Schon der Gedanke: Du siehst England, machte mich für Freude beben …; denn ich bekenne: Bücher und Reisen waren immer für mich die einzige vollkommene Glückseligkeit dieses Lebens. Besonders England, dessen Geschichte, Schriftsteller und Landwirthschaft, ich mir schon so lange bekannt machte, sie schon so lange liebte – war immer ein Punkt, nach welchem meine ganze Seele begierig war; und diese letzte halbe Stunde auf der See war mir unschätzbar.1
Mit diesen hochgemuten Worten begleitete die Schriftstellerin Sophie von La Roche (1731–1807)[] ihre Annäherung an die "Königin der Inseln"2 am 4. September 1786, zur Blütezeit der Anglophilie. Anglophilie ist die "Vorliebe für England, die Engländer und alles Englische".3 Anglophilie ist wohl zu allen Zeiten möglich;4 hier geht es jedoch um jene historisch spezifische Erscheinung, die sich im 18. Jahrhundert in ganz Europa, vor allem aber in Deutschland, ausbreitete und in den beiden Jahrzehnten vor der Französischen Revolution geschichtsmächtig aufgipfelte. Anglophilie ist auch in Frankreich,5 Russland6 oder Italien7 belegt, erlangte jedoch in Deutschland eine herausragende Bedeutung. Anglophilie als kultureller Komplex ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass man sie nicht auf ein einzelnes Lebensgebiet wie Sport oder Mode beschränken kann; ein Anglophiler hegt vielmehr ein positives Vorurteil für alles, was aus England kommt. Sophie von La Roche artikulierte nicht nur ihr persönliches Gefühl, sondern ein allgemeines, für eine bestimmte Phase des deutschen Aufklärungsdenkens charakteristisches Wahrnehmungskonzept. Mit Geschichte, Literatur und Agrikultur benannte sie nur drei Gebiete, die hier stellvertretend für ein umfassendes Spektrum englischer Vorbildlichkeit stehen. Andere Autoren rücken stärker das Politische ins Zentrum, wieder andere das Theater oder die Gartenkunst. Bei Johann Gottfried von Herder (1744–1803)[] lautete die Formel "Geschichte, Philosophie, Politik und Sonderbarkeiten dieser wunderbaren Nation".8 Für den preußischen Publizisten Johann Wilhelm von Archenholtz (1743–1812)[] waren die Engländer "das aufgeklärteste Volk unserer Erde".9
Anregung durch die französische Aufklärung
Als Erscheinung des aufgeklärten 18. Jahrhunderts entwickelte sich die Anglophilie in einem Zeitalter französischer Kulturhegemonie als dessen Unterströmung. Während in der Epoche Ludwigs XIV. (1638–1715) der französische Hof, die französische Sprache, die französische Kultur insgesamt für Europa maßgebend geworden waren, lockerte sich diese französische Dominanz nach dem Tod des Sonnenkönigs. Schon während der Régence ließen sich englandfreundliche Töne in Frankreich hören, ging man von den streng formalen Tänzen zu den englischen Kontretänzen (country dances) über.10 Seit der "Glorreichen Revolution" verfolgte man das politische Geschehen auf der britischen Insel in ganz Europa mit wachem Interesse. Hugenotten, die nach der Aufhebung des Edikts von Nantes (1598) auch in großer Zahl nach Holland und England geflohen waren,11 priesen diese Länder als Horte der Freiheit. Vor allem Voltaire (1694–1778)[] richtete mit den Letters concerning the English Nation (1733),die er während seines Aufenthaltes in England veröffentlichte,12 das Interesse des aufgeklärten Europa auf England, das in seinen Augen ein Land der (empirischen) Philosophie, der modernen Naturwissenschaft, der Freiheit des Denkens, der Toleranz, der bürgerlichen Tätigkeit und des Wohlstands war.13 Montesquieu (1689–1755)[], ebenfalls ein Englandreisender, skizzierte in De l'Esprit des lois (1748) die gemischte Verfassung mit Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative als Idealtyp einer freiheitlichen Verfassung; das Muster England war darin nur zu deutlich zu erkennen.14 Seit Voltaire wurden englische Autoren wie Henry St. John Viscount Bolingbroke (1678–1751), Alexander Pope (1688–1744), Joseph Addison (1672–1719) und auch William Shakespeare (1564–1616)[] in Frankreich bekannt gemacht. Anglophilie entwickelte sich in Frankreich nach der Jahrhundertmitte in einem solchen Maße zur Modeströmung, dass sich bald Kritiker fanden, die sie als "Anglomanie" anprangerten und verspotteten.15
