Ostmitteleuropa als historischer Raum
Das östliche Mitteleuropa lässt sich gleichermaßen als Grenzraum des Westens gegenüber dem europäischen Osten wie als Zwischenraum zwischen Ost und West, zwischen Deutschland und Russland bzw. der Sowjetunion verstehen. Beide Sichtweisen ergänzen einander, und aus beiden lassen sich Merkmale herleiten, die als spezifisch für die Region angesehen werden können.
Die deutsche Fachwissenschaft grenzt die historische Region Ostmitteleuropa gegenüber dem eigentlichen, ostslawischen Osteuropa sowie gegenüber Südosteuropa ab und entwirft darüber hinaus Grundzüge einer eigenständigen nordosteuropäischen Region. Als historischer Raum wurde das östliche Mitteleuropa demnach durch die langen mächtepolitischen Einwirkungen geformt: durch die hochmittelalterliche Kolonisation, die Ostmitteleuropa als kulturell an den Westen gebundenes, deutsch-slawisches Überlappungsgebiet jenseits der Reichsgrenzen überhaupt erst hervorgebracht habe, und durch die jahrhundertelange imperiale Herrschaft über eine Region mit einer spezifischen, ständestaatlichen Ordnung, die zur Grundlage nationalstaatlicher Vielfalt geworden sei.1 Bereits in den fünfziger Jahren wurde das östliche Mitteleuropa als eine historische Region beschrieben, die in all ihren wesentlichen Merkmalen vom Westen geprägt gewesen sei. Spuren der Orientierung am jagiellonischen2 Polen werden in solchen Entwürfen ebenso diskutiert wie die Vorstellung eines "Intermarium", einer Region zwischen den Meeren, oder eines "antemurale christianitatis".3 Als einflussreich hat sich schließlich auch die Skizze einer Überlappungszone zwischen West und Ost erwiesen, die in ihren demokratischen Entwicklungsmöglichkeiten durch autokratische Deformationen blockiert worden sei.4
Solche historisch-politischen Raumentwürfe eines östlichen Mitteleuropa als Grenzregion und Zwischenraum gehen bis in das 19. Jahrhundert zurück und wurden im Zuge des Ersten Weltkrieges neu ausformuliert. Einen zentralen Strang bilden Vorstellungen eines deutsch geprägten Mitteleuropas, die der Politiker und Theologe Friedrich Naumann (1860–1919) 1915 zum Leitbild eines mitteleuropäischen Wirtschaftsraumes unter deutscher Hegemonie als Kriegsziel der Mittelmächte bündelte. In der Vorstellung eines deutschen Expansionsraumes, der sich auf die deutschen Minderheiten und deutsche Kulturtraditionen stützen würde, fand diese Strömung ihre Fortsetzung in der Ostforschung der zwanziger und dreißiger Jahre, die schließlich im nationalsozialistischen Generalplan Ost kulminierte. Dem standen auf britischer Seite die geopolitischen Raumvorstellungen des Abgeordneten und Geographen Halford Mackinder (1861–1947) gegenüber, der eine nationalstaatliche Ordnung im östlichen Europa als Schlüssel zu einem stabilen Gleichgewicht des gesamten Kontinentes ansah.5
Einen zweiten Strang bilden die Entwürfe des östlichen Mitteleuropa als Zone kleiner Völker, die eine freiheitliche, demokratische Entwicklung der Region verbürgten. Sie lassen sich bis auf den tschechischen Politiker František Palacký (1798–1876) zurückverfolgen. Dessen 1848 formulierte Rechtfertigung der Habsburgermonarchie als Schutzraum ihrer Völker gegenüber den imperialen Bestrebungen Deutschlands wie Russlands wurde 1915 von Tomáš G. Masaryk (1850–1937), der später erster Staatspräsident der Tschechoslowakei wurde, aktualisiert und ihrer austroslawischen Bezüge entkleidet.6 In dieser Tradition stand auch die Mitteleuropadebatte der 1980er Jahre: Ostmitteleuropäische Schriftsteller und Intellektuelle, allen voran Milan Kundera (*1929), György Konrád (*1933) und Czesław Miłosz (1911–2004) reklamierten das östliche Mitteleuropa erneut als kulturellen und politischen Teil des Westens und entwarfen das Gebiet in dieser Tradition zugleich als Zwischenraum und Experimentierfeld einer friedlichen Überwindung der Blockkonfrontation.7
