Ursprünge
Das alte deutsche Reich – das Heilige Römische Reich Deutscher Nation – sah sich in unmittelbarer Nachfolge des Römischen Reichs, das von seinen Kaisern als übergreifende Weltordnung, als Imperium, betrachtet wurde, dessen einzelne Bestandteile nie mehr sein konnten als Regna – ihm untergeordnete Königreiche. Nach 380 war das Römische Reich obendrein ein christliches Reich. Der Begriff Imperium war infolgedessen mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladen, namentlich der dem Buch Daniel entlehnten Vorstellung, dass die bestehende Welt das letzte von vier Königreichen darstellt, die zusammengenommen die gesamte Weltgeschichte umspannen. Das Imperium war damit zur gottgewollten Weltordnung geworden.1
Das Reich im Mittelalter
Zu der Zeit, als das Römische Reich im 6. und 7. Jahrhundert seinem endgültigen Niedergang entgegenging, hatten derlei erhabene Ansprüche in der Realität längst an Wert verloren. Die Unfähigkeit der letzten Kaiser, alleine nur Rom zu verteidigen, veranlasste das Papsttum sich an die Frankenherrscher im Westen zu wenden, auch wenn die Päpste diesen wenig mehr anzubieten hatten als die alten römischen Titel und Würden. Zu Beginn hatten diese in der Praxis ebenfalls nicht allzu viel Bedeutung. Der Kaisertitel wurde schließlich weiterhin von dem oströmischen bzw. byzantinischen Herrscher beansprucht, dessen Nachfolger diesen Titel bis ins 15. Jahrhundert weiterführten. Nach Karl dem Großen (774–814) aber war durch Erbschaften und Eroberungen im Verlauf des 10. Jahrhunderts sukzessiv eine deutsche Monarchie entstanden, deren drei Grundpfeiler nun die Königreiche Deutschland, Italien und Burgund bildeten. Dieses Imperium bestand somit aus drei Regna, seine Herrscher waren erklärte Verteidiger und Beschützer des Papsttums und nahmen für sich eine Art Verwalterrolle über die Kirche in Anspruch. Das unterschied sie von anderen Monarchen, die im Laufe des Mittelalters andernorts zu Macht gelangt waren. Die deutschen Kaiser galten als advocatus ecclesiae – Fürsprecher und Verteidiger der Kirche, ein französischer König ging lediglich als rex christianissimus durch, ein spanischer als rex catholicus.2
In Wirklichkeit waren die Kaiser gar nicht imstande, dauerhaft Kontrolle über ihre Königreiche auszuüben. Mitte des 13. Jahrhunderts, als die Stauferdynastie ausstarb, war nur sehr wenig von dem übrig, was man als Imperium hätte bezeichnen können. Burgund war mehr oder weniger komplett von der Landkarte verschwunden, das Königreich Italien auf eine Handvoll unsicherer Lehen im Norden geschrumpft. Die Verwalterrolle in Bezug auf die Kirche war durch die fortwährende Uneinigkeit zwischen Päpsten und Kaisern um die Frage, wessen Autorität denn nun Vorrang zukäme, nahezu bedeutungslos geworden. Stand das weltliche Schwert über dem geistlichen oder war es umgekehrt? Selbst im deutschen Königreich wurde die Position der Krone durch die zunehmende Entfremdung zwischen dieser und den Kronlanden geschwächt, da ein Herrscher nach dem anderen sich bemüßigt sah, Geld aufzutreiben und/oder Unterstützer für das nie aufhörende Streben zu finden, sich angesichts der mächtigen deutschen Herzöge und Fürsten zu behaupten. Hinzukam, dass die kaiserliche Erbfolge nach dem Ende der Stauferdynastie mehr oder minder ständig angefochten wurde.3 An einem Punkt gab es nicht weniger als drei rivalisierende Kaiser, von denen keiner über wirkliche Macht verfügte.