Die Hochschätzung einer fremden Nation kann nicht anders als vor der Folie der Einschätzung der eigenen verstanden werden. Anglophilie enthielt meist ein Element der Kritik an der Herkunftsgesellschaft, sei es in Frankreich oder in Deutschland. England, wie es von Voltaire und Montesquieu aufgefasst und dargestellt wurde, bedeutete einen Gegenentwurf zum französischen Herrschaftsmodell. Anglophile priesen Freiheit und Natur des englischen Vorbilds. Der Bezug auf England nutzte das Potential der "nahen Fremde": Anders als die Exotisten und Utopisten, welche der Sehnsucht kaum ein reales Ziel zu bieten hatten,16 verwiesen Anglophile auf eine andere Welt, die leicht erreichbar war; wer nur eine kurze Seereise wagte, konnte sich selbst davon überzeugen, wie es in England zuging. Damit waren anglophile Konzeptionen auch anfällig gegen Widerlegungen. Anglophile setzten sich der Gefahr einer Enttäuschung aus, wenn sie die Konfrontation mit der "nahen Fremde" wagten.17
Im Vergleich zu Frankreich, von dessen Aufklärern die Anglophilie in Deutschland induziert wurde, erfuhr der deutsche Blick auf England eine veränderte kritische Bedeutung. Gewiss: Adelsherrschaft, Fürstenwillkür und Beschränkung der öffentlichen Meinung waren auch in Deutschland nicht unbekannt. In einem Teilbereich überschnitten sich also die neuen Identifikationsangebote der aufgeklärten Anglophilie. Doch gestaltete sich der Englandbezug komplexer, wo er anstelle des Frankreichbezugs aufgebaut wurde im Sinne bürgerlicher Gleichheit und germanischer Freiheit. Ein Teil der Anglophilen spielte England gegen Frankreich aus. Zu sehr erschien die europäische Adelsgesellschaft als französische Veranstaltung, als dass man diesen Aspekt hätte übersehen können.18 Zudem entwickelte sich die Konzeption einer "germanischen Freiheit", die aus der Stammesverwandtschaft von Deutschen und Engländern auf eine vorgegebene Nähe und Ähnlichkeit schloss.19 In diesem Sinn waren die Engländer "die auf eine Insel verpflanzten Deutschen",20 oder anders gesagt: Die englische Freiheit taugte als Maßstab auch für die kleinräumigen deutschen Verhältnisse. Was in Deutschland nicht möglich war, konnte anhand der Realität Englands studiert werden. Hier überlagerten sich also zwei komplementäre Tendenzen: Obwohl die Anglophilie von Frankreich ausging, konnte sie gegen die Franzosen (oder gegen bestimmte Ausprägungen der französischen Kultur und Gesellschaft) gewendet werden. Das Postulat deutsch-englischer Nähe legitimierte die Orientierung an einem neuen, von Frankreich unabhängigen Kulturideal.
Voraussetzungen der Anglophilie in Deutschland
Was ermöglichte die Anglophilie in Deutschland? Entscheidend ist zunächst, dass sich das protestantische Deutschland (wie auch die protestantische Schweiz) seit der Reformation in einem komplexen Beziehungsnetz mit England sah, in einer grundsätzlich gemeinsamen Kultursphäre, die durch Reisen insbesondere auch der Theologen in ihrer Einheit dokumentiert wurde. Lutherische Prediger wie Heinrich Ludolf Benthem (1661–1723), Georg Wilhelm Alberti (1723–1758) oder Gebhard Friedrich August Wendeborn (1742–1811) hielten sich nicht nur lange Zeit in England auf, sondern schrieben darüber auch die entscheidenden landeskundlichen Werke für das deutsche Publikum.21 Die ältere reformatorische Verbindung zwischen den Schweizer Städten und England bewirkte, dass englische Ideen auch im literarischen Diskurs von Schweizern wie Johann Jakob Bodmer (1698–1783)[] und Johann Jakob Breitinger (1701–1776)[] geltend gemacht werden konnten. Die Rechtfertigung der künstlerischen Phantasie, des Natürlichen und Gemüthaften konnte unter Berufung auf englische Quellen und englische Literatur den am französischen Klassizismus orientierten Leipzigern um den Literaturkritiker Johann Christoph Gottsched (1700–1766) entgegengehalten werden.22 Einer der retrospektiv aufschlussreichsten Reiseberichte der Frühaufklärung wurde von einem protestantischen, französisch sozialisierten Berner, Beat Ludwig von Muralt (1665–1749), verfasst.23 Die wichtigste verfassungspolitische Schrift nach Montesquieu publizierte der Genfer Jurist Jean-Louis de Lolme (1740–1806)[].24 Kurz: Während man gesamteuropäisch den propagandistischen Einfluss der Hugenotten hoch einschätzen wird, bleibt doch auch zu bedenken, dass die Aufnahmebereitschaft für Englisches im protestantischen Bereich Europas besonders ausgeprägt war.