Mit dem Beitritt aller Staaten der Region zur Europäischen Union im Jahr 2004 haben solche historischen Raumentwürfe an politischer Relevanz erheblich eingebüßt. Die Visegrád-Gruppe, die seit 1991 die wirtschaftliche und sicherheitspolitische Integration Polens, der Tschechischen Republik, der Slowakei und Ungarns koordiniert, fristet inzwischen kaum mehr als ein Schattendasein. Dagegen hat der imperial turn in der historischen Forschung im vergangenen Jahrzehnt das östliche Mitteleuropa in seiner Zwischenlage zwischen den Imperien als Laboratorium der europäischen Moderne neu entdeckt. Deutlich wird dies am Konzept eines Zentraleuropas, in dem urbane Milieus kulturell eng verflochten waren und gerade auch Krisenerfahrungen intellektuell produktiv gemacht wurden. Die Heterogenität der Region, die lange als nationalkulturelle Fragmentierung begriffen wurde, erscheint als Raum für multiple Öffentlichkeiten nunmehr in einem anderen Licht. Der neue imperiale Blick hat somit zugleich das Bewusstsein für prekäre, umstrittene kulturelle Entwürfe jenseits nationaler Vereinnahmungen bis hin zu postkolonialen Diskursen geschärft.8
Im globalgeschichtlich grundierten Entwurf einer Bruchzone (shatterzone) nationalstaatlicher Emanzipation aus konkurrierenden und schließlich zerfallenden Großreichen wird das östliche und südöstliche Europa hingegen als Inkubationsort nationaler Homogenitätsbestrebungen und ethnischer Gewalt beschrieben. Die damit eng verbundenen nationalen Opferdiskurse sind wirkungsmächtig im Bild der "Bloodlands" zusammengefasst worden, das Polen und die Ukraine als Schauplatz sichtbar macht, an dem sich die Gewalthaftigkeit stalinistischer und nationalsozialistischer Herrschaft überlagert und zugleich zu ihren extremsten Formen gefunden habe.9 Mit der zugrundliegenden Frage nach produktiven wie destruktiven Dimensionen kultureller Verflechtungen in imperialen und postimperialen Kontexten hat sich somit auch für das östliche Mitteleuropa jenseits politischer Vereinnahmungen eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Geschichtsschreibung etabliert, die sich dem Paradigma der Transnationalität verpflichtet sieht.10
Politische und soziale Ordnung
Die Grundlagen späterer staatlicher Ordnung im östlichen Mitteleuropa gehen auf die Königreiche zurück, die sich mit dem Ausgreifen christlicher Mission und kirchlicher Organisation am östlichen Saum des Frankenreiches und später des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation auf slawischer bzw. magyarischer Grundlage herausbildeten. Was lange die Kernregion des "barbarischen Europa" gewesen war, dessen germanische und slawische Rechtstradition und Sozialverfassung als dritte Wurzel Europas neben der lateinischen und griechischen Kultur gesehen werden können, wurde nunmehr zu jener Region, in der sich diese drei Einflüsse überschnitten.11
Dauerhaft verfestigt wurde die Bindung an den Westen in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts. Das aus dem Großmährischen Reich hervorgegangene Herzogtum Böhmen erkannte 950 die Oberhoheit des deutschen Königs und späteren Kaisers Otto I. (912–973) an. Von dem 973 eingerichteten Bistum Prag gingen bald wichtige Impulse für die kirchliche Organisation Ostmitteleuropas aus. Hier taufte der Heilige Adalbert von Prag (956–997) den ungarischen Herzog und leitete die Missionierung der Pruzzen ein. An seinem Grab in Gnesen gründete Kaiser Otto III. (980–1002) auf einer Wallfahrt im Frühjahr 1000 ein eigenständiges polnisches Erzbistum und ermöglichte Herzog Bolesław I. Chrobry (ca. 967–1025), den er zu seinem Bruder und Mithelfer des Reiches ("fratrem et cooperatorem imperii") erhoben und ihn Freund und Bundesgenossen ("populi Romani amicum et socium") genannt hatte,12 den baldigen Aufstieg zu einem polnischen Königtum. Im August 1000 nahm Stephan I. (ca. 974–1038) in Ungarn aus der Hand eines päpstlichen Gesandten die Königskrone entgegen. Damit war binnen weniger Jahrzehnte eine eigenständige und zugleich an den lateinischen Westen angelehnte Herrschaftsordnung entstanden.
