Einführung
Chinamode – hier im engen Sinne verstanden als Massenphänomen, nicht als intellektueller Diskurs – war objektgebunden. Am häufigsten traten Objekte auf, die im 17. Jahrhundert überwiegend chinesischer Provenienz waren. Dies waren insbesondere Porzellan, Seide, Lackwaren und Tee, die zunächst von portugiesischen, ab 1600/1602 überwiegend von niederländischen und englischen Schifffahrtsunternehmungen eingeführt wurden. Der systematische Handel erfolgte über herrschaftlich privilegierte Zusammenschlüsse von Kaufleuten, den Kompanien, von denen die bekanntesten, dauerhaftesten und hinsichtlich des Einfuhrvolumens größten die East India Company und die Vereinigte Ostindische Compagnie waren.1 In der historiographischen Reflexion hat mittlerweile auch die Aufarbeitung der präkolonialen Gewalt und Verflechtungen der Kompanien begonnen. Sie waren nämlich neben den Handelsprivilegien auch mit hoheitlichen Rechten und Militär ausgestattet, die ihnen von europäischen Kronen weitgehende Handlungsspielräume in fremden Territorien in Übersee eröffneten. So ist der Handel mit chinesischen Gütern nicht ohne soziale und humanitäre Kosten zu denken.2
Ein schematischer Ablauf des Warentransfers erfolgte so: Europäische Kaufleute statteten ein Schiff mit Gütern, Mannschaft, Militär, Zahlungsmitteln und Einkaufaufträgen aus. Das Schiff verließ in der Regel in einem Schiffsverband den europäischen Hafen und segelte über die Kanaren und Kapverden mit dem Golfstrom an die Ostküste Brasiliens. Dort wurde ein erster Teil der Fracht eingehandelt. Anschließend folgten die Durchquerung des südlichen atlantischen Ozeans und eine Unterbrechung der Reise in Kapstadt. Auch dort wurde gehandelt, ggf. die Schiffe repariert, und es wurden Vorräte für die lange Seefahrt durch den Indischen und Pazifischen Ozean aufgenommen. Häufig verblieben einzelne Mannschaftsmitglieder in Kapstadt oder neue Mitglieder wurden an Bord genommen. Der weitere Verlauf konnte variieren; über Madagaskar nach Ceylon/Sri Lanka und durch den Golf von Bengalen oder nach Batavia/Jakarta, das zum niederländischen Stützpunkt ausgebaut wurde. Nur eine kleine Anzahl von europäischen Schiffen reiste bis ins Perlflussdelta mit den Zielen Macau und Hongkong; dies war für eine relativ kurze Zeit zu Beginn des 18. Jahrhunderts zwar der Fall, aber überwiegend nutzten europäische Kompanien "Handelsdrehscheiben" des "vollen" südchinesisches Meeres zum Einkauf chinesischer Waren. Dabei korrespondierten Güter und Schiffskonstruktion durchaus praktisch und ökonomisch: Das schwere Porzellan, recht unempfindlich gegen Nässe, konnte im Rumpf verstaut werden und damit das Schiff stabilisieren; der leichte Tee, sehr nässeempfindlich, fand in der mittleren Schiffsebene Platz, ebenso die Seide und empfindliche Waren wie Lackobjekte, Rollbilder oder Tapeten.
Der Rückweg führte erneut durch den Pazifik und über Kapstadt, von dort aus jedoch an der afrikanischen Küste entlang nordwärts über die Kapverden und Kanaren zu europäischen Häfen. Dort wurde die Fracht gelöscht und Bestellungen bedient. Der meist größte Teil der Ladung wurde katalogisiert, ausgestellt und mittels Auktionen verkauft. An den Auktionen nahmen sowohl Zwischenhändler:innen als auch Endkunden teil; die Höfe hatten meist Agent:innen, die für sie einkauften. Die Binnengebiete wurden von den Zwischenhändler:innen beliefert, sodass mit etwas zeitlicher Verzögerung und geringerer Auswahl chinesische Güter auch abseits der Handelszentren und der direkt einkaufenden Höfe verfügbar waren. Diese Verteilung der chinesischen Güter sorgte für eine große Verbreitung und Sichtbarkeit für die Chinamode in Europa. Deutlich werden auch soziale und territoriale Verteilungen: Unmittelbaren Zugang zu Importware hatten das städtische Bürgertum der Häfen und Handelsdrehscheiben sowie diejenigen, die finanziell oder logistisch an den Unternehmungen beteiligt waren. Tendenziell entwickelte sich Chinamode in der Frühen Neuzeit darum von London, Lorient, Lissabon und den niederländischen Städten aus ins Binnenland und vom Bürgertum in den Adel.