Nationalistisch gesonnene Historiker im Deutschland des 19. und frühen 20. Jahrhunderts glaubten, dass das Ende dessen, was sie in der deutschen Geschichte als die Kaiserzeit oder die Zeit der großen Kaiser bezeichneten, den Beginn eines sechs Jahrhunderte währenden Niedergangs markierte.4 Weit und breit war keine Dynastie in Sicht, die Deutschland ihren Willen hätte aufzwingen und einen starken geeinten Staat hätte schaffen können. Damit nicht genug führte die Reformation Anfang des 16. Jahrhunderts zur religiösen Spaltung Deutschlands. Deutsche oder kaiserliche Institutionen erfuhren eine zunehmende Schwächung und die deutschen Territorien und Reichsstände sahen sich in unterschiedlicher Intensität verschiedenen Formen von fremden Einflüssen ausgesetzt. Schließlich und endlich erfuhr das Heilige Römische Reich im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts einen schmachvollen Niedergang und wurde 1806 aufgelöst.
Die nationalistischen Gelehrten beklagten den Umstand, dass das Heilige Römische Reich Deutscher Nation sich im späten Mittelalter nicht zu jener Sorte von starkem Nationalstaat entwickelt hatte, die man im 19. Jahrhundert zur Wahrung und Förderung nationaler Interessen für unabdingbar erachtete. In Wirklichkeit war jedoch etwas völlig anderes und weit Interessanteres entstanden, denn ganz allmählich hatte sich ein stabiles Machtgleichgewicht zwischen dem Kaiser und den deutschen Reichsständen herausgebildet. Der Terminus "Kaiser und Reich" wurde zu einem Sinnbild für eine Beziehung von gegenseitiger Abhängigkeit und für das System politischer Kompromissfindung, das mit ihr einherging.5
Geformt wurde dieses Gefüge durch die Krisen und Unruhen des 15. Jahrhunderts.6 Innenpolitisch drohte die Schwierigkeit, Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten, das Reich immer wieder in die Anarchie abgleiten zu lassen. Außenpolitisch zeigte sich angesichts einer Reihe von äußeren Bedrohungen – in den 20er und 30er Jahren des 15. Jahrhunderts durch die Hussiten, dann durch die französischen Könige und die burgundischen Herzöge und seit den 1460er Jahren schließlich durch die Türken und Ungarn –, dass die deutschen Fürsten nicht in der Lage waren, ihr Gemeinwesen angemessen zu verteidigen. Sowohl Sigismund I. (1467–1548) als auch Friedrich III. (1415–1493) waren im Grunde abwesende Kaiser und mehr mit der Verteidigung ihrer persönlichen Ländereien beschäftigt als mit Reichsangelegenheiten. Unterdessen ging aus den Zusammenkünften ihrer Vasallen der Reichstag hervor, der wurde nach und nach zum Herzstück der politischen Nation wurde. Zusätzlich vorangetrieben wurde die zunehmende Solidarisierung unter den Reichsständen und Territorien ab 1438 durch die ständigen Forderungen der habsburgischen Kaiser nach finanzieller und militärischer Unterstützung. Die habsburgischen Herrscher wurden durch ihre geographische Lage an der östlichen Peripherie des Reiches einerseits daran gehindert zu einer nationalen Monarchie zusammenzuwachsen. Andererseits waren sie mächtig genug, die Hauptlast der Verteidigung des Reiches gegen die Türken auf der einen und die Franzosen auf der anderen Seite zu schultern und konnten so ihr Fortbestehen als deutsche Herrscher sichern.
Das frühneuzeitliche Reich
Die neuen politischen Realitäten wurden unter der Herrschaft Maximilians I. (1459–1519) ab 1493 verhandelt und in verfassungsrechtliche Form gegossen.7 Das Ganze war ein Kompromiss zwischen den neuen kaiserlichen Ambitionen und den Interessen der deutschen Fürsten. Maximilian widmete einen Großteil seines Lebens dem Versuch, das Kaiserreich wieder zu dem zurückzuführen, was er als dessen rechtmäßige Ausdehnung erachtete. Da ihm mit dem Tod Karls des Kühnen (1433–1477) im Jahre 1477 das Herzogtum Burgund zugefallen war, schien seine Ausgangsposition hierfür überaus günstig. Mit der Besteigung des deutschen Throns im Jahre 1493 konnte er seine Stellung in zwei seiner ererbten Herrschaftsgebiete sichern. Im Südosten waren dies die traditionellen habsburgischen Erblande und die Länder der böhmischen und ungarischen Krone. Im Westen erweiterte sein burgundisches Erbe die bereits bestehenden habsburgischen Territorien im Elsass zu einem ausgedehnten Gebietsstreifen vom Sundgau im Süden bis zu den Niederlanden im Norden. Aus dieser Position der Stärke heraus machte er sich an die Niederschlagung der Türken und die Erneuerung des Königreichs Italien, strebte nach der Kontrolle über das Papsttum und Venedig, ja sogar nach der Wiederherstellung des mittelalterlichen Königreichs Burgund, die er mit Plänen für die Wiedereroberung der Provence beginnen wollte. Diese Ambitionen manövrierten ihn in einen nahezu ununterbrochenen Kriegszustand mit Frankreich, das Teile Burgunds für sich beanspruchte und darüber hinaus die Vorherrschaft in Norditalien zu erlangen bemüht war.