Das Aussterben der Gründungsdynastien der Piasten in Polen (1370), der Přemysliden in Böhmen (1306) und der Arpaden in Ungarn (1301) und der Übergang zu Wahlmonarchien ebnete einerseits den Weg zu einer Stärkung des Adels und seiner verbrieften ständischen Rechte, andererseits zu einer Reihe dynastischer Verbindungen mehrerer Königreiche. Davon erwiesen sich drei als dauerhaft und bestimmend für die politische Ordnung Ostmitteleuropas: die Personalunion Ungarns mit Kroatien von 1102, die jagiellonische Heiratsverbindung zwischen Polen und Litauen im Jahr 1386, aus der schließlich die Lubliner Union von 1569 hervorging, sowie die Verbindung Ungarns und der böhmischen Länder mit den habsburgischen Kernlanden infolge der ungarischen Niederlage gegen die Osmanen bei Mohács 1526. Danzig und Riga, Krakau und Prag, Wilna und Lemberg erweiterten das Netz europäischer Handelsmetropolen gen Osten und banden die jungen Königreiche noch stärker an den Westen. Mit dem Erwerb des Fürstentums Halyč in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts und vor allem durch die polnisch-litauische Union überlappten sich am östlichen Rand Ostmitteleuropas altpolnisch-lateinische und altrussisch-orthodoxe Einflüsse, welche die konfessionellen, aber auch die sozialen und politischen Verhältnisse der Region dauerhaft prägten.
Die Schwäche des Königtums und mehr noch die mächtepolitische Randlage gegenüber der Kiever Rus' und den daraus hervorgegangenen Fürstentümern, vor allem aber gegenüber dem Osmanischen Reich führten dazu, dass sich im östlichen Mitteleuropa eine spezifische politische Ordnung herausbildete, die vom ständischen Adel getragen wurde. Nicht nur führten kleinere und größere Kriege dazu, dass sich ein zahlenmäßig starker, in militärisch nutzbaren Klientelsystemen strukturierter Kleinadel herausbildete. Der stete Kontakt zu den Osmanen prägte wie das Selbstverständnis als "antemurale christianitatis" auch die frühneuzeitliche Adelskultur Polens und Ungarns. Deren ideellen Kern bildete ein ständisch ausgeformtes Freiheitsdenken, das ein hohes Maß an regionaler adeliger Selbstverwaltung mit der verbrieften Beteiligung an der Gesetzgebung verband. Die im jeweiligen Reichstag versammelte Adelsnation wurde zum Inbegriff staatlicher Kontinuität, und das Königreich Polen verstand sich sogar explizit als Adelsrepublik.
Das Polen der im 17. Jahrhundert sprichwörtlich gewordenen "goldenen Freiheit"13 und das autokratische, erst Ende des 15. Jahrhunderts durch Ivan III. von Moskau (1440–1505) von der zweihundertjährigen Mongolenherrschaft befreite Russland lassen sich seit der Frühen Neuzeit als diametral gegensätzliche und doch miteinander verflochtene politische Ordnungen begreifen. Stand zu Beginn des 17. Jahrhunderts in der "Zeit der Wirren" für einen kurzen Moment die Möglichkeit im Raum, die weit nach Osten ausgreifende polnische Adelsrepublik könnte ihr Verfassungsmodell auch im Moskauer Reich etablieren, so zwang sie der konsolidierte russische Militärstaat ein Jahrhundert später im Gefolge der Nordischen Kriege (1560–1721) unter seine Hegemonie und nutzte seit dem "Stummen Sejm" von Grodno 171714 seine Stellung, um den Ausbau monarchischer Macht in Polen zu blockieren.15 Der hier etablierte Gegensatz von Freiheit und Autokratie wirkt im polnisch-russischen Verhältnis über die Teilungszeit und die sowjetische Hegemonie hinweg bis in die Gegenwart. Gemeinsam war Polen und Russland hingegen die Rechtsstellung der Bauern, die wie im gesamten östlichen Europa bis ins 19. Jahrhundert zu weiten Teilen von gutsherrschaftlichen Hörigkeitsverhältnissen bis hin zur Leibeigenschaft bestimmt wurde.