Wir können davon ausgehen, dass die reduzierte Auswahl, der hohe Preis und die sporadische Lieferung der Originale abseits der Handelszentren die Entwicklung von regionalen Ersatzgütern beschleunigte und diese für einen aufnahmebereiten Markt produzieren ließ. Bereits im 17. Jahrhundert traten Imitate und Surrogate chinesischer Materialien neben die importierten Originale: Fayence neben das Porzellan, Erdbeerblätter neben den Tee. Da auch für ungeübte Augen schnell ersichtlich ist, dass Fayence und Steingut kein Porzellan sind, wurden chinesische Motive auf die europäischen Objekte aufgebracht; so entstanden "chinoise" Hybride. Hatte man ein chinesisches Teeservice erstanden, doch der Tee ging aus, behalf man sich mit gerbstoffreichen heimischen Pflanzen als Surrogaten, etwa Erdbeer- oder Himbeerblättern. So entstanden modische Mischformen aus chinesischen und europäischen Elementen. Als zum Ende des 17. und verstärkt im 18. Jahrhundert aufgrund der technologischen Nacherfindung von Porzellan und Lack sowie der systematischen Seidenraupenzucht europäische Produkte gleicher Qualität neben die Importe traten, entwickelte sich auch ein eigenständiges Dekor, das die chinesische Herkunft der Vorlage vergessen ließ. Die Chinamode wurde somit spezifischer, ausgewählter und war nicht mehr notwendig in der Einheit aus Material, Motiv und Provenienz zu sehen. Entsprechend stellte die wachsende Zahl der Hybride das "Eigene" der chinesischen Objekte in den Hintergrund.
Objektgruppen
Porzellan
Porzellan war in Europa schon vor der Chinamode der Frühen Neuzeit bekannt und in Gebrauch. Es wurde über die Seidenstraße eingeführt; aufgrund der Transportmittel in deutlich geringeren Mengen als zur Zeit der Kompanien. Zudem gab es europäische Töpferware. Für Gefäßkeramik (Geschirr, Aufbewahrung) ebenso wie für Baukeramik (Fliesen und Kacheln) existierten Infrastruktur für Herstellung und Handel sowie kulturelle Nutzungsgewohnheiten. Das Porzellan, das ab ca. 1600 in neuen Mengen nach Europa eingeführt wurde, traf folglich auf eine hinreichend vorbereitete Gesellschaft, die genug Ähnlichkeit erkannte, um Nachfrage zu entwickeln, und zugleich genug Verschiedenheit zu den traditionellen Produkten, um den Importen eine eigene kulturelle Qualität zuzuschreiben. Diese Qualität umfasst zum einen die materielle, technische Seite – das chinesische Porzellan hatte aufgrund des Feldspatanteils eine höhere Lichtdurchlässigkeit, konnte dünner ausgearbeitet werden, die Farben waren dauerhafter –, zum anderen die kunsthandwerkliche Seite – die Formen waren vielfältiger, die Motive teils kunstvoller ausgeführt. Weiterhin boten chinesische Porzellane bislang unbekannte Motive und Formen, was sie zu Mode- und Statusobjekten qualifizierte. Außerdem funktionierte insbesondere das Tischporzellan gemeinsam mit dem anderen chinesischen Massen-Importgut Tee – der Tee verlangte passende Gefäße, die Gefäße passenden Inhalt, sodass hier ein Objektbündel entstand. Eine dritte große Produktgruppe bildeten die figürlichen Porzellane, die allein dekorativen Charakter hatten. Sie brachten neue Formen und auch kulturelle Bedeutungsträger nach Europa, etwa Figuren der "Acht Unsterblichen" oder die Guanyin.3
Lange gab es die Einschätzung, es habe sich bei den chinesischen Porzellanen in der europäischen Frühen Neuzeit um Raritäten gehandelt. Dies braucht etwas Differenzierung: Durchaus gab es Objektgruppen, denen in ihrer Basisausführung nichts Rares anhaftete, etwa Tee-Koppchen. Auch für Kacheln können wir von einer hohen Verbreitung in vielen sozialen Gruppen ausgehen, weil diese z.B. auch von einfachen Besatzungsmitgliedern im Rahmen ihres Freigepäcks mit zurück in die Heimat gebracht wurden. Für diese und ähnliche Objektgruppen ist also durchaus von einer Mode zu sprechen, die weite Teile der Gesellschaft erreicht haben kann und neben anderen modischen Gebrauchsobjekten stand.