Eine weitere Voraussetzung der Anglophilie kann darin gesehen werden, dass die Englandbeziehungen der Hansestädte schon seit dem Mittelalter eng waren. Kaufleute aus Bremen, Kiel, Lübeck, Stettin, Königsberg, Danzig und Riga unterhielten rege Kontakte mit London, wie auch nicht wenige Briten, vor allem Schotten, sich in Hansestädten niedergelassen hatten. Am engsten waren diese Kontakte freilich zwischen Hamburg und London. Hamburg galt damals als "Tor nach England". Ob es um das Theater geht, das Pressewesen, den Buchhandel, die Patriotische Gesellschaft oder die Freimaurerei: Immer erwiesen sich englische Anregungen als entscheidend für Hamburger Neuerungen und Hamburg war für gewöhnlich die erste Stadt auf dem Kontinent, die Englisches aufnahm und nach Deutschland vermittelte.25
Hinzu kam schließlich noch die dynastische Verbindung über das Welfenhaus, nachdem 1714 der Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg (kurz: Hannover) als Georg I. (1660–1727) König von England geworden war. Göttingen, die 1734 gegründete Universität des Kurfürstentums, kultivierte die englische Verbindung aufs engste. Die Universitätsbibliothek konnte sich der Unterstützung durch die Diplomatenpost bedienen.26 Englische Adlige, ja selbst die Söhne des Königs studierten in Göttingen.27 Göttinger Professoren wie Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799)[] erhielten die Möglichkeit, nach England zu reisen und sich längere Zeit dort aufzuhalten.28 Göttingen, die Reformuniversität der Aufklärung, wurde zum Einfallstor des englischen Denkens und zu einem Hauptort der Anglophilie in Deutschland. "Wir sind ja hier", formulierte der Historiker Ludwig Timotheus Spittler (1752–1810), Professor in Göttingen, "so gerne Halb-Engländer, und gewiss nicht bloß in Kleidung, Sitte und Mode, sondern auch im Charakter".29
Anglophilie als kultureller Komplex
Anglophilie ist ein Kulturkomplex, bestehend aus Komponenten, die sich gegenseitig stützen. Zwar kann man analytisch einzelne Stränge herauslösen (wie beispielsweise die Gartenkunst oder den bürgerlichen Roman), doch ergibt sich bei näherer Betrachtung, dass das entscheidende Merkmal des Kulturkomplexes gerade in der Interdependenz der verschiedenen Bereiche, in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit voneinander, in ihrer Überlappung, in ihrer Verwurzelung in gemeinsamen Grundwerten liegt. In Bezug auf die Anglophilie ist vor allem der Zentralwert "Freiheit" herauszustellen, ebenso der Leitwert "Natur".30 "Freiheit" hat zwar ihren Kern in der politischen Bedeutung, doch erweist sie sich auch als ethischer und ästhetischer Wert. "Natur" enthält nicht nur den Gegensatz zu "Kultur", sondern auch einen Rückbezug auf die Antike (klassizistisch verstanden als Epoche, in der die Menschheit noch unverbildet war); religiöse, ästhetische und wissenschaftliche Elemente greifen hier ineinander. Immer wieder verband sich mit der Vorstellung von England die Vorstellung politischer Freiheit, individueller Entfaltungsmöglichkeit, relativer Egalität, kraftvoller Nationalität, aber auch der Orientierung an Erfahrung (anstelle von Theorie und Ideologie), der Neigung zu gewerblichem Fleiß und Erfindungsgabe.
Im Bereich der Künste erschien England zunächst als zu spät gekommen. Der Anschluss an die von Italien und dann, in einer zweiten Phase, von Frankreich ausgegangene Entwicklung der bildenden Künste und der Musik erfolgte im 18. Jahrhundert durch ein breites Mäzenatentum und die Entwicklung eines literarischen, musikalischen und künstlerischen Marktes, eine Connoisseurschaft, die über den Adel hinausgreifend auch das Bürgertum erfasste. Als spezifisch englische Kunst erschien dann die Gartenkunst – nicht nur in englischer Selbstwahrnehmung, sondern auch in der Fremdwahrnehmung reisender Kontinentaleuropäer. Der Schriftsteller und Politiker Horace Walpole (1717–1797) konnte formulieren: "We have discovered the point of perfection. We have given the true model of gardening to the world; let other countries mimic or corrupt our taste; but let it reign here in its verdant throne."31 Dies war 1785 bereits common place.32 Nicht wenige Europäer aus verschiedenen Ländern reisten speziell dafür nach England, um dort die entscheidenden Anregungen einer nicht nur modischen, sondern wahrhaft modernen, nämlich dem Empfindungsvermögen der Zeitgenossen entsprechenden Idealvorstellung aufzunehmen. Die stärker formale italienische und dann französische Gartenkunst mit ihren geraden Alleen, gestutzten Bäumen und präzisen Beeten wurde überwunden durch eine am Naturideal orientierte Kunstform, welche auf den spazierenden Betrachter hin organisiert war, um ihm möglichst abwechselungsreiche Aussichten auf gewundenen Wegen zu bieten, mannigfaltige Baum- und Buschgruppen (unter Einschluss exotischer Bäume), überraschende Aussichten in die freie Landschaft.