Ein solcher Gegensatz in den Formen politischer Herrschaft kann für das Verhältnis zwischen dem habsburgischen Ungarn nach 1526 und dem Osmanischen Reich weniger schlüssig argumentiert werden. 1541 hatten die Osmanen mit der Eroberung von Buda Zentralungarn unter ihre direkte Herrschaft gebracht. Das ehemals ostungarische Siebenbürgen wie zuvor schon die Donaufürstentümer mussten die Souveränität des Sultans anerkennen. Im königlichen, nunmehr habsburgischen Ungarn, das sich von Kroatien über Westungarn bis in die heutige Slowakei erstreckte, unterstützte der Sultan in den konfessionellen Ständekämpfen des 17. Jahrhunderts wiederholt die Gegner habsburgischer Herrschaft und diente somit als mächtepolitischer Rückhalt der ständischen Ordnung. Ungarn ließ sich dementsprechend bis ins 19. Jahrhundert hinein nur zum Teil in den Militär- und Steuerstaat absolutistischer Prägung einbinden, der von den österreichischen und böhmischen Erblanden her entwickelt wurde und die Balance zwischen der reichsweiten Verflechtung vor allem des Adels und dessen ausgeprägtem Regionalbewusstsein neu austarierte.16
In Polen hingegen lähmten die benachbarten Großmächte Preußen, Österreich und insbesondere Russland über das gesamte 18. Jahrhundert hinweg den Ausbau staatlicher Strukturen. Erst die Verfassung vom 3. Mai 1791, die als erste geschriebene Verfassung Europas berühmt wurde, verband König und Adel in einer zukunftsweisenden, parlamentarisch geprägten Ordnung und bot die Aussicht, dass sich Polen aus eigener Kraft erneuern und aus der russischen Hegemonie lösen könnte. Daraufhin intervenierten die Großmächte, Polen wurde geteilt. Die "negative Polenpolitik", die Brandenburg-Preußen und Russland im 18. Jahrhundert in der Kontrolle über Polen miteinander verbunden hatte, setzte sich nun in Formen direkter politischer Herrschaft über die geteilte Adelsrepublik fort.17
Die Eingliederung der ostmitteleuropäischen Königreiche in imperiale Herrschaftsverbände knüpfte zunächst in der Habsburgermonarchie an das frühneuzeitliche Muster zusammengesetzter Staatlichkeit (composite states) an, die über den Monarchen und seine Kanzleien vermittelt wurde, die politischen und sozialen Verhältnisse der einzelnen Kronländer aber kaum antastete. Für die preußischen Teilungsgebiete Polens galt dies nicht mehr, wohl aber für die baltischen Provinzen und später mit Abstrichen auch noch für diejenigen Teile Polens, die im Zuge der ersten drei Teilungen in das Zarenreich eingegliedert wurden. Je mehr sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vom jeweiligen Herrscher aus gemeinsame und zusehends auch einheitlich konzipierte Verwaltungsstrukturen ausbildeten, desto deutlicher wurde jedoch die Spannung zwischen dem Reichsverband und den Kronländern, die nunmehr in Böhmen und Ungarn, aber auch für das geteilte Polen den Bezugspunkt nationaler Erneuerungsvorstellungen bildeten.
Dabei blockierten die Habsburgermonarchie, das Zarenreich und Preußen bzw. das Deutsche Reich keineswegs die innere Herausbildung moderner wirtschaftlicher und politischer Verhältnisse in Ostmitteleuropa, sondern prägten diese im imperialen Rahmen. Deutlich wird dies nicht zuletzt daran, dass die tschechische wie die ungarische Nationalbewegung die Habsburgermonarchie keineswegs grundsätzlich in Frage stellten, sondern vor allem auf eine konstitutionelle Ordnung hinarbeiteten, die den historischen Königreichen möglichst weitreichende Freiheiten garantieren und so innerhalb des Reichsverbandes die Umgestaltung zu liberalen Nationalstaaten garantieren sollte. Der anfänglich enge Kontakt der tschechischen, slowenischen, kroatischen, slowakischen und ukrainischen Nationalbewegungen im Geiste slawischer Gemeinsamkeiten mündete in den Prager Slawenkongress von 1848, der als Gegenentwurf zur Frankfurter Paulskirchenversammlung gedacht war und zugleich erhebliche Spannungen zwischen den jeweiligen Interessen offenbarte. Später wurde der 1882 eröffnete tschechische Teil der Prager Karlsuniversität zu einem wichtigen Bezugspunkt auch südslawischer Intellektueller. Der österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867 wurde von den slawischen Nationalbewegungen zwar als Blockade ihrer eigenen Ambitionen empfunden, wurde aber zugleich für Tschechen und Kroaten zum Maßstab innerer Selbständigkeit auf staatsrechtlicher Basis, wie sie ansonsten nur dem polnisch dominierten Galizien gewährt wurde.
