte des 16. Jahrhunderts erscheint er jedoch in einigen Inventaren bzw. Beschreibungen.1 Parallel begegnen Bezeichnungen wie Thesaurus, Museum, Studiolo oder – bereits zu Beginn jenes Jahrhunderts und der inszenatorischen Intention dieser Schausammlungen besonders nahe – Theatrum bzw. Theatrum Sapientiae / Memoriae. Ähnlich populär war die Bezeichnung "Kunstkammer". Die Zuordnungen sind anfangs selten spezifisch, da "Kunst" und "Wunder" bisweilen synonym genutzt wurden. Die Begriffe Kunst- und/oder Wunderkammer2 spiegeln das Prinzip der Gleichrangigkeit wider, nach dem sowohl un- oder kaum bearbeitete natürliche als auch künstliche Objekte und Gebrauchsgegenstände präsentiert wurden. Somit wurden Kunst und Natur in einen Kontext gesetzt und einem "globalen System der Entsprechungen"3 von Makrokosmos und Mikrokosmos zugeordnet. Unter Wundern verstand man staunenswerte Besonderheiten der Natur, die die drei aristotelischen Reiche (Pflanzen, Tiere, Mineralien) umfasste. Die Natur war in einer artifiziell bearbeiteten, hierzulande bis dato unbekannten Kokosnuss genauso präsent wie in filigranen Korallenästen oder Tierskeletten. In der um 1578 eingerichteten herzoglichen Wunderkammer in fanden sich beispielsweise ein Auerochsenkopf und Gehörnmißbildungen in unmittelbarer Nähe zu "indianischen" Gefäßen bzw. Textilien; "indianische" Waffen standen neben Bleiabgüssen von Tieren.4

    Das Sammeln selbst sowie der Impetus, Heilig- und Reichtümer zur Schau zu stellen, ging nicht zuletzt auf den christlichen Reliquienkult zurück. Im Übergang zur Frühen Neuzeit führte zudem die ganz allmählich beginnende Entsakralisierung religiös-transzendenter Weltbilder und die Ausbreitung humanistisch geprägten Wissens dazu, dass differenzierte profane Andachts- und Studierräume, sogenannte "Studioli", eingerichtet wurden. Die mythisch-mystische Aura etlicher Gegenstände – und damit der Antagonismus von Wissen und Glauben – sollte allerdings noch lange erhalten bleiben. Studioli können als Grundlagen für die um die Mitte des 16. Jahrhunderts entstandenen, raumgreifenden fürstlichen Sammlungskammern5 gelten. Deren Ausbreitung erreichte etwa in der Mitte des 17. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Bis dahin waren solche Kammern von nahezu sämtlichen elitären gesellschaftlichen Gruppen – vom Adel und dem Klerus bzw. den Klöstern,6 vom Patriziat ebenso wie vom aufkeimenden Bürgertum – errichtet worden, wobei die Initiativen jeweils auf unterschiedliche Motive zurückzuführen waren.

    Von den Frühformen bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts existieren keine komplett erhaltenen Sammlungen. Zwar gibt es neben aussagekräftigen Inventaren auch Beschreibungen, Tagebucheintragungen und Reiseberichte als durchaus verlässliche Quellen. Historische Bildzeugnisse, die eventuell über die Ausstattung und somit über die räumliche Kontextualisierung der Dinge Auskunft geben könnten, fehlen jedoch. Dass Objekte und Naturalia nicht mehr auffindbar sind, erschwert es zusätzlich, die wesentlichen emblematischen Bedeutungszusammenhänge nachvollziehen zu können. Authentische Rekonstruktionen erscheinen somit unmöglich, und dennoch sind derartige Versuche, besonders in Museen, durchaus üblich. Mancherorts kommt deshalb der Eindruck auf, jene Institutionen sähen sich schlicht als Nachfolger frühneuzeitlicher Wunderkammern. Museen müssen aber "angesichts [ihrer] strikten Trennung der verschiedenen Gegenstandsbereiche und [ihrer] hochspezialisierten Sammlungen viel mehr als … Zerfallsprodukt [der Wunderkammern] gelten".7

    Obgleich oder gerade weil die Ursprünge der Wunderkammern im Dunkeln liegen, bemerkenswert-kunstvolle Kammerstücke aber als deren Zeugnis überdauert haben, wirkt das Phänomen in vielfältiger Weise bis in die Gegenwart.– Sowohl in der realen Welt, in Gestalt von Rekonstruktionsversuchen8 in Ausstellungen,9 aber auch im virtuellen Raum des Internets, das das Sammlungs- und Vernetzungsprinzip aufnimmt, finden sich Spuren der Ideen, die der Kunst- und Wunderkammer zugrunde liegen.

    Der Begriff "Wunderkammer" wird im Allgemeinen inflationär gebraucht. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein blieben diese vielgestaltigen Modelle der Weltaneignung als wenig erkenntnisleitende "Kuriositätenkabinette" auch von Seiten der Wissenschaftsgeschichte weitgehend unbeachtet.10 Vor allem Kunsthistoriker bzw. Bildwissenschaftler zu Beginn und gegen Ende des 20. Jahrhunderts erkannten allerdings die Bedeutung und Tragweite dieser Weltmodelle. Zwar sah deren Wiederentdecker Julius von Schlosser (1866–1938) die Sammlungen noch als Skurrilitäten in einem Zeitalter "voll der sonderbarsten Schrullen und Grillen";11 ab den 1970er Jahren des letzten Jahrhunderts begann jedoch eine breite wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Sujet.12 Auch Künstler und Kuratoren riefen Wunderkammern en miniature oder als raumgreifende Installationen wieder ins Gedächtnis13 und erlaubten so zumindest den adäquaten ganzheitlichen Blick. Der künstlerisch-gestalterische Einfluss und die Rezeption der Wunderkammern sind somit Zeichen der Kontinuität. In der Renaissance waren es in Geometrie und Arithmetik versierte Künstler, die durch ihre Wanderschaft maßgeblich zum grenzüberschreitenden kulturellen Austausch beitrugen, im Barock dann Maler und Bildhauer, die ihren vielfach ungenannten Anteil an der Gestaltung und bisweilen – sofern naturwissenschaftlich "imprägniert" – ebenso an der Systematik von Wunderkammern hatten.

    Wurzeln im 15. Jahrhundert: Der erweiterte Blick

    Entscheidend für die Entstehung der Wunderkammer war die "Erfindung" der ZentralperspektiveHans Vredeman de Vries (1527–1604), Perspektivzeichnung, 1605 IMG, anhand derer die ordnende Struktur des Raumes anschaulich wurde.14 Als Ausgangspunkt für diese neue Wahrnehmung sind die Studioli des italienischen Adels zu verstehen.