Sowohl zur Finanzierung seiner Unternehmungen als auch für deren personelle Ausstattung war Maximilian auf Deutschland und die Zustimmung des Reichstags angewiesen. Im Grunde bereitete der Kaiser mit seinen Forderungen nach regulären Steuern und Militärabgaben einer großen verfassungsrechtlichen Neuerung den Boden. Die deutschen Reichsstände konterten sein Anliegen mit einer Reihe von Anträgen, die die herrschaftlichen Ansprüche des Kaisers beschneiden und Frieden und Stabilität innerhalb des Reiches sichern sollten. Keine Seite bekam genau das, was sie haben wollte. Der Kaiser scheiterte mit dem Versuch, seine Privilegien auszuweiten, insbesondere mit einer Forderung nach dem hoheitlichen Recht, Steuern zu erheben und eine deutsche Armee aufzustellen. Die Reichsstände scheiterten mit dem Versuch ein Reichsregiment – ein eigenes zentrales Regierungsorgan – zu errichten, das vom Kaiser weitgehend unabhängig war. Gleichzeitig wurde damit aber das dualistische System von Kaiser und Reich bestätigt, und das Recht des Kaisers, Gesetze zu erlassen, sowie Steuern festzusetzen und Soldaten für eine Armee zusammenzuziehen wurde ausdrücklich an die Zustimmung des zweiten Partners in diesem Konstrukt – des Reichstags – geknüpft. Außerdem einigte man sich auf die Wahrung des öffentlichen Friedens als höchstes Ziel. Um diesen zu garantieren wurde ein kaiserlicher Gerichtshof (das Reichskammergericht) eingesetzt, und es wurden Reichskreise eingerichtet, in denen dessen Beschlüsse durchzusetzen waren.
Die in den Jahren 1495 bis 1512 erreichten Kompromisse schufen für das deutsche Reich einen konstitutionellen Rahmen, der bis zu dessen Auflösung 1806 Bestand hatte. Seine endgültige Form erreichte er erst 1648 mit dem Westfälischen Frieden , aber die Grundlagen für das, was zu einer stabilen Rechts-, Verteidigungs- und Friedensordnung Mitteleuropas werden sollte, wurden um 1500 gelegt. Diese Ordnung garantierte das Überleben der vielen hundert kleinen deutschen Territorien, von denen die meisten nicht in der Lage gewesen wären, in der kompetitiven Welt der europäischen Mächte als unabhängige Gebilde zu überleben. Sie bot diesen Territorien Schutz vor externen Bedrohungen und diente gleichzeitig dazu, Konflikte zwischen ihnen zu verhindern. Das System regelte das Zusammenleben auf der Grundlage der Prinzipien von Nichtaggression und kollektiver Selbstverteidigung. Als Rechtsordnung schließlich entwickelte das Imperium geeignete Mechanismen und Instrumente, die Rechte der Herrschenden und, erwähnenswerter noch, der Untertanen gegenüber den Herrschenden zu sichern. Seine rechtlichen Institutionen trugen zur Entstehung einer Rechtskultur bei, zu der es im übrigen Europa nichts Vergleichbares gab.8
Das Reich der frühen Neuzeit war insofern einzigartig, als es sich dabei um ein System handelte, das durch kollektiv-körperschaftliche Mechanismen der Repräsentation und der Entscheidungsfindung gekennzeichnet war. Vom Reichstag bis hin zu den Reichskreisen wurden Entscheidungen gemeinschaftlich gefällt. Wo die alte nationalistische Tradition der Geschichtsschreibung ein hoffnungslos archaisches System sah, das kaum jemals zu einer Entscheidung fand, offenbart die moderne Geschichtswissenschaft ein System, in dem Konsens als höchstes Gut galt.9 Entscheidungen wurden im Allgemeinen langsam und in mühevoller Kleinarbeit erreicht, weil alle freien Städte und Stände eine Stimme im Reichstag hatten, und oftmals kam es zu gar keiner Entscheidung, war doch die Vorbedingung für einen bindenden Beschluss die Zustimmung aller.10