Die enge Beziehung zu den durch die bildende Kunst geformten Sehgewohnheiten artikulierte für die Zeitgenossen beispielsweise Joseph Spence (1699–1768) mit seinem Diktum: "All garden is landscape-painting. Just like a landscape hung up."33 Was Claude Lorrain (1600–1682) in der Landschaftsmalerei gestaltet hatte, sollte ins natürliche Leben übertragen werden.34 Wildere Versionen boten Maler wie Jacob van Ruisdael (1628–1682) oder Salvator Rosa (1615–1673). Die Entwicklung des Gartens zeichnet einen Wandel der Sensibilität vom klassischen Ideal zum pittoresken und darüber hinaus zum erhabenen nach. Der junge Edmund Burke (1729–1797) formulierte in seiner Schrift A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757) die Grundsätze einer neuen Ästhetik, die auch auf den Kontinent ausstrahlte.35 Seitdem sah man Landschaft anders; wilde Gebirgslandschaften wie die Schweizer Alpen, in der Folge aber auch die einheimischen Randgebiete in Wales und Schottland wurden mit neuen Augen wahrgenommen.36 Zum anglophilen Naturbegriff passte durchaus das Wilde, Erhabene, das den Betrachter auf sich selbst zurückwarf, ihm Schrecken einflößte. Das "angenehme Grauen" wurde zu einem Leitbegriff auch der literarischen Ästhetik.37 Früher als in anderen Ländern delektierte man sich in England an Schauerromanen. Auch der Ossian-Komplex gehört hierher: die Verbindung moderner Sensibilität mit archaischen Wurzeln.38
Die Shakespeare-Rezeption stellt ein eigenes Kapitel dar!39 Dabei handelt es sich nicht um einen bloß literarischen Rezeptionsvorgang; entscheidend ist vielmehr, dass die Beschäftigung sukzessiver Schriftstellergenerationen mit dem englischen Dichter wesentlich dazu beitrug, ein neues Menschenbild auszuformen. Was die Anthropologie jener Zeit theoretisch noch nicht zu leisten vermochte, konnte unter Rückgriff auf die eigenständigen und unbestreitbar wirkmächtigen Dramen Shakespeares entwickelt werden. Indem man Shakespeare zum universalen Menschenkenner erklärte, wurde es möglich, über Humanität jenseits der Vernunft zu sprechen. Während anfangs nur die Frage aufgeworfen wurde, wie man das klassizistische Ordnungsdenken überwinden könne, lockerte und verschob sich der Diskurs durch die angenommene Affinität der Nationalcharaktere von Deutschen und Engländern. Diese bedeutete eine Pluralisierung, weil so die normative Verbindlichkeit der alten Griechen aufgelöst werden konnte. Die Bindung an eine Klimazone und eine bestimmte Kulturstufe machte es möglich, die Vorbilder der Dramaturgie zu historisieren. Damit wurde ein Menschenbild ausgeformt, das die Brüche um 1800 verarbeitete und zu einer spezifischen Modernität durchstieß. Dieser Wandel erfolgte im Medium der Literatur, wobei Shakespeares Dramen exempla historica boten, an denen sich die Theoretiker des Dramas abarbeiten und die Dichter Muster für eigene Gestalten gewinnen konnten. "Nichts so Natur als Schäkespeares Menschen", rief der junge Goethe 1771 in seiner Rede Zum Schäkespears Tag.40 Diese Einsicht gehört in den Kontext der Anglophilie, wie die Aneignung von Friedrich Nicolai (1733–1811), Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) und Herder bis zu Friedrich von Schlegel (1772–1829) beweist. Letzterer formulierte in seinen Vorlesungen 1803/1804: "Uns Deutschen aber ist unter allen romantischen Dichtern keiner so nahe verwandt, keiner sowohl der äußern Form der Behandlung als dem innern Geiste nach so ganz deutsch wie er."41
Die Vielfalt des anglophilen Kulturmusters zeigt sich gerade in der weiten Spannung zwischen dem Bürgerlichen, Vernünftigen, Empirischen und Industriösen auf der einen Seite und einer modernen Sensibilität, die damit in Widerspruch zu treten scheint, indem sie Transformationen, Verarbeitungen, Kompensationen hervortreibt. Anglophile nahmen beide Komponenten auf: Während sie über die Warenwelt der Londoner Schaufenster staunten und die Fabriken in Birmingham besichtigten, begriffen sie doch schon die Großstadt und die Ansätze industrieller Entfaltung und urbaner Verdichtung als furchterregend und unmenschlich. Der Schriftsteller Karl Philipp Moritz (1756–1793)[] notierte bei seiner Ankunft in Richmond: "Tage und Stunden fingen mich an zu gereuen, die ich in London zugebracht hatte, und ich machte mir tausend Vorwürfe wegen meiner Unentschlossenheit, dass ich nicht schon längst jenen großen Kerker verlassen hatte, um mich in einem Paradiese zu verweilen."42 Man reiste nach England, um Anregungen für technologischen Transfer aufzunehmen – Unternehmer,43 Landwirte,44 Architekten,45 Ärzte und Naturforscher46 wählten dieses Ziel. Gleichzeitig reiste man nach England, um die neue Sensibilität auszukosten. Entscheidend für den kulturellen Komplex Anglophilie ist nun, dass sich nicht einfach die industrielle Komponente den wirtschaftlichen Berufsreisenden zuordnen lässt und die ästhetische den Schriftstellern und Künstlern. Die Spannweite in der Wahrnehmung des einzelnen Reisenden offenbart vielmehr die Komplexität der anglophilen Disposition.