    Bevor das perspektivische Sehen in der italienischen Malerei des 15. Jahrhunderts nachhaltig manifest wurde, kannte die mittelalterliche Optik, die auf der arabischen Sehtheorie basierte, die Perspectiva Naturalis. Gegenstand von (Architektur-)Zeichnungen waren bis dahin vor allem Komponenten, die physikalische Besonderheiten einbezogen, beispielsweise menschliche Sehvorgänge oder optische Phänomene, wie etwa die Lichtbrechung. Erst als die Perspectiva Artificialis eingeführt wurde, ließ sich der Blick des Betrachters erweitern. Natürliche Wahrnehmungseindrücke konnten nun zweidimensional nachvollzogen werden.

    Der Fensterbegriff der Neuzeit in seinem künstlerischen und philosophischen Sinn lässt sich [vom Konzept der Perspektive] als Modell der Wahrnehmung nicht trennen. Auch ein neuer Raumbegriff gehört, gemeinsam mit der Entdeckung des Horizonts, zu dem Kontext, aus dem sie hervorgegangen ist.15

    Zu den ersten Raumtypen, die auf dieses Prinzip zurückgehen, gehören die Studioli des Herzogs Federico III. da Montefeltro (1422–1482) in seinen Residenzen und Gubbio aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. Ihre intarsierten Wandpaneele mit Darstellungen von Kammern, Nischen, Ausblicken und Gegenständen als Trompe-l'œil evozieren eine zweidimensionale Öffnung des dreidimensionalen Innenraums nach außenStudiolo, Herzoglicher Palast, Gubbio, Italien IMG.16

    Die Fürsten nördlich der Alpen orientierten sich ebenfalls an dieser Idee und nahmen in ihren Wunderkammern eine sich weitende Welt modellhaft vorweg. Der Mikrokosmos wurde allerdings mit Gegenständen umrissen, die der realen Welt entnommen waren. Der Raum dehnte sich nicht mehr illusionistisch nach außen, sondern die Welt selbst wurde in die Kammer geholt. Durch die bewusste Positionierung der Wunderkammerobjekte erschien auch der unendliche Makrokosmos beherrsch- bzw. interpretierbar. Während die perspektivischen Intarsienbildern der Wunderkammervorläufer noch die Ordnung im Bild und als Bild erfassten, verlagerte sich diese Struktur – parallel mit der Erfindung der Perspektive – gewissermaßen von der Wandvertäfelung in den Raum selbst. Durch den Blick und die Bewegung des Betrachters konnten die Sammlungsgegenstände räumlich in Beziehung zueinander gesetzt werden, wodurch Korrelationen entstanden. Im dreidimensionalen Äquivalent der fürstlichen Wunderkammer wurden – vom Großen bis ins Kleinste und natürlich auch vice versa – schier unzählige Behältnisse und Modelle gezeigt, die die Welt erklären sollten. Dazu zählten ausklappbare Schränke, Schubladen, Regale oder Tische mit den darin oder darauf befindlichen Objekten unterschiedlichster Größe. Angefangen bei kleinen, gedrehten Elfenbeinobjekten, in Gold und Silber gefassten Nautilusmuscheln oder Trinkhörnern bis hin zu Architekturmodellen, Perspektivkästen und anderen optischen Spielereien oder Miniatur-PanoramenKorallenkabinett, Schloss Ambras IMG präsentierte man erstaunliche Dinge. Besonders die Panoramen waren als "beredsame Dinge" frühneuzeitlicher Sammlungspraxis zu verstehen. Mit ihrer Hilfe ließen sich spezifische Interessen, Fähigkeiten und Handlungsabläufe darstellen – in diesem Sinne wirkten sie an den experimentell-spielerischen Untersuchungen der visuellen Wahrnehmung mit."17

    Fürstliche und patrizische Kunst- und Wunderkammern im 16. und 17. Jahrhundert

    Die ersten universal angelegten Sammlungsräume richteten Fürsten nördlich der Alpen als Zeichen ihres Herrschaftsanspruchs, mitunter aber auch als Zeugnis eines humanistischen Bildungshintergrundes ein. Das Ziel war dabei stets, eine möglichst vollständige mikrokosmische Enzyklopädie des Makrokosmos zu schaffen. Jedes dafür ausgewählte und darin präsentierte Objekt stellte ein ungewöhnliches Einzelstück dar und stand doch in materieller – vielfach allein durch die Art seiner Anordnung – und in symbolischer Korrespondenz zum benachbarten Ding. Früheren Sammlungsgepflogenheiten entsprechend waren kostbare Gegenstände entweder in geheimen Schatzgewölben, Silberkammern oder Archivräumen aufbewahrt worden. Auf Reisen bzw. Ortswechseln von Residenz zu Residenz hatte man sie in Kisten verpackt, mitgeführt und nur temporär gezeigt. Im Gegensatz dazu bekamen die Gegenstände nun in Studierzimmern oder größeren Raumfluchten einen festen, stets zugänglichen Ort zugewiesen, an dem sie jederzeit vorgeführt werden konnten.

    Ordnung wird als ein analogisches Prinzip verstanden; nicht der Maßstab makrokosmischer oder mikrokosmischer Dimension ist entscheidend, sondern allein die Reproduktion und Wahrung der im Schöpfungswerk eingeschriebenen, perfekten Ordnung. Erst eine solch analogische Anbindung der Kunstkammer an das Schöpfungswerk entlastet die Sammlungen von dem Vorbehalt, nicht mehr als eine additive Reihung von Objekten zu sein.18

    Hinzu kam ein weiterer Ordnungsaspekt, denn die Dinge fanden nicht nur im räumlichen Kontext Platz, sondern wurden auch im Bewusstsein bzw. Gedächtnis des Besitzers, dem sogenannten "Inventor", verankert. Dieser herrschte somit über ein symbolisch überhöhtes, nunmehr überschaubares Miniaturreich. Ein angemessenes architektonisches Ambiente erlaubte es ihm, seine Position gleichsam illustrativ zu manifestieren.

    Die Bedeutung einzelner Sammlungsgegenstände, die Horst Bredekamp (geb. 1947) adäquat den Bereichen "Naturform – antike Figur – Kunstwerk – Maschine"19 zuordnete,Nautiluspokal IMG ergab sich durch verschiedene Aspekte. Ihre Einzigartigkeit verdankten sie entweder ihrem materiellen Wert, ihrer technischen Raffinesse, einer unverwechselbaren Geschichte (z.B. ihrer Herkunft, wodurch der mittelalterliche Reliquienkult nachklang), oder sie waren wegen ihrer Seltenheit weithin unbekannt und galten nicht zuletzt deshalb als "wunderbar".