Es gab aber auch kostbare Raritäten. Dazu zählen insbesondere Gegenstände in geringer Stückzahl oder mit hohem Aufwand (sowohl hinsichtlich des eingesetzten Materials als auch des handwerklichen Geschicks, etwa bei komplexen Formen oder Dekoren, und schließlich der Logistik; bei Groß- und Deckeltopfvasen kommt all dies zusammen). Sie wurden zu Sammlungsobjekten, die in die Herrschaftsraison der Kunst- und Wunderkammern, später der Porzellankabinette und Sammlungsbauten eingingen und vor allem den jüngeren Dynastien und dem Beamtenadel mit der hohen Aktualitäts- und Zukunftsperspektive sowie der Gestaltbarkeit des Porzellans der Abgrenzung von traditionellen Begründungen von Macht dienten. Bekannte Beispiele sind der sächsische Hof unter August "dem Starken" von Sachsen (1670−1733), an dem Porzellan multifunktional soziopolitisch eingesetzt wurde – als Schauobjekt, als Objektgruppe, als Technologie, als Geschenk, als Währung.4 Auch avantgardistische (Klein- und Innen-)Architekturen wie das Trianon de porcelaine in Versailles inspirierten zu einer Vielzahl von Variationen überwiegend im europäischen Adel.
Eine andere Gruppe der besonders kostbaren Porzellane besteht aus bestellten, individuell gestalteten und markierten Stücken (z.B. vielteilige Service en commande). Für diese Objekte wurden in Europa die Bestellungen entgegengenommen, häufig mit Entwurfszeichnungen oder dem aufzubringenden Text, in China beauftragt und nach Fertigstellung den Kunden zugesandt. Anlässe für dieses Auftragsporzellan konnten etwa Hochzeiten sein, für die die Familienwappen auf das Porzellan gemalt wurden, aber auch die gezielte Ergänzung von Sammlungen. Aufgrund der Transport- und Herstellungszeiten liegt es auf der Hand, dass derartige Bestellungen einen langen Vorlauf von ein bis zwei Jahren brauchten und wegen Material, manueller Fertigung und Lieferaufwand teuer waren. Dafür waren es Unikate, die, in der passenden Öffentlichkeit präsentiert, nicht nur die Besitzenden unterschieden, sondern auch dekorative Gestaltungsimpulse aussandten.
Einen wesentlichen Anteil an der Kostbarkeit und Faszination selbst der Massenimporte hatte die besondere Aura des Porzellans, die im Geheimnis seiner Herstellung lag. Johann Friedrich Böttger (1682−1719) und Ehrenfried Walther von Tschirnhaus (1651−1708) entwickelten 1708 zunächst den Masseversatz von Hartporzellan und 1709, nun Böttger allein, die Glasur. Damit war die Grundlage für europäisches Porzellan gelegt, was sich auf die Chinamode auswirkte: Nun nämlich war es möglich, das angeeignete fremde Material auch nach eigenen Formen, mit eigenen Dekoren zu gestalten; Porzellan war nicht länger chinesisches Zeichen. Auch die Frage nach Gleichwertigkeit oder gar Überlegenheit der chinesischen Kultur, die in der Philosophie des frühen 18. Jahrhunderts diskutiert worden war, fand parallel zu Verbreitung und Erfolg des europäischen Porzellans bis auf wenige Ausnahmen ein Ende. Schließlich spiegelte sich dies auch in den Porzellandekoren. Neben die Imitate chinesischer Dekore traten sowohl europäische Muster, etwa Blumen, Landschaften, Figuren, und auch die exotisierende, fantasievolle Darstellung Chinas und chinesischer Menschen. Damit geht eine Beziehungsveränderung einher – waren vor der Nacherfindung des Porzellans chinesische Menschen ebenso Teil der Produktions-, Wertschöpfungs- und Logistikkette wie europäische Menschen, konnten sie nun reduziert und gestaltet werden als Dekorelemente und Fantasiemotive. Damit verschob die Mode kulturelle Machtverhältnisse. Bekanntes Beispiel ist auch hier das Sammlungskonzept im Japanischen Palais in Dresden, das scheinbar ausgewogen europäische und chinesische Porzellane nebeneinanderstellte und doch die Überlegenheit der Nacherfindung kommuniziert.5
Tee
Mit Tee ist ab Mitte des 17. Jahrhunderts ein aus China stammendes Modegetränk bekannt. Da zunächst die niederländische Ostindienkompanie das Monopol hielt, breitete sich die europäische Teekultur von den urbanen Zentren der Niederlande zuerst in die umliegenden Territorien und dann nach Großbritannien aus. Zumeist handelte es sich um grünen Tee; der schwarze Tee war noch nicht so beliebt, wie er es heute ist. Aus einigen Städten ist überliefert, dass die Auswahl an Teesorten beim Krämer den heutigen Teefachgeschäften kaum nachstand; bis zu 100 Varianten wurden gelistet.6 Erneut gilt es hinsichtlich der gesellschaftlichen Durchdringung und Verbreitung zu differenzieren: Es gab exquisite Tees, die nur für eine kleine Kundschaft erschwinglich waren, etwa der berühmte Grüntee mit Jasminblüten. Andere hochwertige Luxustees kamen auf dem Landweg als Karawanentees nach Europa; da sie nicht monatelang auf See waren, schmeckten sie oft frischer. Daneben wurde mit minderen Qualitäten gehandelt, die in durchschnittlichen Haushalten konsumiert wurden; in London fand sich sogar die Nische des Second-Hand-Teashops, wo der nach dem ersten Aufguss getrocknete Tee für den zweiten und folgenden Aufguss verkauft wurde.7 Mit den Teeimporten der Handelskompanien wurde die Verbreitung von Tee in Europa möglich.