Welche Herausforderungen der Übergang in eine konstitutionelle, parlamentarische Ordnung mit sich brachte, wurde in der Habsburgermonarchie und in den preußischen Teilungsgebieten Polens bereits in der Revolution von 1848 deutlich, im russischen Teilungsgebiet nach der Revolution von 1905. In der politisierten Öffentlichkeit machten sich konkurrierende nationale Ansprüche auf allen politischen Feldern bemerkbar. Vor allem das Bildungswesen, die Kommunalpolitik, die Wirtschaft und schließlich auch die Armee wurden zu Schauplätzen nationaler Auseinandersetzungen, auch wenn der machtpolitische, imperiale Rahmen bis zum Ersten Weltkrieg unverändert blieb. Erst der sukzessive militärische Zusammenbruch aller drei imperialen Hegemonialmächte Ostmitteleuropas sowie die politische Mobilisierung durch den Krieg ermöglichte die Entstehung jener Nationalstaaten, die seither die politische Ordnung im östlichen Mitteleuropa prägen. Die nationalstaatliche Unabhängigkeit brachte eine demokratische und soziale Emanzipation, die jedoch bald in autoritäre Formen überging. Was zunächst als stabiler Schutzwall oder "cordon sanitaire" zwischen Deutschland und der Sowjetunion und als Stütze einer von Frankreich getragenen Ordnung des Kontinents angelegt war, wurde zu einer Krisenregion, die schließlich der nationalsozialistischen Aggression erlag.
Der Zweite Weltkrieg wurde insbesondere in Polen als radikale Zerstörung sozialer und politischer Verhältnisse erlebt. Neben der deutschen Besatzung, deren Vernichtungswillen im Rückblick immer deutlicher hervortritt, ist in den letzten zwei Jahrzehnten auch die sowjetische Besatzung als wesensverwandt benannt worden.18 Obgleich die Unterschiede der deutschen Besatzungspolitik in Polen, in der Tschechoslowakei und im verbündeten Ungarn im Zweiten Weltkrieg auf der Hand liegen, sind sie in ihren Folgen für die Etablierung und Ausformung kommunistischer Diktaturen nach 1945 kaum systematisch aufgefächert worden. Diese Regime erzwangen nun auch auf breiter Basis den Durchbruch zur industriellen Arbeitsgesellschaft, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend auf die großen Städte beschränkt geblieben war. In keiner anderen Region Europas wurde dieser Prozess derart als umwälzender, gewaltsamer Eingriff von außen wahrgenommen, auch wenn die damit einhergehende Veränderung alltäglicher Lebensformen rückblickend verklärt wird.19 Nationale Unterschiede lassen sich vor allem aus den unterschiedlichen Formen des Aufbegehrens gegen die sowjetische Hegemonie in den Jahren 1956 und 1968 herleiten, sowie aus dem unterschiedlichen Ausmaß an Repression und den Formen von Opposition und Dissidenz. Diese Unterschiede führten dazu, dass auch enge transnationale Kontakte und Verflechtungen (im Kontext der durch Propaganda verordneten Freundschaft innerhalb des sowjetischen Machtbereichs) im grenzüberschreitenden Alltag der Mangelwirtschaft oder auch in der Begegnung von Intellektuellen das Bewusstsein nationaler Eigenheiten eher noch stärkten. Dieses Bewusstsein wurde auch über die Umbrüche von 1989 hinaus bewahrt.
Mit dem Beitritt zur EU ist das östliche Mitteleuropa seit 2004 auf absehbare Zeit wieder zum Ostrand des Westens geworden, bei deutlichen Abgrenzungen gegenüber dem Osten. Die verhaltene Erwartung, dass sich daraus institutionell gefestigte parlamentarische Demokratien ergeben würden und die krisenhafte Randlage einer gleichberechtigten Normalität innerhalb Europas weichen könnte, ist zuletzt durch die jüngsten Entwicklungen in Ungarn seit 2011 getrübt worden. Der nationalstaatliche Rahmen politischer Ordnung in Ostmitteleuropa ist jedoch gerade auch nach der friedlichen Auflösung der Tschechoslowakei gefestigter denn je.