Natürlich waren die Unterfangen des Reichs nicht immer von Erfolg gekrönt. Im 16. Jahrhundert scheiterten Versuche, die Währung zu regulieren oder gar eine einheitliche Währung einzuführen, kläglich. Dennoch überstand die Solidarität der deutschen Reichsstände die religiösen Spannungen und Differenzen der Reformation. Tatsächlich verstärkten die Erfahrungen im Umgang mit den durch die religiösen Fragen aufgeworfenen Problemen sogar deren Bindung an das Reich. Es gab natürlich auch Zeiten, in denen das System versagte, an erster Stelle ist hier der Dreißigjährige Krieg zu nennen. Aber in dieser Hinsicht unterscheidet sich Deutschland vielleicht nicht allzu sehr von Frankreich, den Niederlanden oder England. Nach 1500 bewahrte das Reich über drei Jahrhunderte hinweg die Vielfalt der deutschen Territorien und Reichsstände ebenso wie deren Solidarität untereinander.
Als Begriff zur Beschreibung eines funktionierenden politischen Systems wurde Reich mehr und mehr zum Synonym fü11 Die Kaiser nahmen für sich noch immer den Status des advocatus ecclesiae – des Beschützers und Verteidigers der Kirche – in Anspruch. Für viele Katholiken stand Reich für eine universale christliche Weltordnung, für die Kaiser und Papst gemeinsam verantwortlich zeichneten. Die Reformation und die innere Spaltung der Christenheit entzogen diesem Anspruch allerdings zunehmend den Boden. Protestantische Kritiker stellten sich zunehmend auf den Standpunkt, dass das Heilige Römische Reich im Grunde gar keine römischen Ursprünge habe, und behaupteten, es handle sich um ein rein deutsches, wenn auch christliches, Reich, denn die Deutschen hätten sich als die einzigen wahren Verteidiger des Glaubens erwiesen. Im 18. Jahrhundert war dann die Frage nach den Wurzeln weniger wichtig geworden, und es herrschte die von protestantischen ebenso wie von katholischen Kommentatoren einmütig vertretene Ansicht, es handle sich um eine Föderation von Fürstentümern. Dieses politische System wurde nun allgemein einfach als "das Reich", "Deutsches Reich" oder auch schlicht als "Deutschland" bezeichnet. Dennoch hielten manche Theoretiker an der Überzeugung fest, dass das erweiterte Reich des 12. und 13. Jahrhunderts in jenem Netzwerk aus Feudalbanden weiterlebte, das dem Kaiser weiterhin die Oberherrschaft über Norditalien, Savoyen, Burgund, Lothringen und Böhmen erhielt. Im täglichen Gebrauch schließlich bezog sich der Begriff "Reich" oftmals speziell auf den Südwesten Deutschlands und Franken, Gebiete mithin, in denen die Kaiser des Mittelalters ihre Kronlande gehabt hatten. Noch im 18. Jahrhundert sagten Preußen, Sachsen und Österreicher, wenn sie diese Gegenden bereisten, sie führen "ins Reich".12
Das Deutsche Reich und sein politisches System bildeten das Herzstück des Heiligen Römischen Reiches. Es handelte sich dabei nicht um einen Staat im modernen Sinne des Wortes, ja eine ganze Reihe der Schlüsselattribute eines Staates – eine zentrale Regierung zum Beispiel und sogar eine Hauptstadt – gingen ihm ab. Dennoch fiel diesem System während seiner prägenden Zeit um 1500 zunächst formlos, dann aber 1512 offiziell in den Titel integriert, das Suffix "deutscher Nation" zu.13
Das Erbe des Reiches
Das Heilige Römische Reich wurde 1806 zerstört, und es hat seither keinen ernsthaften Versuch gegeben, es wiedererstehen zu lassen. Doch bis zum heutigen Tag sehen viele Kommentatoren gewisse Linien der Kontinuität zwischen dem ersten Reich, dem (zweiten) Kaiserreich und dem Dritten Reich. Solche Zuschreibungen werden in der Tat oftmals von verdrossenen nationalistischen Gruppierungen vorgenommen, die zu verschiedenen Zeiten darauf hofften, Deutschland zu jener Größe zurückführen zu können, die es ihrer Vorstellung zufolge unter den Staufern gehabt hatte. Konservative Romantiker und Nationalisten des frühen 19. Jahrhunderts, Propagandisten eines Großdeutschland in Deutschland und Österreich am Ende des 19. Jahrhunderts, Befürworter des Anschlusses Österreichs an Deutschland nach 1918 und Historiker nach 1933, die von der neuerlichen Bedeutung der Reichsidee überzeugt waren, sie alle beriefen sich auf das erste Reich, und hier vor allem auf die Stauferzeit , um ihre Forderungen für die Gegenwart und ihre Hoffnungen für die Zukunft zu rechtfertigen.