Zur Mode gehörte aber nicht nur der Konsum selbst, sondern auch die Gestaltung rund um den Tee. Dabei wurde die asiatische Teekultur selbst nicht übernommen. Wie Porzellan funktionierte das Handelsgut Tee komplementär. Der Chinabezug war also auch sinnlich wahrnehmbar: im Sehen, Schmecken, Fühlen. Bekannt ist aber auch, dass die Teezeremonien nicht als chinesische Performances, sondern eher als regionale Neuschöpfungen praktiziert wurden: englische Tea Time und Friesische Teezeremonie8 etwa. Heute sind beide Teekulturen eher mit indischen Sorten bekannt. Da es im 17. und 18. Jahrhundert fast ausschließlich chinesische Importe gab, müssen wir uns die historischen Formen von Tea Time und Teezeremonie mit Grüntees statt mit Schwarztees vorstellen.
Auch der Tee war nicht immer gleichermaßen verfügbar. Missernten, Lieferschwierigkeiten und Preisschwankungen konnten dies begründen. Entsprechend fand man Surrogate für den chinesischen Tee, um die Zeremonie beizubehalten und das Porzellan nicht ungenutzt zu lassen: Erdbeer- und Himbeerblätter enthalten Gerbstoffe, die an die Bitterkeit des Tees erinnern. Die Praxis, überbrühte Pflanzenauszüge als "Tee" zu trinken, folgte also dem chinesischen Tee und ging ihm nicht voraus.
Der Konsum von heißen Pflanzenauszügen als "Tee" birgt eine Schnittstelle zur medizinischen Verwendung von Pflanzen. Auch Tee wurde im frühneuzeitlichen medizinischen und diätologischen Schriftgut auf seine gesundheitsfördernden oder -schädigenden Wirkungen hin betrachtet. Dabei traten durchaus Kontroversen auf: Bis zu fünfzig Tassen täglich förderten die Gesundheit, heißt es bei Cornelis Bontekoe (eigentlich Cornelis Dekker, 1648−1685);9 im Gegenteil schade die austrocknende Wirkung des Tees insbesondere Frauen, heißt es bei Johann Christian Reil (1759−1813), allenfalls als Brechmittel für die alkoholisierte Jugend sei Tee zu empfehlen.10 Nun ist für viele der Schriften in der querelle de thé nachzuweisen, dass die Autoren in einem Profitverhältnis zu entweder Teeimporteuren oder alten Lobbys, insbesondere der Brauzunft, standen. Ihre Analysen und Bewertungen waren folglich nicht unabhängig und objektiv.11
Die chinesischen Tees bereicherten die europäische Trinkkultur nachhaltig. Über den chinesischen Tee hinaus fand der Konsum eigene Praktiken, die an das Ursprungsland mit Pflanze und Porzellan aus China zunächst erinnerten, es jedoch fortschreitend mit heimischen Pflanzen oder solcher indischer oder sri-lankischer (Ceylon) Herkunft und Porzellanen überformten. Zur Mode gehörten besonders im 18. Jahrhundert auch begleitende Neuerungen wie "Teegärten", nach dem Vorbild des Londoner Vergnügungsparks Vauxhall Gardens, wo an Verkaufsständen (nicht immer, aber durchaus mitunter chinesisch inspirierte Kleinarchitekturen) Tee und kleine Speisen angeboten wurden.