Ethnische Vielfalt und nationale Frage
Sprachliche Vielfalt und nationale Konflikte gelten im Guten wie im Schlechten als Kennzeichen Ostmitteleuropas. In der Tat war das östliche Mitteleuropa bis zum Zweiten Weltkrieg von einem hohen Maß an sprachlicher und religiöser Vielfalt geprägt. Diese war keineswegs stabil, sondern wurde durch die politischen und religiösen Verhältnisse beständig neu geformt, so dass man die kulturellen und politischen Wechselwirkungen der daraus entstehenden nationalen Konflikte auf die Formel der "Konfliktgemeinschaft" gebracht hat. Was zunächst gedacht war, um die engen Verflechtungen tschechischer nationaler Emanzipation mit ihrem deutschen Gegenüber aufzuzeigen, hat sich als Topos für die Bezeichnung eingespielter Konflikte durchgesetzt, bei denen die Gegner eng aufeinander angewiesen waren. Dahinter stand und steht die Einsicht, dass solche Konflikte lange eingehegt und kontrolliert werden konnten und dass sie eben nicht unausweichlich auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts zuliefen.20
Den Ausgangspunkt ethnischer Vielfalt bildete die slawische Besiedlung im frühen Mittelalter, von der nur das Baltikum mit seiner estnischen und baltischen (lettischen, litauischen und pruzzischen) Bevölkerung ausgespart blieb. Mit dem Auseinandertreten von lateinischem und griechischem Christentum korrespondierte die Differenzierung in West- und Ostslawen. Am schwächsten war die slawische Besiedlung im Karpatenbecken. Dass die landnehmenden Magyaren seit dem späten 9. Jahrhundert dort die ungarische Sprache durchsetzten, ist auf die Christianisierung sowie die damit einhergehenden Anfänge dauerhafter Herrschaftsbildung um die Jahrtausendwende zurückzuführen und wurde durch die Aufnahme und Assimilation von ebenfalls aus der Steppe zugewanderten Petschenegen und Kumanen noch begünstigt. Nachhaltig verändert wurden die sprachlichen Verhältnisse durch die hochmittelalterliche deutsche Ostsiedlung, die das deutsch-slawische Überlappungsgebiet deutlich nach Osten verschob. Es entstanden weitgehend kompakte deutsche Siedlungsgebiete in Ostpreußen, Pommern, Schlesien und im nördlichen und westlichen Böhmen sowie weitere deutsche Sprachinseln in Mähren, Ungarn und in Siebenbürgen, oft mit unscharfen Rändern, die sich der Assimilation entzogen. Der Einfall der Mongolen 1240–1242 mit seinen verheerenden Bevölkerungsverlusten beschleunigte diese Entwicklung insbesondere in Schlesien erheblich und veränderte auch in Ungarn die ethnischen Verhältnisse. Auf das 12. und 13. Jahrhundert ist auch die Zuwanderung von Juden überwiegend aus dem deutschen Sprachraum nach Polen sowie von orthodoxen Rumänen aus den Gebieten südlich der Donau sowie schließlich von Roma und Armeniern vor allem in den Karpatenraum zu datieren. Am Ostrand des lateinischen Westens gingen religiöse und sprachliche Differenz schon vor der Reformation ineinander über und wurden durch rechtliche Privilegien und ausformulierte Selbstverwaltung stabilisiert.
Diese Entwicklung wurde durch die Reformation noch verstärkt. Soweit die politische Ordnung auf ständischen Freiheiten basierte, erleichterte sie Formen verbriefter Toleranz, die in Ungarn und Siebenbürgen am weitesten entwickelt waren. Anders als in Polen und in den böhmischen Ländern setzte sich die Gegenreformation hier denn auch nur teilweise durch. Wo der Katholizismus wie im östlichen Polen, in Ungarn und in Siebenbürgen auf die orthodoxe Bevölkerung ausgriff, schuf er mit den griechisch-katholischen Kirchen vielmehr neue gesonderte Bevölkerungsgruppen. Innerhalb privilegierter Adelsverbände mit ihren der Idee nach gleichberechtigten Mitgliedern sowie innerhalb privilegierter Stadtbürgerschaften entstand ein Homogenisierungsdruck, der diese von der überwiegend unfreien bäuerlichen Bevölkerung scharf abgrenzte.