Politische Bedeutung der Anglophilie
Der Haupt-Charakterzug der Britten ist der ihnen ganz eigenthümliche Public Spirit; eine in allen andern Ländern so unbekannte Tugend, dass man in keiner lebenden Sprache einen Namen dafür hat. Das Wort Nationalgeist bezeichnet diese edle brittische Eigenschaft nur sehr unvollkommen. Eigentlich ist es der Wille, oder das eifrige Bestreben einzelner Menschen, das allgemeine Beste zu bewirken.47
Archenholtz bezeichnet mit diesen Sätzen einen der höchsten Reize für den Anglophilen, der zugleich die Möglichkeit der Rückspiegelung und Anwendung im eigenen Lebensbereich enthielt. Public Spirit bedeutete, so verstanden, etwas Ethisches. Während die heimischen Staaten (auch des aufgeklärten Absolutismus!) dem bürgerlichen Individuum nur wenig Raum für freie Entfaltung ließen, hatte sich in England eine Form der Öffentlichkeit herausgebildet, die in ihrer Liberalität zukunftsweisend schien:
In despotischen Staaten ist selbst der aufgeklärte Mensch, reich oder arm, vornehm oder niedrig, nur mit seiner eigenen Erhaltung beschäftigt; er kann bloß fromme Wünsche für die übrige Menschheit thun, und überlässt es den Mächtigen dieser Erde sie zu realisieren. Die Britten aber, ohne Rücksicht, ob es Könige thun, schreiten selbst zu Werke.48
Das allgemeine Schlagwort "Freiheit" ist hier ins Sozialethische vertieft worden. Die bekannten Merkmale der Gewaltenteilung, der Geschworenengerichte usw.49 genügen nicht, um die englische politische Welt zutreffend zu kennzeichnen. Es ist eine zivile Welt, in der das Militär keine Rolle spielt; es ist eine bürgerliche Welt, in der Rangabstufungen nicht so wichtig sind wie auf dem Kontinent. Es ist das Ideal "Freie Bahn dem Tüchtigen!", das hier greift, verbunden mit der Überzeugung, dass diese freie Entfaltung des Einzelnen zugleich die salus publica gewährleistet. Indem deutsche Betrachter Londoner Kaffeehäuser besuchen und sich dem Tumult der Parlamentswahlen aussetzen; indem sie die großen Redner im Unterhaus hören und die Zeitungen lesen, nehmen sie etwas auf von jener Freiheit, die sie sich für Zuhause wünschen. Karl Philipp Moritz zeigte sich begeistert:
O lieber Freund, wenn man hier siehet, wie der geringste Karrenschieber an dem was vorgeht, seine Teilnehmung bezeigt, wie die kleinsten Kinder schon in den Geist des Volks mit einstimmen, kurz wie ein jeder hier sein Gefühl zu erkennen gibt, daß er auch ein Mensch und ein Engländer sei, so gut wie sein König und sein Minister, dabei wird einem doch ganz anders zu Mute, als wenn wir bei uns in Berlin die Soldaten exerzieren sehen.50
Die politische Komponente des Englandideals bedeutete offensichtlich ein Angebot zur Veränderung der deutschen Verhältnisse. Indem man England pries, verwies man auf die reale Utopie einer anderen Gesellschaft, eines anderen politischen Systems, einer anderen Sphäre der Öffentlichkeit. Fragen der Pressefreiheit beschäftigten deutsche Anglophile in Pro und Contra. Wie sich die Briten selbst als Nachfahren der alten Römer sahen, wurden sie auch von den deutschen Betrachtern wahrgenommen.51 Was gebildete Deutsche aus ihrer Lektüre der klassischen Autoren kannten, erlebten sie in England in der Wirklichkeit. Durch die sozialethische Rückbindung erschien ihr bürgerlich-politisches Denken nicht aufrührerisch, sondern menschenfreundlich, philanthrop.
Damit hängt aufs engste jene Komponente zusammen, welche den Widerspruch zwischen dem positiven Fremdbild der Anglophilen und ihrem negativen Selbstbild zum Einsturz bringt: die nationale. Auf der Insel konnte man das robuste Nationalbewusstsein John Bulls erleben. Deutsche Anglophile fühlten sich dadurch nicht etwa abgestoßen, sondern vielmehr angezogen: In England zeige sich wahrer Nationalstolz, also gerade das, was den politisch zersplitterten Deutschen fehle. Vor allem Wendeborn arbeitete heraus, dass auf englischer Seite nicht nur Xenophobie und Chauvinismus die politische Öffentlichkeit bestimmten, sondern im Gegenteil die Ausprägung eines Nationalbewusstseins nach englischem Vorbild für Deutsche eine patriotisch-moralische Aufgabe sei. Denn Deutsche seien nicht aus differenzierterem Denken national abstinent, sondern aus Egoismus und Standesdünkel.52
Reisen als Medium des Kulturtransfers