    Die bedeutendsten Inventoren entstammten – angesichts ihrer weltumspannenden Handelskontakte und des imperialen Anspruchs der Familie wenig überraschend – der Habsburger Dynastie. Die Basis der Sammlungen von Erzherzog Ferdinand von Österreich (1529–1595) auf Schloss Ambras in und seinem Neffen Kaiser Rudolf II. (1552–1612) in ging auf die Kaiser Maximilian I. (1459–1519) und Ferdinand I. (1503–1564) zurück. Nicht zuletzt war der Erwerb etlicher Stücke den intensiven Verbindungen zu den Fuggern zu verdanken.

    Auch mit den Wittelsbachern unterhielt die Handelsfamilie Wirtschaftskontakte und einen kulturellen Austausch. Diese gestalteten sich ähnlich nachhaltig wie im Falle der Habsburger, auch wenn die Fugger seltener als Kreditgeber fungierten. Die Wittelsbacher gehörten insofern zu den Pionieren der Wunderkammerentwicklung, als Bayernherzog Albrecht V. (1528–1579) in der erweiterten Münchner Neuveste mutmaßlich das erste eigenständige Gebäude errichtete, um dort die bereits erwähnte Kunst- und Wunderkammer zu etablieren. In München fanden sich ca. 6000 Objekte,20 verteilt über vier Säle auf 60 Tischen und Kredenzen. Teilweise stammten die Gegenstände aus der Sammlung von Herzog Ludwig X. (1495–1545), der wahrscheinlich schon in den 1540er Jahren im sogenannten "Italienischen Bau" seiner Landshuter Stadtresidenz eine Kunstkammer initiiert hatte.21 Die Antikensammlung war bereits sieben Jahre zuvor (1571) in der tonnengewölbten Raumflucht des Antiquarium aufgestellt worden. Ihr Bestehen war besonders der Vermittlung Johann Jakob Fuggers (1516–1575) mit dem Diplomaten und transalpinen Verbindungsmann Jacobus Strada (1507–1588) zu verdanken. Letzterer stand um 1571 für Albrecht V. als Antiquarius in Lohn und war mit dem als gelehrt geltenden Johann Jakob Fugger für die Systematisierung der antiken Numismatik zuständig.

    Für das patrizische Sammlertum im 16. Jahrhundert war als merkantile Zentralregion der wesentliche Ausgangspunkt. Neben den waren es besonders die Augsburger Gelehrten und Patrizier, die auf eine lange Sammlungstradition zurück blicken konnten. Unklar ist jedoch, inwieweit sie die entscheidenden Impulse zur Ausformung der universal angelegten Sammlungsräume gaben, die der Hochadel dann zur Blüte treiben sollte. Es wird vermutet, dass bereits Raimund Fugger (1489–1535) in seinen Privaträumen über eine der ersten profanen "Studiosammlung[en] … außerhalb der Humanistenkreise"22 verfügte. Damit legte er wahrscheinlich den Grundstein für den Sammlungsbestand der Fuggerschen Dynastie. Eine der herausragenden humanistischen Sammler- und Gelehrtenpersönlichkeiten war der Stadtschreiber Konrad Peutinger (1465–1547). Er betrieb Inschriftenforschung und Studien zur Geschichte der Augsburger Gegend. Der Grundstock seiner Sammlung ist um 1500 anzusiedeln und umfasste eine Bibliothek sowie Münzen und Antiken. Die daraus erwachsenen "studiorien" – womit der räumliche Charakter auf Vorbilder hinweist, die Peutinger bei zahlreichen Italienreisen nachweislich rezipiert hatte – verteilten sich über drei Räume. Dort fanden sich – vermischt mit dem Wohnmobiliar – Gemälde und Graphiken, Antiken, Waffen sowie Geweihe und ausgestopfte Tiere.

    Für die umfangreicheren fürstlichen Sammlungen bzw. Wunderkammern ließ sich eine Systematik überwiegend mithilfe von Inventaren oder theoretischen Entwürfen nachvollziehen, weniger jedoch anhand der eher assoziationsreichen Kammerarrangements selbst. Eine der bedeutendsten frühen museumstheoretischen Schriften, die Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi (1565), verfasste der aus stammende Arzt Samuel Quiccheberg (1529–1567). Als vormaliger Bibliothekar bei Johann Jakob Fugger wurde er nach 1557 Kustos der herzoglichen Münchner Wunderkammer. Naturwissenschaftlich geschult, orientierte er sich bei der Entwicklung seines Idealplans allerdings nicht an den Gegebenheiten der Wunderkammer, sondern ließ sich von einem Theatrum Sapientiae inspirieren, dem eine mnemotechnische Struktur zugrunde lag. Der Italiener Giulio Camillo (ca. 1480–1544) hatte um 1550 in L' idea del theatroFrances A. Yates (1899–1981), nach Giulio Camillo: The Memory-Theatre IMG ähnliches propagiert. Als architektonische Form sah Quiccheberg eine Art Amphitheater bzw. eine nach allen Himmelsrichtungen offene Wandelhalle vor. Außerdem untergliederte er die Dinge ihren Materialien entsprechend und teilte sie in fünf Gruppen auf, deren Teilbereiche einer planetarischen Ordnung unter dem Patronat des Merkurs folgten. Dieses Prinzip setzte sich jedoch weder in München noch in einer der unmittelbar danach errichteten Kammern durch.

    Die hier beispielhaft aufgezeigten, auch personellen Verbindungen heben die vielfältigen Strömungen jener Zeit hervor: Die Wunderkammern wurden zu einer Zeit etabliert, als die internationale Handelstätigkeit zunahm, vor allem zwischen dem Mittelmeeranrainer und Deutschland. Der anfängliche Antikenhandel umfasste schon bald etliche Sparten besonders gefragter Kunstkammergüter bzw. deren teils aus Übersee importierten Ausgangsstoffe. Dazu zählten Korallen, Narwalzähne ("Einhörner") sowie Perlen, aber auch präparierte Tiere oder SeychellennüsseSeychellennuss IMG. Diese Güter waren über die Niederlande oder im 17. Jahrhundert auf Märkten, wie etwa dem Foire St. Germain, zu erwerben. Zudem setzte ein nie dagewesener, grenzüberschreitender Wissenstransfer ein. Daran wirkten – anfänglich zwar nicht federführend, aber doch zunehmend – sowohl patrizische Sammlungen als auch teilweise die fürstlichen Kunst- und Wunderkammern entscheidend mit.