Lack
In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts waren Lackarbeiten und Goldlackmalereien nach Tee und Porzellan das drittwichtigste Exportgut aus China.12 Sie kamen in Form von Paravents, Schatullen, Tabletts, Truhen (die mit einem europäischen Fuß versehen zu Kabinettschränken weiterverarbeitet werden konnten) und anderen Möbeln nach Europa.13 Meist wurden einfache Gegenstände wie Schachteln oder Schränke mit Lacken künstlerisch aufgewertet, wobei verschiedene Auftragstechniken – oft mehrere Schichten, wodurch die Herstellung aufgrund der Trockenzeiten sehr lange dauerte –, Bemalung oder Schnitttechnik zum Einsatz kamen.14 Die ersten Aufbewahrungsorte stellten auch hier die Wunderkammern dar, ehe ganze Konzepträume mit Lackplatten zu Kabinetten eingerichtet wurden. Über die Jesuitenschriften konnte erstes Wissen über den Lack verbreitet werden; 1655 beschrieb der Jesuit Martino Martini (1614−1661) in seinem Novus Atlas Sinensis den Lackbaum.15
Der Bedarf nach Lackwaren aus europäischer Produktion resultierte zum einen aus der hohen Nachfrage, nachdem die Kundschaft mit asiatischen Objekten in Berührung gekommen war, zum anderen aus der Eigenschaft des Lacks, unter Umständen einzutrocknen. So kamen manche Waren nach der langen Reise beschädigt in Europa an. Dies gab den Impuls, nach neuen Lackrezepturen zu suchen, um die lange Lieferzeit, die Qualitätseinbußen, die Knappheit des Angebots und die Abhängigkeit von einem nicht zu kontrollierenden Markt in Übersee zu überwinden.
Lack teilt mit Porzellan und Seide die Eigenschaft, dass er glänzt. Bei Objekten mit Schnitttechnik kann mit den verschiedenen Lackschichten und unterschiedlichen Farben gespielt werden; zudem entstehen reizvolle Lichteffekte. Darüber hinaus ist er sehr anpassungsfähig, hart und damit schützend, aber biegsam, nimmt die Körperwärme an, ist hitzebeständig, kann geformt und modelliert werden und auf fast jeden beliebigen Untergrund gleichmäßig aufgetragen werden. Lack zerfä
Bereits um 1610 setzten erste Versuche in Europa ein, Lacke herzustellen. Im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts gelang es den Brüdern Gérard (1657−1715) und Jacques Dagly (1669−1728) in Spa (heute Belgien) und später Berlin, Lack über Galanteriewaren einer breiteren Kundschaft zugänglich zu machen. Nun musste nicht mehr in importierte Kabinette oder Möbel investiert werden; kleine Buchenholzschachteln für Nähzeug, Tabak oder Puder wurden lackiert, passten ins Reisegepäck der Kurgäste und waren trotz Einzelfertigung erschwinglich – so fanden die Werke eine rasche Verbreitung. Gérard Dagly entwickelte zudem Weißlack, sodass die chinesische Farbpalette in Schwarz, Rot und Gold eine Ergänzung erfuhr. In der Anfangsphase der Dresdener Porzellanexperimente gab es Versuche, die Glasur durch Lack zu ersetzen. Auf weißem Untergrund konnte wie auf Porzellan vielfarbig gemalt werden; auch auf dem Lack sehen wir darum den Weg über die Imitation in die Eigenkreation von Motiven, von chinesischen Kopien zu chinoisen Neuerfindungen. Doch zugleich blieben auch die Imitationen erfolgreich; die Brüder Guillaume (gest. 1749), Etienne-Simon (gest. 1770), Julian (gest. 1783) und Robert (1706−1766) Martin aus Paris hielten in den 1730er und 1740er Jahren ein Monopolrecht auf die Herstellung ihres schwarzen Vernis Martin16 und die Nachahmung asiatischer Lackarbeiten.
Um 1760 endete die Phase der Parallelität chinesischer, chinoiser und europäischer Motive; letztere dominierten fortan das Dekor. Nach dem Siebenjährigen Krieg (1756−1763) begann eine Phase der verstärkten Herstellung von lackierten Alltagsgegenständen wie etwa Lampen aus lackiertem Pappmaché in der Braunschweiger Manufaktur Stobwasser. Neben dem großen Erfolg dieser günstigen, kleineren Produkte ist allerdings zu beobachten, dass viele Lackwerkstätten und -manufakturen an Höfe angebunden waren und für diese exklusive Luxusartikel herstellten.
Letztlich war nicht nur der Kauf von Lackwaren beliebt, sondern auch das Lackieren selbst. Die Neuentdeckte Lacquir-Kunst, eine Rezeptesammlung, die 1708 in Leipzig und 1724 in Dresden erschien, versprach, dass man innerhalb kürzester Zeit diese Kunst lernen könne.17 Im Bestand der Markgräfin Franziska Sibylla Augusta von Baden-Baden (1675−1733) fand sich ein Rezeptbuch mit einem Kapitel über "Die ausführliche und aufrichtige Lack und Lasier Kunst". Auch Wilhelmine von Brandenburg-Preußen (1709−1758) soll in Bayreuth Lackarbeiten ausgeführt haben, ebenso wie Marie Antoinette (1755−1793). Sie und andere konnten auf Mustersammlungen zurückgreifen, etwa auf John Stalkers und George Parkers Anleitungsbüchlein A Treatise of Japanning and Varnishing (1688), wo ostasiatische Motive für sämtliche Gefäßformen abgebildet waren.