Bis in die jüngste Zeit hinein haben Historiker oft übersehen, in welchem Maße das frühneuzeitliche Reich das Denken vieler Deutscher auch Generationen nach 1806 beeinflusste. Ohne Zweifel handelte es sich dabei um eine Epoche, die beeinflusst war von einer Faszination für ihr mittelalterliches Erbe und ein im katholischen wie im protestantischen Denken gleichermaßen vorhandenes Interesse daran, die "Einheit" der Christenheit zu erneuern, die im Mittelalter vermeintlich geherrscht hatte . Doch die Vorstellung, dass das frühneuzeitliche Reich ohne jegliche Vorwarnung von der Bildfläche verschwunden ist, war ein nationalistischer Mythos aus späterer Zeit.14 In Wirklichkeit drehte sich ein Großteil der Diskussionen um die Zukunft Deutschlands um die Frage, wie das Alte Reich des 18. Jahrhunderts wiederherzustellen sei ohne dabei an den dauerhaften geographischen Veränderungen zu rütteln, die sich daran durch die Koalitionskriege mit Frankreich und durch Napoleon (1792–1821)[]15 seit 1804 ergeben hatten. Nach 1815 beklagten liberale Kritiker des neuen deutschen Staatenbunds (Deutscher Bund) den Umstand, dass dieser nicht über einen höchsten Gerichtshof wie das Reichskammergericht und den Reichshofrat verfügte, die die Rechte und Freiheiten der Untertanen gegen die Willkür ihrer Herrscher verteidigten.16 Das Gefühl, einer größeren deutschen Nation anzugehören, die auch Österreich einschloss, gründete sich auf ein Fundament, das vom 15. bis zum frühen 19. Jahrhundert im Heiligen Römischen Reich gewachsen war und das in den verschiedenen Sänger- und Turnerbünden, die nach 1815 eine so zentrale Rolle in der nationalen Bewegung spielen sollten , weiter gepflegt wurde. Auch bei besonderen Gelegenheiten wie den Feierlichkeiten zum hundertsten Geburtstag Friedrich Schillers (1759–1805) im Jahre 1859 wurde dieser Geist offenbar .17
Zwischen dem ersten, zweiten und dritten Reich bestand keine echte Kontinuität. Das zweite Reich hat sich nie in dieser Tradition gesehen: formal war es das Deutsche Reich und weder sein Titel noch seine offizielle Propaganda verwiesen auf das erste Reich (HRR). Ja, Otto von Bismarck (1815–1898) erklärte ausdrücklich, dass das preußisch-deutsche Reich mit dem Heiligen Römischen Reich nichts zu tun habe. Ungeachtet dessen hatten Elemente des alten Denkens im Zusammenhang mit dem Begriff "Reich" überlebt, und Wilhelm II (1859–1941) und sein Umfeld beschworen gerne die Stauferzeit des Mittelalters als ihre Vorläufer. Dennoch blieb dieses historische "Gedächtnis" im Grunde nichts anderes als ein Mythos und wurde mehr und mehr verwoben mit neuen, aus den britischen und französischen Kolonialerfahrungen inspirierten Vorstellungen von einem Imperium und der Idee einer Weltmachtpolitik, die sich ab den 1890er Jahren Bahn brach.18
Die 1920er Jahre, in denen die Weimarer Republik den Titel "Deutsches Reich" führte, erlebten gelegentlich wiederkehrende Wellen eines Interesses an einem Zusammenschluss zwischen der deutschen und der österreichischen Republik (Anschluss). In den Debatten zu diesem Ansinnen war immer wieder von einem Großdeutschland die Rede und von dem "Alten Reich", in dem dieses zuletzt bestanden hatte.