    Erzherzog Ferdinand II. richtete um 1570 auf Schloss Ambras neben einer Bibliothek, einem Antiquarium und einem Raum für Rüstzeug, auch eine Kunstkammer ein.23 Deren artifzielle Objekte – von Handsteinen über Exotica bis zu Musikinstrumenten – waren im Wesentlichen nach Materialgruppen geordnet und wurden vor farblich unterschiedlich gestalteten Schauregalen präsentiert. Flankiert wurden diese sogenannten "Tatten" von einer, wie in den meisten Sammlungskammern unverzichtbaren, umfangreichen Ahnengalerie sowie von Portraits weiterer historischer Persönlichkeiten. Es fehlte aber auch nicht an diversen Wundern auf Gemälden oder in Gestalt ausgestopfter Tiere.

    Nach Ambras gelangten sowohl etliche Objekte aus der "wundercammer" des Grafen Wilhelm Werner von Zimmern (1485–1575) aus dessen Burg im schwäbischen Herrenzimmern24 wie auch aus der Kollektion des Grafen Ulrich von Monfort und Rothenfels (gest. 1574).25 Darüber hinaus wurden komplette Spezialsammlungen in zeitgenössische Kammern aufgenommen, so etwa von Naturalia und Exotica aus dem Kabinett des Bernhard Paludanus (1550–1633) aus , wo sich eine Niederlassung der Niederländischen Ostindien-KompanieVereinigte Ostindische Companie IMG befand. Diese Stücke fanden sowohl Eingang in die Kunstkammer von Herzog Johann Friedrich von Württemberg (1582–1628) als auch in die Sammlung von Herzog Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf (1597–1659). Letzterer machte sein Schloss Gottorf in mit einer "Kunst-Kammer"26 zu einem nicht zuletzt geographisch einzigartigen Zentrum für Kunst und Wissenschaft im hohen Norden Deutschlands. Zu den spektakulärsten "Einverleibungen" dieser Art gehörten im 18. Jahrhundert die Sammlungen anatomischer und anderer Präparate der naturforschenden Albertus Seba (1665–1736) und Frederik Ruysch (1638–1731) in die Kunstkammer Peter des Großen (1672–1725).27 Dorthin gelangte übrigens auch der seinerzeit berühmte, weil begehbare sogenannte "Gottorfer Riesenglobus"Gottdorfer Riesenglobus, Nachbildung, Schloss Gottorf IMG, den Adam Olearius (1599–1671), Hofmathematikus und Sammlungskustode von Friedrich III., um 1660 konstruiert hatte.28

    In der Epoche des Manierismus gehörten neben Kaiser Rudolf II. auf dem Prager Hradschin die Landgrafen von in zu den Inventoren, die Forschungsstätten einrichteten und auf diese Weise Kunst und Wissenschaft explizit förderten. In Prag wurden um 1590 nicht nur eine Wunderkammer, sondern auch Laboratorien, Künstlerateliers und Wildgehege geschaffen. In Kassel eröffnete man etwa gleichzeitig (1590) eine weitgehend öffentlich zugängliche Kunstkammer, die dortige Gründung einer der ersten Sternwarten war sogar bereits 1560 erfolgt.29 In jener Phase konfessioneller Umbrüche dienten diese Orte nicht nur als geeignete Terrains für pansophische Spekulationen, sondern auch dazu, spezifisch naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu erlangen. So wirkten in dieser Zeit Persönlichkeiten wie der Jesuitenpater Athanasius Kircher (1602–1680)[Athanasius Kircher (1602–1680), Magnetisches Orakel, 1643 IMG] und der Protestant Johannes Kepler (1571–1630), der mit der Abfassung der sogenannten "Rudolfinischen Tafeln" am Prager Hof der modernen Kosmographie zum Durchbruch verhalf (Keplersche Gesetze)Modell von Keplers Mysterium Cosmographicum IMG.

    Abgesehen von den genannten Beispielen ist kaum abschließend zu klären, welche Absichten fürstliche Inventoren der Renaissance bzw. des Barock mit der Initiierung einer Wunderkammer verfolgten. Ob sie darauf zielten, Wissen im Sinne des Fortschritts zu erlangen, oder ob sie die Einrichtungen allein als plastisch-theatrale Inszenierung eines hermetischen Weltbildes bzw. ihrer sozialen Distinktion wegen für ihre Zwecke instrumentalisierten, bleibt offen. Bisher fehlt es zudem an hinreichenden Aussagen darüber, wie viele der zahlreichen Inventoren tatsächlich mit gelehrten bürgerlichen Sammlern und Künstlern – über ein prestigeträchtiges Mäzenatentum hinaus – in unmittelbarem intellektuellem Austausch standen. Es deutet sich aber an, dass der standesübergreifende Dialog verstärkt an solchen kleineren Fürstenhöfen gepflegt wurde, die über bedeutende Bibliotheken statt über prächtige Universalsammlungen verfügten. Dazu zählten etwa die Höfe von Graf Simon VI. zur Lippe (1554–1613) in , Laienastronom und Kunstagent für Kaiser Rudolf II., oder des hoch gelehrten Herzogs August von Braunschweig-Lüneburg (1579–1666), der u.a. mit Athanasius Kircher und Johann Valentin Andreä (1586–1654) korrespondierte.30 Obwohl also die Intentionen der einzelnen Investoren insgesamt eher diffus erscheinen, blieb das äußere Kennzeichen der Wunderkammern – Inszenierung geht vor Systematisierung – bis zu ihrer Auflösung bestehen. Zweifellos waren die Wunderkammern aber als Orte des Staunens nicht zu unterschätzende Impulsgeber für die Aneignung von Wissen.