Seide
Die Seidenproduktion war eine der ersten Technologierezeptionen aus China.18 Sie erfolgte zunächst im 14. und 15. Jahrhundert in Norditalien und Frankreich, später auch in einigen Regionen Österreichs. Chinesische Seide war in Europa seit der Antike bekannt und über die Seidenstraße importiert worden.19 Sie trat allerdings erst modisch in Erscheinung, als die Nachfrage befriedigt werden konnte und eine sichtbare Zahl von Konsument:innen Seide in die bzw. in der Öffentlichkeit trug. Seide war stärker als Tee und Porzellan in gesellschaftliche Konventionen eingebunden. Nicht nur das Angebot, auch Kleiderordnungen erlaubten es nur bedingt, Seide als Massengut weiterzuentwickeln.
Die Annahme, Stoff berge das größte "Modepotenzial", bestätigt sich kaum. Seide wurde sowohl als Rohseide importiert und in Europa veredelt – insofern gehört diese Warengruppe nicht in die unmittelbare Chinamode, sondern es handelt sich um einen Rohstoffimport. Seide wurde zudem als veredelter Stoff eingeführt. In diesem Fall blieben chinesische Spuren erhalten. Diese veredelte, etwa gefärbte oder bemalte Seide, wurde z.B. zur Wandbespannung genutzt, mit der sowohl "chinesische Kabinette" als Sammlungsräume für andere chinesische Objekte als auch Räume mit anderer – repräsentativer oder privater – Funktion ohne Chinabezug ausgestattet wurden. Diese veredelte Seide wurde zur Herstellung von Kleidung verwendet, die ebenfalls teilweise chinesische Bezüge aufwies – im Schnitt oder im Dekor – oder europäisch blieb. Drittens kamen in Asien hergestellte Kleidungsstücke mit den Ostindienfahrern auf den europäischen Markt; mehrfach begegnet uns z.B. der Morgenrock aus Seide in Einkaufslisten und auch im Porträt.20 Der Chinabezug ist auch hier nicht immer eindeutig; da orientalische Facetten durchscheinen, kam die Seide seit der Antike über die Seidenstraße "orientalisch veredelt" nach Europa.
Sich mit Seide "chinesisch" zu kleiden, ist weniger als Alltagsmode überliefert. Es handelt sich eher um modische Konzepte von Festen oder Bühnenstücken. So sind Maskenbälle unter chinesischem Motto an Höfen überliefert, auch Porträts wie das der Markgräfin Franziska Sibylla Augusta von Baden belegen die Verkleidung als Chinesin in authentischen Materialien.21
Seidenkleidung mit deutlich sichtbarem Chinabezug wurde folglich entweder im Rahmen einer als Maskerade gekennzeichneten Ausnahmesituation bedingt öffentlich oder zur Kennzeichnung von Privatheit genutzt. Beides konnte im Kontext von Staatsraison, bürgerlichen Netzwerken oder der Zurschaustellung von finanziellem und kulturellem Kapital platziert sein. Für die Ausstattung von Räumen mit Seidenbespannung gilt Ähnliches: Auch hier sind es überwiegend die Kabinette im Übergang der öffentlichen höfischen bzw. stadtgesellschaftlichen Zimmer zu den Privaträumen, die "chinesisch" ausgestattet wurden. Da diese Räume nach persönlichen Interessen und Geschmack gestaltet werden konnten und keine Ausstattung brauchten, die für das Zeremoniell unabdingbar war, eigneten sie sich für modische Statements.
Weiterhin unterscheidet sich Seide von Tee und Porzellan insofern sie bereits seit dem 15. Jahrhundert in Europa hergestellt wurde. Dies wirkte sich auch auf die Landschaftsgestaltung aus, da die überwiegend eingesetzten Raupen des Maulbeerspinners auf Maulbeerbaumblätter als Nahrung angewiesen waren. Rund um die Zentren der europäischen Seidenherstellung herum (etwa Lyon, Zürich, Wien, Krefeld) wurden darum Maulbeerbaumplantagen angelegt und obrigkeitliche Anreizsysteme für das Pflanzen der Bäume auch abseits der Plantagen eingeführt.22 So haben wir es zwar nicht mit einem unmittelbaren Phänomen der Chinamode zu tun, aber mit einer mittelbaren Folge der Nachfrage nach chinesischen Gütern oder ihrem europäischen Ersatz.