Diese Spaltung schlug sich auch in den sprachlichen Verhältnissen nieder, so dass sich der grundbesitzende Adel und die Städter in Teilen Polens und Ungarns auch in dieser Hinsicht deutlich von der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung unterschieden. Beispielsweise waren im östlichen Polen der Adel polnisch, die Städter überwiegend polnisch oder jüdisch, die ländliche Bevölkerung dagegen litauisch oder ostslawisch. In Ungarn sprach der Adel auch in den mehrheitlich slowakischen, rumänischen oder deutschen Gebieten ungarisch, während in vielen Städten Oberungarns das Deutsche einen ähnlich hohen Stellenwert hatte wie das Ungarische oder Slowakische. Ethnische Vielfalt bestand bis ins 18. Jahrhundert vor allem im konfliktträchtigen Nebeneinander von religiösen, politischen und sozialen Gruppenprivilegien verfasster Rechtskörperschaften. Die Ansiedlung deutscher und serbischer Bevölkerungsgruppen in Zentralungarn im Gefolge der Türkenkriege ließ das Bild in den jeweiligen Gebieten nochmals bunter werden.
Diese ethnische Vielfalt erhielt mit dem Aufkommen nationaler Vorstellungen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts eine neue Qualität. Denn indem die rasche Ausweitung politischer Öffentlichkeiten und Partizipationsansprüche ständische Gruppenprivilegien unter dem Banner der Nation untergruben, erzeugten sie einen Homogenitätsdruck, der sich bald mit den jeweiligen Bewegungen zur Spracherneuerung auf der Grundlage der Volkssprache und einer meist verklärten, wenn nicht gar gänzlich erfundenen Volkskultur verband. Nur die polnische Nationalbewegung machte hier bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts insofern eine Ausnahme, als sich ihr romantischer Nationsbegriff zunächst weniger auf eine ohnehin längst etablierte Schriftsprache als auf das heroische Aufbegehren gegen die Teilungsmächte bezog.
Die Segmentierung von Teilöffentlichkeiten entlang sprachnationaler Linien erzeugte jedoch auch hier wie überall im östlichen Mitteleuropa einen Assimilationsdruck, der sich im Wandel zu modernen Industriegesellschaften zunächst vor allem in den Städten bemerkbar machte und immer weitere Bereiche des Alltags bis ins Privatleben hinein zumindest beanspruchte. Was einen echten Polen, Tschechen oder Deutschen, Ungarn oder Slowaken ausmachte, sollte sich bereits daran ablesen lassen, welche Sprache er verwendete, auf welche Schulen er seine Kinder schickte und in welchen Läden er einkaufte. Erfundene Vergangenheiten verbürgten den Übergang in die Moderne. Der Übergang vom inklusiven zum exklusiven, vom politischen zum ethnischen Nationalismus, wie er für das 19. Jahrhundert oft beobachtet wurde, war schon früh angelegt. Dies allerdings ist keine Besonderheit Ostmitteleuropas, ebenso wenig wie der damit einhergehende Übergang von partizipatorischen zu autoritären Formen des Nationalismus und dessen Wendung zum Antisemitismus.
Dieser traf im östlichen Mitteleuropa, wo seit dem 14. Jahrhundert die überwiegende Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Europas lebte, wiederum auf eine enorme Vielfalt jüdischer Bewegungen, die unterschiedliche Wege in eine jüdische Moderne suchten. In Warschau, Prag, Wien und Budapest mit ihren jungen und dynamischen Mittelschichten führte die jüdische Aufklärung, die Haskalah, direkt in die Assimilation, auch wenn diese durch die stete Begegnung mit der ostjüdischen Kultur brüchig blieb. Denn jenseits der urbanen Zentren, im kleinstädtischen Shtetl mit seinen teils traditionalen, teils chassidischen Juden, führte die Emanzipation vielmehr in unterschiedliche Spielarten des Zionismus oder eines eigenständigen jüdischen Sozialismus, nicht selten auch direkt in die entstehenden kommunistischen Parteien. Aus der direkten Begegnung von Moderne und Tradition entstand zuerst in Ungarn zudem eine eigenständige jüdische Orthodoxie.
Der demokratische Nationalstaat des 20. Jahrhunderts beruht auf Erwartungen einer ethnischen Homogenität, die oft erst gewaltsam herbeigezwungen wurde. Dieser Zusammenhang lässt sich im östlichen Mitteleuropa gut beobachten und ist in Teilen überhaupt erst aus der Untersuchung Ostmittel- und Südosteuropas so formuliert worden.21 Diese Einsicht hat den Blick auf die Entstehung nationalen und internationalen Minderheitenrechtes nicht verdrängt, aber doch verändert. Beides, Vertreibungen und Minderheitenrecht, sind insofern zwei Seiten einer Medaille, als Minderheitenrechte selbst nicht selten mit der Erwartung langfristiger, auch sprachlicher Assimilation formuliert wurden und Vertreibungen nach dem Ersten und erst recht im Gefolge des Zweiten Weltkriegs als vermeintlich dauerhafte Sicherung gegen Völkermord international sanktioniert wurden. Die Umsiedlungen infolge des Hitler-Stalin-Paktes, der nationalsozialistische Vernichtungskrieg und die anschließenden Vertreibungen vor allem deutscher, polnischer und ukrainischer Bevölkerung haben ein vergleichsweise hohes Maß an ethnischer Homogenität geschaffen. Darin eingelagert ist die Ermordung der ostmitteleuropäischen Juden in der Shoah.