    Die Empfindung der Neugierde hat […] ein Gerüst von moralischen, ästhetischen und emotionalen Elementen für die frühmoderne Wissenschaft errichtet, es sorgte für die Auswahl der Gegenstände, der Inhalte und der Haltung: fremdartige Gegenstände – oder landläufige, welche verfremdet wurden –, welche in angespanntester Aufmerksamkeit durch Menschen untersucht wurden, die untereinander häufig lediglich durch ihren Geschmack an solchen Gegenständen und durch die Kultivierung dieser Haltung verbunden waren.31

    In einer von dem Augsburger Kaufmann Philipp Hainhofer (1578–1647) erdachten "Produktpalette" ist glücklicherweise die ansonsten fehlende Übersicht zum Kontext der Dinge erhalten geblieben. Der protestantische Humanist und Diplomat hatte sich um 1605, auch aufgrund einer eigenen Wunderkammer, auf den An- und Verkauf von Kunstgegenständen und Kuriosa spezialisiert. Sein Sammlertum und der freie Zugang zu den Bezugsquellen in ganz Europa brachte ihn auf die Idee einer verkäuflichen "transportablen Miniatur-Kunstkammer" in Form eines Schranks bzw. Kastens. Hainhofers Handelsverbindungen zu Fürstenhäusern und seine intensiven Einblicke in deren Kammern sind dank seiner Korrespondenzen mit dem Hause Braunschweig-Lüneburg oder durch Tagebucheintragungen von 1611 über die Münchner bzw. von 1616 über die Stuttgarter Kunstkammer belegt.32 Der berühmteste von drei bekannten, in Ebenholz ausgeführten Schränken ist heute als Gesamtkunstwerk im Museum Gustavianum der Universität von zu bewundern: der Kunstschrank für Gustav II. AdolfPhilip Hainhofer (1578–1647), Augsburger Kunstschrank für Gustav II. Adolf (1594–1632), 1625–1632 IMG. Fast der komplette ursprüngliche Inhalt ist erhalten – allerdings ohne Naturalia, die ohnehin selten überdauerten. Aus dem einstigen Besitz des Schwedenkönigs Gustav II. Adolf (1594–1632) ist dieses um 1630 von etlichen Künstlern und Handwerkern geschaffene Prunkstück, im Gegensatz zu seinen jüngeren Pendants, hinsichtlich der Zahl von Geheimfächern oder des Schubladensystems das technisch ausgereifteste und raffinierteste. Sowohl die darin untergebrachten zahllosen filigranen Kunstkammerstücke als auch unterschiedlichste Naturalia und Gebrauchsinstrumente sowie das Bildprogramm sind bzw. waren bis ins kleinste auch emblematisch aufeinander abgestimmt. Dieses konzentrierte Welt-Modell ermöglicht noch heute als eines der wenigen, wenn nicht als einziges Exempel verlässliche Einblicke in die Weiterentwicklung der Wunderkammeridee zu Beginn des 17. Jahrhunderts.

    Zeitgleiche kommunale Sammlungsräume im 17. Jahrhundert

    Mitte des 17. Jahrhunderts existierte in ein flächendeckendes Netz von Kunst- und Wunderkammern jedweder Couleur sowie von spezialisierten Naturalienkabinetten. Dieses Geflecht reichte von bis Prag, von bis ins Burgenland, von bis .33 Reiseführer, Verkaufskataloge34 und zu Beginn des 18. Jahrhunderts schließlich bedeutende sammlungs- bzw. museumstheoretische Leitfäden, wie von Johann Daniel Major (1634–1693) oder Caspar Friedrich Jencquel (1679–1729), verdeutlichen diesEberhard Werner Happel: "Die Kunstkammer". Quelle: Ders., Relationes curiosae, Bd. 3. Antiquitäten, Curiositäten, Critische,Historische und andere Merckwürdige Seltzamtkeiten. Hamburg: Thomas von Wiering, 1687. S. 147-148. https://archive.org/stream/imageGIX360cMiscellaneaOpal#page/n147/mode/2up. Lizenz CC0 1.0 Universal (CC0 1.0). .

    Neben fürstlichen Kammern und patrizischen Sammlungsräumen gab es in den größeren Städten schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts kommunale Einrichtungen bzw. erste Vorläufer von Universalsammlungen. Diese waren jedoch angesichts fehlender Mittel und inszenatorischem Potential nicht mit den großen Kunst- und Wunderkammern des Adels zu vergleichen. Auch die Herkunft der Sammlungsobjekte hatte selten einen ähnlich weitreichenden Radius. Die kommunalen Institutionen, wie jene mit universitärem und kirchlichem bzw. klösterlichem Hintergrund, gingen oftmals aus Bibliotheken hervor bzw. waren mit ihnen (räumlich) verbunden. Bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts waren eigenständige Bibliotheksbauten zu verzeichnen,35 die weniger der Repräsentation als der Bildung privilegierter bzw. geistlicher Stände dienten.

    In Nürnberg ist neben bzw. in Verknüpfung mit der patrizischen Sammlungsstradition schon sehr früh eine kommunale Sammlung nachweisbar, die ihren Ursprung möglicherweise im 14. Jahrhundert in der Gründung der Ratsbibliothek hatte.36 Bedeutende Bücherschenkungen bildeten die Basis für die Erweiterung einer dezentralen Sammlung, die durch gezielte Ankäufe von astronomischem Gerät – ­wie etwa Astrolabien oder Himmels- und Erdgloben ­–, Naturalia, Münzen und Gemälden von Albrecht Dürer (1471–1528)[Büste Albrecht Dürers IMG] ergänzt wurde.37 Ein Teil der Ratsbibliothek und möglicherweise einige Sammlungsgegenstände wurden allerdings erst später im Bibliotheksraum des zwischenzeitlich aufgehobenen Dominikanerklosters mit den dortigen Beständen zusammengeführt. Bereits um 1625 erlebte das inzwischen als "Stadtbibliothek" titulierte Kloster eine Expansion um das Zehnfache. Im Kontext der nunmehr thematisch geordneten Bücher existierte auch eine disparate Wunderkammer-Sammlung; dieser Verbund stellte eine Art öffentlich zugängliches Museum der Stadt dar. Ähnlich wie in fürstlichen Kammern gab es hier ebenfalls eine Bildnisgalerie, die im Wesentlichen protestantischen Gelehrten, beispielsweise Philipp Melanchton (1497–1560)[Philipp Melanchthon (1497-1560) IMG], oder stadthistorisch bedeutsamen Persönlichkeiten, wie dem Dürer-Vertrauten Willibald Pirckheimer (1470–1530), gewidmet war. Desweiteren wurde ein Trinkglas Luthers als Memorabilia verwahrt, aber auch der versteinerte Baumstamm aus dem Garten von Willibald Imhoff (1519–1580), eines weiteren Nürnberger Kaufmanns und bedeutenden Kunstsammlers.

    Höhepunkt und Niedergang der Wunderkammern zu Beginn des 18. Jahrhunderts

    Drei bemerkenswerte Beispiele adliger bzw. bürgerlicher Wunderkammern sollen im Folgenden den Höhe- und gleichzeitigen Wendepunkt dieser Einrichtungen im Verlauf bzw. Ende des 17. Jahrhunderts dokumentieren. Die Kunstkammer in der Zürcher Wasserkirche wurde auf Initiative von Bürgern um 1629 gemeinsam mit einer Bibliothek angelegt. Die Schatz- und Wunderkammer der Fürstenfamilie Esterházy, die jüngst auf Burg im österreichischen Burgenland wieder entdeckt wurde, stammt aus der Zeit um 1690. Wenig später wurde die Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zu errichtet.