Zu einem nicht unbeträchtlichen Teil beruhte die Anglophilie auf Reisen nach England, auf Inaugenscheinnahme des "gelobten Landes". Im Gegensatz zum 16. und 17. Jahrhundert hatten im 18. Jahrhundert fast alle nennenswerten Englandpublizisten die Insel bereist und konnten insofern aus eigener Anschauung schreiben, wenn sie auch englische Bücher, Zeitschriften und Zeitungen als Quellen zugrundelegten.53 Aufgrund des im Aufklärungszeitalter herrschend gewordenen Autopsieprinzips erwartete man dies auch von ihnen.54 Englandexperten wie Archenholtz, Wendeborn oder Georg Forster (1754–1794) hatten mehrere Jahre in England gelebt. Eine reine Kompilation stellte nur noch der Englandreiseführer von Johann Jacob Volkmann (1732–1803)[] dar.55
Reisen nach England waren im 18. Jahrhundert insofern einfacher geworden, als die Infrastruktur (Chausseen, Turnpike Roads, Herbergen und Wirtshäuser) deutlich verbessert worden war.56 Der nächste Qualitätssprung setzte bei den Landreisen erst mit der Eisenbahn ein, bei den Seereisen mit dem Dampfschiff im frühen 19. Jahrhundert. Allgemein lobten die Reisenden Sicherheit und Bequemlichkeit der Postkutschenreisen in England, wenn sich auch ein Rest von Angst vor Postkutschenräubern als Phantasieanreiz hielt, der sich im literarischen Genre der Verbrecherbiographie entfalten konnte.57 Postkutschenreisen waren in England so regelmäßig, so preisgünstig, so bequem geworden, dass es ein Fußreisender wie Moritz zu spüren bekam, dass in England nur Landstreicher noch zu Fuß gingen.58 Durch die regelmäßigen Postkutschenkurse waren Englandreisen nun planbar geworden und konnten in überschaubarer Zeit absolviert werden. Während die Kavalierstouren der älteren Zeit noch Jahre beansprucht hatten, verkürzten sich Reisen im bürgerlichen Zeitalter auf einige Wochen oder allenfalls Monate. Manche konnten also eine Englandreise als Sommerferienreise in sechs oder acht Wochen absolvieren: Solche Sommerreisen zur Erholung waren im späten 18. Jahrhundert unter Gebildeten und Kaufleuten durchaus keine Seltenheit mehr.
Alle deutschen Reisenden besuchten London und hielten sich die längste Zeit in der damals größten und faszinierendsten Stadt Europas auf. Wie Paris im 19. Jahrhundert zur "Hauptstadt der Welt" wurde, kann man London im 18. Jahrhundert in dieser Funktion sehen.59 Außerdem besuchten deutsche Reisende die Universitätsstädte Oxford und Cambridge, Bath und andere Badeorte, schließlich auch die neuen Industriestädte wie Manchester und Birmingham. Das englische Binnenland, die Provinz, wurde von Anglophilen zumeist nicht beachtet. Erst im späten 18. Jahrhundert suchte man auch die Naturschönheiten im Lake District auf; Moritz kroch als einer der ersten deutschen Reisenden durch die Höhlen von Derbyshire.60 Wendeborn schrieb 1791, es werde nun auch in England Mode, nach Wales zu reisen.61 Schottland entwickelte sich seit dem späten 18. Jahrhundert zu einem Reiseziel.62 Was nicht alle Reisenden erkannten, war, dass sie in der Hauptstadt nicht eigentlich England in nuce, sondern einen internationalen melting pot vor sich hatten. Gewiss diagnostizierten genauere Beobachter wie der Leiter der Hamburger Handelsakademie Johann Georg Büsch (1728–1800) oder Johanna Schopenhauer (1766–1838), die Mutter des Philosophen, London bestehe aus der City of London und dem Hof in Westminster; den Nationalcharakter der Engländer könne man aber eigentlich nur am Mittelstand ablesen.63 Die Tendenz zu einer gewissen Idealisierung, die sich im Zeitalter der Anglophilie erkennen läßt, erzeugte oft genug auch undifferenziert positive Urteile. Der in London lebende deutsche Pfarrer Wendeborn konstatierte aufgrund seiner Erfahrung aus zwei Jahrzehnten:
Unter den Ausländern, welche über die englische Nation geschrieben, haben die meisten, ein paar ausgenommen, sich nur kurze Zeit, oftmals ohne die englische Sprache zu verstehen, in London aufgehalten. Sie haben die Coffee- und Komödienhäuser nebst einigen unbedeutenden Gesellschaften besucht und sich fähig gehalten, über ein Volk zu schreiben, mit dessen Sitten und Denkungsart sie so wenig bekannt geworden als irgendeines andern, dessen Wohnplätze sie nur auf der Landcharte gesehen.64
So unverzichtbar Reisen für den Kulturtransfer auch waren, so fragwürdig schienen sie doch auch als Grundlage verallgemeinernder Urteilsbildung!