Weitere Waren und Moden
Papiertapete
Die chinesische Papiertapete war das Vorbild für die Tapetenproduktion weltweit. Weil sie vielfältig bedruckt werden konnte, ist sie sowohl ein Modemedium als auch im speziellen Fall der Chinamode doppelt – nämlich als Medium und in den Motiven – mit China zu verbinden.23 Eine hohe Zahl an Varianten chinesischer Tapeten ist in Europa insbesondere im 18. Jahrhundert zu finden: figürliche Panoramen, die ähnlich wie Rollbilder aufgebaut waren und z.B. Jagdszenen, Ackerbau, Handwerk und Industrie oder gesellschaftliche Ereignisse zeigten (z.B. MAK Wien); Collagen aus unterschiedlichen, zusammengefügten Tapeten; hergestellte oder exportierte Ausschneidebögen, deren Figuren und Blumen auf andere, etwa seidene Untergründe geklebt werden konnten oder eine Collage bildeten (Falkenlust (Brühl)); florale Panoramen, teilweise um Vögel oder Insekten ergänzt, bei denen kein Bildgeschehen zu verfolgen war, sondern die eine illusorischen Gartenraum erschaffen konnten oder an ornamentale Verzierungen anknüpften. Im späten 18. Jahrhundert wurden in Kanton (Guangzhou) europäische Auftragstapeten hergestellt, nach Vorlagen Antoine Watteaus (1684–1721) oder in Fortführung der englischen Print-Room-Tapeten, die z.B. die Illusion einer Aussicht verschafften und selbst keine chinesischen oder chinoisen Reminiszenzen mehr aufweisen.
Gartengestaltung
Aus der europäischen Gartenmode des 18. Jahrhunderts sind die chinesischen und anglo-chinesischen Gärten bekannt. Beide Gestaltungsarten verbindet der Einsatz von Kleinarchitektur, etwa Teehäuschen, Pagoden oder chinesisch inspirierten Schiffen als "schwimmende Häuser". Impulse für diese Gartenmode gingen u.a. von den Zeichnungen des Gartens des chinesischen Sommerpalasts in Chengde aus, die der Jesuit Matteo Ripa (1682–1746) angefertigt hatte und die ab 1724 als Kupferstiche in Europa verbreitet wurden.
Zunächst fanden chinesische Elemente Eingang in die formalen Barockgärten, etwa, indem ein klar definierter und sich häufig in Randlage befindlicher Bereich exotisch gestaltet wurde. Mit der Auflösung der formalen Struktur im englischen Landschaftsgarten verloren auch die exotischen Elemente ihren zuvor zugewiesenen Ort und wurden in die Geländegestaltung einbezogen. Der anglo-chinesische Garten wiederum war eine Mischform, die sowohl geometrisch-formale Elemente aus dem europäischen Barock und der chinesischen Gartengestaltung aufnahm als auch landschaftlich-organische Elemente berücksichtigte. Es gab sowohl Anlagen, die in der Gesamtkonzeption anglo-chinesisch geplant wurden, als auch ältere Barockgärten, die dem Zeitgeschmack angepasst wurden. Dann eignete sich insbesondere das Boskett – häufig der Gartenabschluss – für die Umgestaltung und die optische Ausdehnung des Gartens in die Landschaft hinein.
Die Konzentration in der chinesischen und anglo-chinesischen Gartenmode lag in der Kleinarchitektur und Struktur der Anlage. Die Integration chinesischer Pflanzen in diese Konzepte spielte eher eine untergeordnete Rolle. Sie wurden eher in botanischen Gärten berücksichtigt, also in Sammlungen, die nicht der Mode verpflichtet waren. Dennoch gab es auch Modepflanzen ursprünglich chinesischer Herkunft, die auch außerhalb der höfischen Großprojekte stark nachgefragt waren. Dazu gehören z.B. die Zitruspflanzen – der Zitronenbaum war ein beliebtes Hochzeitsgeschenk aufgrund der Symbolik der gleichzeitigen Blüte und Frucht, und auch für das Bürgertum sind Orangeriegebäude überliefert. Auch die Kamelie war beliebt und ab der Mitte des 18. Jahrhunderts in Europa im Handel.24
Schnupftabakdosen und -flaschen
Ein kulturell hybrides Modeobjekt waren die Schnupftabakdosen und -flaschen, insofern der Tabak vermutlich über die Jesuiten an den chinesischen Hof kam, dort kostbare kleine Aufbewahrungsgefäße entwickelt wurden, die wiederum zu Exportgütern weiterentwickelt und nach Europa verschifft wurden. Schnupftabakdosen und -flaschen gab es aus verschiedenen Materialien – Glas, Emaille, Porzellan, Horn, Jade, Edelmetallen – und unzähligen Dekoren. Das macht sie zu perfekten Mode-, Geschenk- und Sammelobjekten, mit denen Individualisierung und gesellschaftliche Distinktion zugleich bedient werden konnten.25
Hier wie auf sämtlichen Gegenständen der Chinamode enthalten die Dekormotive versteckte Botschaften und sind Sinnbilder. Geht man davon aus, dass sie ausgewählt oder in Auftrag gegeben wurden (und nicht nur das gekauft wurde, was gerade verfügbar war), sind Rückschlüsse auf das Gemüt oder die Persönlichkeit der Träger:innen, der Schenkenden oder der Beschenkten zuzulassen und sei es in der je getroffenen Auswahl aus einer Sammlung: humorvoll, romantisch-verträumt, derb, von schlicht-zeitloser Eleganz, regional eingebunden oder kosmopolitisch. Sie konnten Gegenstände magischer Vorstellungen sein und wie ein Talisman funktionieren, verdeutlicht etwa durch mythologische oder religiöse Motive.