    Während die Zürcher "Bürgerbibliothek" als städtische Einrichtung jedem Stadtbürger offen stand,38 hatte der pietistische Theologe August Hermann Francke (1663–1727)[August Hermann Francke (1663–1727) IMG] die "Naturalienkammer der Glauchischen Anstalten" in einem Waisenhaus bzw. einer Schule gegründet. Nach der Jahrhundertwende entwickelte sich die Naturalienkammer jedoch zu einer enzyklopädischen Lehrsammlung, und war damit ebenfalls einer breiteren Öffentlichkeit, besonders Geistlichen und Schülern, aber auch interessierten Laien, zugänglich.

    Anders auf Forchtenstein unter Palatin Paul Esterhazy von Galántha (1635–1713). Dort wurden das Familienarchiv sowie eine anfänglich disparate Sammlung von wertvollen Gold- und Silberarbeiten, Automaten und filigranen Elfenbeindrechselarbeiten in einer Kunstkammer untergebracht, die mit Schränken versehen und nur über eine Falltür zu erreichen war. Diese strikten Vorgaben, die noch rigider ausfielen als einst bei manchem fürstlichen Inventor, schlossen eine größere Öffentlichkeit von vornherein aus. Einen gelehrten Sammlungskustoden, wie etwa der zuvor erwähnte Adam Olearius in Gottdorf, der für eventuelle Ankäufe und die Inventarisierung zuständig gewesen wäre, gab es nicht. Der privilegierte Besucher betrachtete kostbare Kleinodien und Preziosen in einem noch weitgehend geschlossenen Kosmos.39

    Die formale Einrichtung, Inventarisierung sowie die Pflege der Kammern wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts zunehmend Universalgelehrten bzw. -künstlern übertragen. Bei der Zürcher WasserkircheJohannes Meyer (1655–1712), Abriss der Kunst-Kammer auf der Wasser Kirchen In Zürich, 1688 IMG ist unklar, wer – neben zunächst zwei hauptamtlichen Bibliothekaren und einem für die Münzsammlung zuständigen Antiquarius – speziell als Kustode für die Kunstkammer bis zu ihrer Auflösung 1779 zuständig war. Als Förderer dieser Einrichtung fungierten jedoch von Anfang an Gelehrte, wobei der Stadtarzt und Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) zu den Prominentesten gehörte. Für den Unterhalt der Institution sorgten der Rat, die Mitglieder der Bibliotheksgesellschaft sowie großzügige Legate und Nachlässe.

    Für die Gestaltung und Konzeption der Franckeschen Kammer in HalleKunst- und Naturalienkammer, Halle: Blick in den Innenraum IMG zeichnete der Universalgelehrte und Künstler Gottfried August Gründler (1710–1775) fast allein verantwortlich.40 1735 ordnete er eine auf zwischenzeitlich ca. 4700 Objekte angewachsene Sammlung, für die er im ehemaligen Schlafsaal der Waisen eine prächtige Wunderkammer schuf. Die Kollektion setzte sich aus Dingen zusammen, die aus der lokalen Umgebung oder aus den hauseigenen Werkstätten stammten und wurde zudem von überseeischen, pietistischen Missionaren ständig ergänzt. Mithilfe der Taxonomie Carl von Linnés (1707–1778)[Folia simplicia 1737] systematisierte Gründler Naturalia, ordnete Modelle, Artificialia (u.a. aus den Missionsländern) sowie "heilige Sachen", die er in jeweils 16 verglasten sogenannten "Repositorien" (Schauschränken) präsentierte. Auch deren illusionistische Bekrönungen stammen von seiner Hand und fassen mit gemalten Motiven den jeweiligen Inhalt zusammen. Heute hängen und stehen wieder wie einst – in "traditioneller" Wunderkammer-Inszenierung – über den Raum verteilt Gemälde, Kupferstiche, präparierte Tiere, Knochen, Landschafts- und Hausmodelle sowie jeweils ein geo- bzw. heliozentrisches Weltsystem.

    In Halle lässt sich gleichsam Anfang und Ende einer Entwicklung beobachten, der diese Kammer so einzigartig macht. Die verglasten Schranktüren verweisen auf die Demarkationslinie zwischen zwei unterschiedlichen Weltbildern: auf der einen Seite der Universalismus der Dinge, die im Raum gleichwertig angeordnet sind, auf der anderen Seite die Ordnung innerhalb des Schranks, die Kunst und Natur voneinander trennt. Es scheint, als sei ein lang andauernder Verständnisprozess erstarrt, oder um es mit Michel Foucault angesichts dieser sichtbaren Modifikationen des Denkens zu formulieren:

    Die Aktivität des Geistes […] wird also nicht mehr darin bestehen, die Dinge auseinanderzurücken, auf die Suche all dessen zu gehen, was in ihnen gewissermaßen eine Verwandtschaft, eine Anziehungskraft […] enthüllen kann, sondern darin, zu unterscheiden: das heißt, die Identitäten festzustellen, dann die Notwendigkeit des Überganges zu allen Graden, die sich davon entfernen.41

    Nachhall in der Gegenwart

    Der allgemeine Niedergang der Wunderkammern als begehbare holistische Weltmodelle hatte zu Beginn des 18. Jahrhundert längst begonnen. Ihr ästhetisches Prinzip, das auf der theatralen Präsentation von Wundern und Artefakten als Zeugnissen von Weltanschauung und Wissen basierte, hatte ausgedient. "Die einzelnen Sammlungsbereiche beginnen sich zu verselbständigen, so wie sich in der zweiten Jahrhunderthälfte [des 17. Jahrhunderts] die Naturwissenschaften aus dem Kontext umfassend polyhistorisch-humanistischer Gelehrsamkeit herauslösen und als autonomes Teilsystem etablieren."42 Das alte Bündnis zwischen Kunst und Handwerk schien aufgekündigt,43 was sich etwa in Aussagen wie von Daniel Major aus dem Jahr 1674, niederschlug. Er riet potentiellen Inventoren, nunmehr ausschließlich gelehrte Kämmerer zu berufen "und nicht einen Uhrmacher / Dräher oder andere Künstler und Handwercks-Mann."44 "Stimmen wie diese", befand Robert Felfe, "markieren eines jener zentrifugalen Momente, die den Mikrokosmos der Kunst- und Naturalienkammer als sinnvolles Ensemble auseinandertreiben sollten."45

    Sofern es keine Spezialinteressen des jeweiligen Inventors gab oder ein (universal-) gelehrter Künstler bzw. Kustode die Sammlung betreute, war die intellektuelle Beschäftigung mit den Gegenständen und den Prinzipien der Wunderkammer meist jenseits der fürstlichen Sammlungsbühnen erfolgt. Auch wenn Wissen in den Wunderkammern vielleicht weniger generiert als akkumuliert wurde, waren sie als Foren des Austauschs dennoch wesentliche und in ihrer Wirkung nicht zu unterschätzende Instrumente einer geschärften Wahrnehmung.