Englische Sprache und Literatur in Deutschland
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts waren Englischkenntnisse in Deutschland sehr selten und englische Bücher kaum zu bekommen. Als sich der Kunst- und Büchersammler Zacharias Conrad von Uffenbach auf seine Englandreise vorbereiten wollte, konnte er in Frankfurt nichts als eine englische Bibel auftreiben; nach seinen Informationen handelte auf dem Kontinent nur eine Amsterdamer Buchhandlung mit englischen Büchern.65 Ende des 18. Jahrhunderts waren Englischkenntnisse in Deutschland so gewöhnlich, dass der Lektor und Schriftsteller Johann Gottfried Seume (1763–1810) an Sophie von La Roche schreiben konnte, in Leipzig gebe es in jeder Straße einen Korrektor für englische Schriften.66 Institutionalisierten Unterricht im Englischen konnte man zu Beginn dieser Epoche noch gar nicht bekommen; wer die Sprache lernen wollte, musste, wie Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) und seine Schwester Cornelia (1750–1777), Privatunterricht bei einem Sprachmeister nehmen.67 Seit den 1770er Jahren boten dagegen schon die Mehrzahl der deutschen Universitäten und auch nicht wenige Schulen Englischkurse an.68 Englisch war in Deutschland eine gelehrte Sprache wie Latein, keine Umgangssprache wie Französisch. Man lernte es überwiegend aus Büchern und traf dann auf große Verständnis- und Ausspracheschwierigkeiten, wenn man wirklich auf Engländer traf.69 Die meisten englischen Bücher waren in der Frühzeit Hilfsmittel zum Erlernen der Sprache wie Grammatiken, Briefsteller oder Anthologien. Doch auch den Moralischen Wochenschriften kam große Bedeutung zu für die Verbreitung der englischen Sprache, weil sie kurze Texte, Dialoge und Alltagssituationen zu bieten hatten. Sophie von La Roche las zur Erbauung viele Jahre lang jeweils ein Stück aus dem Spectator vor dem Einschlafen.70 Archenholtz gab ab 1787 in Hamburg die erste Zeitschrift in englischer Sprache auf dem Kontinent heraus, The British Mercury (1787–1790).71
Entscheidend für die Ausbreitung der englischen Sprache im Europa des 18. Jahrhunderts wurde die Blüte der englischen Literatur im augusteischen Zeitalter. Mit den Schriften von Addison, Richard Steele (1672–1729) und Pope begann eine erste Rezeptionswelle in Deutschland.72 Dann folgte ein Rückgriff auf das große Epos John Miltons (1608–1674), Paradise Lost, dessen Übersetzung durch Bodmer als epochemachend angesehen werden kann und ohne das der Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) nicht denkbar wäre. In einer späteren Phase rezipierte man den bürgerlichen Roman: Samuel Richardson (1689–1761)[], Henry Fielding (1707–1754) und Laurence Sterne (1713–1768) machten Epoche in Deutschland.73 Das am häufigsten nachgedruckte Werk war übrigens Oliver Goldsmiths (1728–1774) Vicar of Wakefield.74 Schließlich erlangte Shakespeare eine ganz eigene Bedeutung für die Entwicklung des deutschen Dramas. Herder resümierte die Entwicklung folgendermaßen:
Daher sind von den Engländern selbst ihre trefflichsten Schriften kaum mit so reger, treuer Wärme aufgenommen worden, als von uns Shakespeare, Milton, Addison, Swift, Thomson, Sterne, Hume, Robertson, Gibbon aufgenommen sind. Richardsons drei Romane haben in Deutschland ihre goldene Zeit erlebet; Youngs Nachtgedanken, Tom Jones, Der Landpriester haben in Deutschland Sekten gestiftet; in englischen Zeitschriften haben wir bewundert, selbst was wir nicht verstanden, was für uns nicht geschrieben war. Und wer wäre es, der die Schotten Ferguson, Smith, Stewart, Millar, Blair nicht ehrte?75
Die Epochen der Rezeption verkörpern ganz unterschiedliche Tendenzen: Zur Propagierung von Vernunft und Maß in einer frühen Phase tritt die Auseinandersetzung mit dem Problem religiöser Literatur in der Phase ihrer Säkularisierung. Die Vernunft wird durch das Gefühl vertieft, England steht mit der Betonung der Einsamkeit und der Gräber auch für die Nachtseiten der Aufklärung. Ossian schließlich ist eher einer Strömung der Vorromantik zuzuordnen als den Haupttendenzen der Aufklärung.
Buchhandel als Medium des Kulturtransfers
In älterer Zeit waren Bücher aus England lateinische Bücher. Im Laufe des 18. Jahrhunderts, vor allem in seiner zweiten Hälfte, vertrieben deutsche Buchhändler aber auch mehr und mehr Bücher in englischer Sprache. Die Führung übernahmen dabei die Leipziger Firmen Wendler, Weidmann und Reich sowie der in London ansässige Buchhändler Carl Heydinger, in deren Sortiment Werke aus England eine gewisse Rolle spielten. Ab etwa 1770 kann von verstärkten englischen Buchimporten gesprochen werden.76 Zur wissenschaftlichen Literatur und den Reiseberichten traten im Zeitalter der Anglophilie vor allem Romane hinzu, aber auch historische Werke. 1788, auf dem Höhepunkt der Anglophilie, gingen deutsche und Schweizer Verleger dazu über, eigene Ausgaben englischer Literatur herauszubringen bzw. nachzudrucken. Vor allem Thurneysen in Basel machte sich damit einen Namen, aber auch Richter in Altenburg und Walther in Dresden.77 Eine neue Qualität wurde ebenfalls 1788 durch die Gründung der ersten englischen Buchhandlung auf dem Kontinent durch William Remnant in Hamburg erreicht.78 Nun konnte man mit geringer Mühe und zu erschwinglichen Kosten beliebige Bücher aus England bestellen. Zeitschriften waren hier wichtige Mittler – nicht nur durch ihre Aufsätze, sondern auch durch ihre Rezensionen und Buchanzeigen.79 Englandorientierte Buchhändler und Schriftsteller ließen sich Zeitschriften aus England selbst kommen. Außerdem rückten die Göttingischen Gelehrten Anzeigen mit ihrer breiten Rezensionstätigkeit in eine wichtige Vermittlungsposition, weil man in Göttingen über englische Bücher schneller und in größerem Umfang verfügte als anderswo. Der Anteil der englischsprachigen Bücher machte in diesem Organ durchschnittlich zwischen fünf und zehn Prozent aus, im Jahrgang 1769 beispielsweise 53 Titel.80 Eine vergleichbare Quote wurde in keiner anderen deutschen Zeitschrift erreicht.