Kulturtransfer?
Die Begegnung europäischer mit anderen Kulturen während der sogenannten "Europäischen Expansion" wurde zuletzt im Kontext von "Kulturtransfer" untersucht. Dabei stellte sich die Frage, welche Austauschprozesse in Gang kamen, die Veränderungen in den jeweiligen Kulturen ausgelöst haben. Ein wesentliches Merkmal von Kulturtransfers ist Reziprozität – beide Kulturen verändern sich. Es hängt wesentlich von den Definitionen von "Kultur" und "Transfer" ab, wie eng oder breit der Begriff gefasst wird. Meines Erachtens gehört zum Kulturbegriff wesentlich die Dimension der Bedeutung; es genügt also nicht bereits ein Gütertransfer, um von Kulturtransfer zu sprechen – die Bedeutung des Gutes muss ebenfalls transferiert und übersetzt werden; zudem sollte es sich nicht um anthropologische Konstanten handeln. Der Transfer eines Porzellanbechers etwa, der zum Trinken oder zur Aufbewahrung genutzt werden kann, ist kein Kulturtransfer, sondern ein Porzellanbechertransfer. Die Deutung und Nutzung eines Bechers als Gefäß für Getränke ist ebenfalls kein Kulturtransfer, sondern anthropologische Konstante. Die Nacherfindung des Porzellans ist kein Kulturtransfer, weil die Technologie nicht transferiert wurde, sondern nacherfunden. Im Falle der Chinamode gab es also überwiegend Warentransfers sowie technische Innovationsimpulse, die letztlich zu eigenen Lösungen geführt haben.
Freilich finden sich daneben auch Hinweise darauf, dass Gegenstände und Bedeutung übernommen worden sind. Hierfür finden sich wenige Fälle, da das Objekt allein nicht genügt, sondern wir ein Konzept oder eine Begleitüberlieferung benötigen, die die Auseinandersetzung mit der fremden Bedeutung belegt. So könnte etwa das Selbstbildnis als "chinesische Weise" der Wilhelmine von Brandenburg-Preußen im Spiegelscherbenkabinett des Neuen Schlosses Bayreuth sowohl als Mode als auch als Kulturtransfer gedeutet werden. Sowohl bediente sie sich der Kleidungs- und Innenraumgestaltung ihrer Zeit als auch der Figur der exotischen Weisen, die sich gleichermaßen in der Porzellanmalerei und in den philosophischen Schriften der Zeit als Rollenangebot zeigt. Neben europäische Allegorien wie der Sapientia oder antiken Figuren wie der Athene schafft sie ein neues Zeichen, das sich aus chinesisch-exotischem Äußeren und textlichen Bezügen zusammensetzt.
Andere Phänomene sind mit theoretischen Konzepten nur uneindeutig zu fassen. Die Kostümierung der Markgrafen von Baden in Barockkleidung mit unterschiedlichen ethnischen Bezügen würde heute vielleicht als unangemessene Art der kulturellen Aneignung gefasst; jedoch gibt es bislang keine Hinweise darauf, dass diese Aneignung der Form die Benachteiligung der "gebenden Kultur" ausnutzt. Interessant ist, dass für das 18. Jahrhundert zu beobachten ist, wie zugleich die Exklusivität chinesischer Mode- und Luxusgüter aufgrund der europäischen Produkte relativiert wird und die Bewertung der chinesischen Kultur als gleich- oder sogar höherwertig sinkt. Zur Entzauberung Asiens, die in koloniale Gewalt auch in China im 19. Jahrhundert kippte, trug die Mode aufgrund ihrer Reduktion auf die Form und die Möglichkeit, kulturelle Versatzstücke zur eigenen Bedeutungsgebung, also Kreation, auszuwählen, bei.