    Zur Auflösung bzw. Zerstreuung einst geschlossener Sammlungen trugen zudem Erbteilungen oder Verkaufsverpflichtungen der Erben bei, so dass heute kaum eines der ursprünglichen Ensembles komplett erhalten ist und darum nicht in historischem Zustand wieder hergestellt werden konnte. Bei den meisten Rekonstruktionsversuchen gelingen deshalb im besten Falle musealisierte Fassungen dieses verschwundenen Phänomens universeller Weltsicht. Unser Blick trifft dann, bei aller Pracht und Herrlichkeit der präsentierten Kammerstücke (oft nur) ein bestimmtes Objekt – und vermag darin selten die Welt zu betrachtenFabian Baur: "Die Versuche", Installation im KunstRaum Wunderkammer, Stuttgart 2006, in der Reihe Studiolo 1-5 (180 x 350 x 250 cm/ Bücher, Video, 2 min. Loop). © Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers. .46

    Gabriele Beßler

    Anhang

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    Weschler, Lawrence: Mr. Wilsons Wunderkammer: Von aufgespießten Ameisen, gehörnten Menschen und anderen Wundern der jurassischen Technik, München 1998.

    Anmerkungen

    1. ^ Eine der frühesten Erwähnungen findet sich in der Zimmerischen Chronik aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. Dort ist von der "wundercammer" des Reichskammergerichtspräsidenten Graf Wilhelm Werner von Zimmern (1485–1575) auf Burg Herrenzimmern die Rede, die dieser um 1510 erworben hatte; vgl. Barack, Zimmerische Chronik 1881–1882, vol. 4, S. 88.
    2. ^ Weitere Belege für die Zeitgenossenschaft der Begriffe liefert die Inventarliste von 1560 für den "Italienischen Bau" Ludwig X. mit der Lokalisierung "Auffm Podn bey der KhunstCamer", vgl. Wartena, Bau 2009, S. 90. Hinweise finden sich auch im Testament des Erzherzogs Ferdinand von Österreich aus dem Jahre 1594, das folgendes Erbe an dessen jüngeren Sohn, Markgraf Karl von Burgau, vorsieht: "Kriegsgerüst, Värnus und hausplunder, auch den [sic!] KUNST-ODER WUNDER- desgleichen Rüst- und HarnischCAMERN …, vgl. Bauer, Kunstkammer 1976, S. XIV, Anm. 23.
    3. ^ Foucault, Ordnung, 1995, S. 88.
    4. ^ Vgl. das Inventar der Münchner Kunstkammer von 1598; verfasst von dem Juristen Johann Baptist Fickler.
    5. ^ Im Zuge des spatial turn steht der frühneuzeitliche Raum im Zentrum der aktuellen kulturhistorischen Diskussion. Siehe dazu u.a. Friedrich, Die Erschließung des Raumes 2014 (vgl. den Tagungsbericht des 13. Jahrestreffen des Arbeitskreises für Barockforschung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 2009: "Die Erschließung des Raumes: Konstruktion, Imagination und Darstellung von Räumen und Grenzen im Barockzeitalter".
    6. ^ Beispielhaft mögen hierfür die Einrichtungen des Bendediktinerstifts Kremsmünster ab 1630 oder des Erzstifts Salzburg ab ca. 1680 stehen.
    7. ^ Legge, Museen 2005, S. 5.
    8. ^ Vgl. Links zu rekonstruierten Wunderkammern: http://www.francke-halle.de/die-kunst-und-naturalienkammer-der-franckeschen-stiftungen/angebote-v-60.html?sstr=wunderkammer [22.05.2015];  Rekonstruktionen bzw. Wunderkammer-Museen: http://www.khm.at/besuchen/sammlungen/kunstkammer-wien/ [22.05.2015]; http://www.schlossambras-innsbruck.at/besuchen/sammlungen/die-kunst-und-wunderkammer/ [22.05.2015]; http://www.skd.museum/de/museen-institutionen/residenzschloss/gruenes-gewoelbe/index.html [22.05.2015]; http://www.bayerisches-nationalmuseum.de/index.php?id=73 [22.05.2015].
    9. ^ Zu einer der ersten, spektakuläreren Ausstellungen gehörte die Bonner Präsentation "Wunderkammer des Abendlandes" von 1996, gefolgt von "Weltenharmonie – Die Kunstkammer und die Ordnung des Wissens" im Braunschweiger Herzog Anton Ulrich-Museum 2000 (vgl. König-Lein, Weltenharmonie 2000).
    10. ^ Allerdings ist gerade der interdisziplinäre Zweig der historischen Forschung, der für die Untersuchung spartenübergreifender Wunderkammern wesentlich ist, einer der jüngsten. So wurde das richtungweisende Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte erst 1994 gegründet!
    11. ^ Schlosser, Kunst- und Wunderkammern 1908, S. 185. Schlosser konzentrierte sich allerdings überwiegend auf künstlerisch bearbeitete Kunstkammerstücke (Artificialia).
    12. ^ Mit fokussierten Untersuchungen traten etwa Liebenwein, Studiolo 1977 und Pomian, Ursprung 1988 hervor. Neben den Ausstellungen der 1990er Jahre (vgl. Anm.8) gelten als wesentliche Impulsgeber zur Wunderkammerforschung Bredekamp, Antikensehnsucht 1993, sowie die internationalen Autoren des Aufsatzbandes Grote, Macrocosmos in microcosmo 1994. Dokumentarisch-belletristisch: Weschler, Wunderkammer 1995. Zum Thema Sammlungen: Becker, Raritätenkabinett 1996; Minges, Sammlungswesen 1998. Zu internationalen Einblicken siehe z.B. Kenseth, Marvelous 1991, Lugli, Naturalia 1998; Handel und Austausch: Bujok, Neue Welten 2004, Collet, Welt in der Stube 2007; zur Frage des Raums bzw. Virtualität: Stafford, Wonder 2001, Brakensiek, Wunderkammer 2006, Leonhard, Was ist Raum 2006, S. 11–34, Felfe, Raumkonzepte 2007; neuere Überblicksdarstellungen und Aufsatzsammlungen: Schramm, Kunstkammer 2003, Marx, Sammeln 2006, Beßler, Wunderkammern 2012; zur religiösen Konnotation: Laube, Reliquie 2012. Vgl. auch das aktuelle Forschungsvorhaben zur Neueinrichtung der herzoglich-württembergischen Kunstkammer im Landesmuseum Stuttgart, online: http://www.landesmuseum-stuttgart.de/sammlungen/forschung/kunstkammer/ [22.05.2015].