Ethnisch-nationale Konflikte sind im Gefolge des Zweiten Weltkriegs jedoch nur teilweise beigelegt worden, zumal die zugrundeliegende Orientierung am homogenen Nationalstaat weiterhin vorherrscht. Nationale Spannungen entstehen insbesondere anhand der ungarischen Minderheiten in Rumänien und der Slowakei und vermehrt gegenüber den Roma. In den zweieinhalb Jahrzehnten seit dem Untergang der kommunistischen Diktaturen hat sich das Gewaltpotential nationaler Konflikte als deutlich geringer erwiesen als befürchtet.
Erinnerungskulturelle Verflechtungen
In ihrer großen historischen Tiefe sind die Erinnerungskulturen im östlichen Mitteleuropa infolge der Gewalt- und Diktaturerfahrungen des 20. Jahrhunderts doch stark zeitgeschichtlich geprägt, und sie sind über alle Ähnlichkeiten hinweg national verfasst. Einen zentralen Platz nehmen die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und an die kommunistische Diktatur ein, die in einem engen Zusammenhang präsentiert und nicht selten als Einheit verstanden werden. Gegenüber der europäischen Öffentlichkeit wird die Anerkennung einer fortgesetzten Diktaturerfahrung nach 1945 eingefordert. Dieses Anliegen zielt nicht nur auf die Unterschiedlichkeit historischer Erfahrung innerhalb Europas, sondern auch auf die Gleichrangigkeit nationalsozialistischer und stalinistischer Besatzungsverbrechen, also von Holocaust und Gulag. Das Europäische Parlament hat solche Bemühungen in dem Bestreben aufgegriffen, den 23. August als Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes und der Unterwerfung Europas unter die beiden großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts als europäischen Gedenktag zu etablieren.22 Derartige gemeinsame geschichtspolitische Aktivitäten sind schließlich auch in der wechselseitigen Orientierung neu errichteter zeitgeschichtlicher Museen in Warschau, Krakau, Danzig, Budapest und im rumänischen Sighet zu beobachten.
In den Ländern selbst sind solche Initiativen als Teil geschichtspolitischer Polarisierungen durchaus umstritten. Sie korrespondieren mit einer nicht minder verflochtenen öffentlichen Erinnerung an die jeweilige jüdische Geschichte einschließlich des Holocaust. Dies schließt kritische Fragen nach dem Anteil der jeweiligen Mehrheitsgesellschaften an der Verfolgung und Ermordung der Juden durchaus mit ein, wie vor allem die ernste innerpolnische Debatte über den Judenmord in Jedwabne gezeigt hat.23 Auch die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Ostmitteleuropa wird längst kontrovers und differenziert diskutiert. So lassen sich nunmehr auch die traumatischen Elemente einer über Jahrzehnte aufgelösten Zwischenlage zwischen übermächtigen Hegemonialreichen rückblickend thematisieren.
Seit dem Ende der kommunistischen Diktaturen in den Revolutionen von 1989 beginnt im östlichen Mitteleuropa eine europäische Normalität einzukehren. Manche Elemente wie die starke Stellung des grundbesitzenden Adels in Politik und Gesellschaft und das hohe Maß an sprachlicher und religiöser Vielfalt sind inzwischen weitgehend eingeebnet. Viele Westeuropäer mögen die Länder Ostmitteleuropas nach wie vor zunächst als Übergangsraum zum europäischen Osten wahrnehmen, schon wegen der sprachlichen Fremdheit und des nach wie vor eklatanten Wohlstandsgefälles. Hieraus ist eine neue Form der Arbeitsmigration entstanden, die vor allem viele Polen nach England, Irland und Deutschland geführt hat. Zugleich jedoch ist ganz Europa inzwischen von einem hohen Maß an Mobilität geprägt, an dem auch das östliche Mitteleuropa teilhat, so dass es sich kaum noch in besonderer Weise hervorhebt.