Adolf Hitler (1889–1945) und das nationalsozialistische Regime hatten zum Ziel, aus dem Deutschen Reich ein Germanisches Reich zu machen.19 Doch ungeachtet gelegentlicher Referenzen Hitlers und seiner Mitstreiter auf die deutsche Vergangenheit, scheint deren Hauptinspiration das Römische Reich gewesen zu sein.20 Tatsächlich hatte Hitler für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation nichts als Verachtung übrig und brachte dem Kaiserreich und seinen politischen Führern wenig mehr Respekt entgegen. Im Jahre 1939 versuchte er sogar den Begriff "Drittes Reich" zu untersagen, um Vergleichen vorzubeugen, die manche zum ersten und zweiten Reich zogen.21 Es ist wahr, dass das Regime nach Kriegsausbruch bemüht war, die Verbreitung des Eindrucks voranzutreiben, Hitler sei im Begriff die deutsche Reichsidee in die Praxis umzusetzen und die Zukunft des deutschen Volkes zu sichern. Allerdings legte dies vielleicht eher Zeugnis ab vom zynischen Pragmatismus des Regimes als von einem ehrlichen Wandel der vorherrschenden Überzeugung. Weder die ethnische noch die räumliche Beschaffenheit eines nationalsozialistischen Heiligen Römischen Reiches Germanischer Nation hatten auch nur im Entferntesten Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit und den Idealen des einstigen Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation.
Nach 1945 fiel das Wort "Reich" der Abkehr von der Vergangenheit zum Opfer. Es bestand keinerlei Möglichkeit, die Grenzen von 1937 wiederherzustellen, von irgendeiner Form von Reich ganz zu schweigen. Das Deutsche Reich der Vergangenheit in all seinen unterschiedlichen Manifestationen wurde zu einem zentralen Thema der These vom "Deutschen Sonderweg", die von Historikern bis in die 1980er Jahre hinein diskutiert wurde, um die vermeintliche Besonderheit und Eigentümlichkeit der deutschen Geschichte zu erklären, die die deutsche Gesellschaft dazu brachte, sich in Träumen von einer Weltherrschaft zu verlieren und den Holocaust durchzuführen.
Seit 1945 hat trotz intensiver Forschungen zur Geschichte des Heiligen Römischen Reiches im Mittelalter und der frühen Neuzeit der Begriff "Reich" jene Relevanz für die gegenwärtige Gesellschaft verloren, die er zuvor gehabt hatte. Das Reich und sein Erbe sind weitgehend lediglich Themen für Spezialisten geworden. Die gelegentliche Inanspruchnahme ihrer Thesen durch Politiker findet kein Echo in der Öffentlichkeit. Ereignisse wie die Stauferausstellungen in den Jahren 1977 und 2010 in Stuttgart und Mannheim zogen sehr wohl eine große Zahl an Besuchern an, ebenso der Mittelalterteil der Ausstellung zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation in Magdeburg 2006. Bemerkenswert ist dabei aber, dass der offensichtlichen Begeisterung der Allgemeinheit für die Geschichte des Mittelalters kein vergleichbares Interesse für die frühmoderne Geschichte des Reiches gegenüberstand. Die Bemühungen mancher Historiker, deutlich zu machen, dass letzteres als Vorläufer eines modernen Europa gesehen werden kann, der zunehmende Konsens der Historiker in den letzten Jahren, was die Modernität vieler Aspekte der rechtlichen und politischen Kultur des frühmodernen Reichs betrifft, haben außerhalb der akademischen Welt wenig Furore gemacht. Es scheint, als hätten die alten historischen Meistererzählungen vom Niedergang noch im 21. Jahrhundert mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit Bestand.