    13. ^ Als Künstler zu nennen sind etwa Kurt Schwitters und seine Merz-Bauten, Marcel Broodthaers "Musée d'Art Moderne, Departement des Aigles", Joseph Beuys' Vitrinen sowie als ein Exempel für das 21. Jahrhundert Olafur Eliassons raumgreifende, auch auf naturwissenschaftlichen Erkennntissen basierende Arrangements. Zu den Pionieren der Kuratoren (Neuinventoren) und Ausstellungsmachern gehört Harald Szeemann (1933–2005), der vor allem mit der Einrichtung der Kasseler Documenta 5 Furore machte.
    14. ^ Vgl. dazu ausführlich Beßler, Wunderkammern 2012, S. 19ff., S. 46.
    15. ^ Belting, Florenz 2008, S. 10.
    16. ^ Vgl. auch Luther, Naturerscheinung 1980, S. 46ff., hier besonders zur Zentralperspektive, S. 81.
    17. ^ Felfe, Sammlungspraxis 2006, S. 21. Zu den räumlich-visuellen Konstruktionsprinzipien von Vredeman de Vries siehe auch Siegel, Die "ganz accurate" Kunstkammer 2006, S. 171: "Der Gedanke von Maß und Zahl und Gewicht wird hier in sichtbare Ordnung des symmetrisch eingerichteten und zentralperspektivisch präsentierten "Museums" übersetzt. Systematische und visuelle Wohlgeordnetheit werden gleichbedeutend."
    18. ^ Ebd., S. 159.
    19. ^ Bredekamp, Antikensehnsucht 1993, S. 33.
    20. ^ Sangl, Kunst- und Wunderkammer 2007, S. 31.
    21. ^ Vgl. Wartena, Bau 2009, S. 90.
    22. ^ Busch, Studien 1973, S. 85.
    23. ^ Nach Umsiedlung der Kunstkammer in die ehemalige Bibliothek, ist die Sammlung heute weitgehend dezimiert, aber in den originalen Schauregalen im Ambraser Schloß zu betrachten.
    24. ^ Siehe dazu auch Anm. 1 dieses Beitrags.
    25. ^ Vgl. Beßler, Wunderkammern 2012, S. 78, S. 94.
    26. ^ Vgl. Drees, Gottorfische Kunstkammer 1997, S.11–28.
    27. ^ Solche spezialisierten und teilweise auch systematisierten Naturalienkabinette existierten als "Urzellen" wissenschaflticher Forschung bereits im 16. Jahrhundert, besonders in Italien. Ein Beispiel ist die Studiensammlung des Bologneser Gelehrten Ulisse Aldrovandi (1522–1605), der auch als Autor der wegweisenden Übersicht Le Antichità della città di Roma von 1566 bekannt wurde. Große Teile der umfangreichen Sammlung Aldrovandis wurden ca. 60 Jahre nach seinem Tod ins Bologneser Museo Cospiano des Patriziers Ferdinando Cospi integriert. Was davon blieb, ist heute in der Universität zu Bologna zu besichtigen: http://www.filosofia.unibo.it/aldrovandi/ [22.05.2015].
    28. ^ Eine rekonstruierte Variante des Globus von 3 Meter Durchmesser ist seit 2005 wieder im Neuwerkgarten des Gottorfer Schlosses zu besichtigen. Der überwiegende Teil der Sammlung ist 1751 in der Kopenhagener Kunstkammer aufgegangen, die ca. 100 Jahre zuvor gegründet worden war.
    29. ^ Vgl. Mackensen, Kasseler Wissenschaftskammer 1997, S. 385.
    30. ^ Härtel, Büchersammler 1979, S. 320.
    31. ^ Daston, Neugierde 1994, S. 55.
    32. ^ Häutle, Hainhofer 1881, S. 84f. bzw. Fleischhauer, Herzöge 1976, S. 13ff.
    33. ^ Für einen knappen ersten Überblick siehe Balsiger, Kunst- und Wunderkammern 1970 sowie – geographisch etwas weiter gefasst – MacGregor, Eigenschaften 1994.
    34. ^ Hieraus stammen auch die meisten idealtypischen Darstellungen von Wunderkammern, deren Stiche auch heute noch vielfach als real verstandene Abbilder in etlichen Publikationen zu finden sind.
    35. ^ Vgl. Felfe/Wagner, Museum 2010, S. 10f. An der ETH Zürich ist eine Arbeit über Bibliotheksarchitektur bzw. die Architektur wissenschaftlicher Sammlungen in Vorbereitung: vgl. http://www.perspectivia.net/content/publikationen/discussions/5-2010/graemiger_bibliotheksarchitektur/#sdfootnote13anc [22.05.2015].
    36. ^ Murr, Beschreibung 1778, S. 58.
    37. ^ Solche und ähnliche weitere Bestrebungen werden in dieser kursorischen Übersicht untersucht: Beßler, Vormoderne städtische Sammlungen 2015, S. 309ff. (Nürnberg).
    38. ^ Zur Gründungsidee vgl. Rütsche, Kunstkammer in der Wasserkirche 1997, S. 55ff.
    39. ^ Noch fehlt es hier an einer eingehenden wissenschaftlichen Aufarbeitung der Kunstkammer. Es sei aber auf den kurzen Überblick von Körner, Burg Forchtenstein 2009, hingewiesen.
    40. ^ Vgl. Müller-Bahlke, Die Wunderkammer 1998, S. 29–31.
    41. ^ Foucault, Ordnung 1995, S. 88, Hervorhebung lt. Übersetzung.
    42. ^ Braungart, Utopie 1989, S. 136.
    43. ^ Felfe, Sammlungspraxis 2006, S. 18.
    44. ^ Major, Bedencken 1674, VII, § 3.
    45. ^ Felfe, Sammlungspraxis 2006, S. 19.
    46. ^ Bachelard, Poetik 2001, S. 209.

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    : Kunst- und Wunderkammern, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz European History Online (EGO), published by the Leibniz Institute of European History (IEG), Mainz 2015-07-09. URL: https://www.ieg-ego.eu/besslerg-2015-de URN: urn:nbn:de:0159-2015070810 [JJJJ-MM-TT][YYYY-MM-DD].

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