Übersetzung als Kulturtransfer
Zum Transfer von Ideen lässt sich bemerken, dass in den frühen Jahrzehnten oft englische Schriften in Deutschland erst dann bemerkt wurden, wenn sie zuvor ins Französische übersetzt oder in französischen Zeitschriften besprochen worden waren.81 Teilweise wurden englische Werke (etwa im Bereich der Philosophie, Theologie oder Medizin) für ein europäisches Publikum ins Lateinische übersetzt. Hinzu kommt die Vermittlungsfunktion der Holländer: Manches erreichte Deutschland erst, nachdem es zuvor in Holland nachgedruckt, ins Holländische übersetzt oder in holländischen Zeitschriften besprochen worden war.82 Die Rezeption englischer Schriften in Europa wurde insgesamt von Hugenotten befördert: in England selbst, in Holland, in Deutschland. Mit den Hugenotten wird eine transferfördernde Elite kenntlich, die nicht nur über internationale Verbindungen verfügte, sondern auch aus theologischen und ideologischen Gründen Englisches propagierte.83 Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass Übersetzungen aus zweiter Hand84 allmählich durch originale Übersetzungen aus dem Englischen verdrängt wurden, dass das Bewusstsein für diese Problematik auch beim Lesepublikum zunahm und dass im späteren 18. Jahrhundert mit der Entwicklung der deutschen Literatursprache auch das Bedürfnis entstand, ältere Übersetzungen ins Deutsche durch Neuübersetzungen derselben Werke diesem Stand anzupassen.
Das aus dem Englischen in Deutsche übersetzte Schrifttum lässt sich durch zwei Tendenzen charakterisieren: Diversifikation und Akzeleration.85 Die seit den 1770er Jahren allgemein gewordene Anglophilie führte dazu, dass immer mehr Schriften aus immer mehr Lebensbereichen übersetzt wurden, neben Belletristik und wissenschaftlicher Fachliteratur auch ein ganzes Segment an Ratgeberliteratur. Die empirische Tendenz des englischen Geistes schlug sich in einer besonderen Hochschätzung der Sachliteratur englischer Verfasser nieder, denen man eine unverstellte Beobachtungsgabe zuschrieb. So wurden die Reiseliteratur und auch die medizinische Fachliteratur besonders eifrig übersetzt.
Dabei kam es durchaus zu Akzentverlagerungen, wenn etwa John Locke (1632–1704) weniger als Philosoph und mehr durch seine pädagogische Schrift Erfolg hatte oder David Hume (1711–1776) eher als Historiker denn als Philosoph rezipiert wurde.86 Auch hat man nachweisen können, dass die Übersetzung politischer Schriften durchaus einem Anpassungsprozess an die Zielkultur unterlag, der zuweilen Missverständnisse beinhaltete.87
Vielbeschäftigte Übersetzer aus dem Englischen ins Deutsche waren im 18. Jahrhundert Theodor Arnold (1683–1771), Ludwig Friedrich Vischer (1677–1743), Barthold Hinrich Brockes (1680–1747), Johann Joachim Eschenburg (1743–1820), Johann Joachim Christoph Bode (1730–1793), Siegmund Jacob Baumgarten (1706–1757), Christian Friedrich Samuel Hahnemann (1755–1843), Christian Friedrich Michaelis (1754–1814), Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius (1754–1827), Friedrich August Adrian Diel (1756–1833), Johann Lorenz Benzler (1747–1817), Carl Grosse (1768–1847), Johann Reinhold Forster (1729–1798) und Georg Forster sowie Christian Garve (1742–1798).88
Während sich die Bandbreite des englischen Schrifttums vergrößerte, beschleunigte sich die Übersetzungstätigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Statt mehrerer Jahre zwischen Originalpublikation und Übersetzung war es nun oft nur noch eines; ja, es lassen sich nicht wenige Schriften nennen, die im selben Jahr in Deutschland bereits übersetzt herauskamen. Die Schnelligkeit in der Übersetzung entwickelte sich unter den immer härter werdenden Wettbewerbsbedingungen zwischen den Verlegern und Übersetzern. Übersetzungen aus dem Englischen nahmen seit den 1740er Jahren zu; ihren Höhepunkt erreichten sie in den beiden Jahrzehnten vor 1789.89
Ein Ende der Anglophilie?
Die Blütezeit der Anglophilie endete mit der Französischen Revolution. Namhafte Vertreter der Anglophilie wie Archenholtz oder Wendeborn wandten sich von ihrem Englandideal ab und sahen nun, zumindest in der Frühphase der Französischen Revolution, menschheitliche Freiheits- und Gleichheitsbestrebungen eher in Frankreich Wirklichkeit werden.90 Freilich gab es auch Anglophile wie Justus Möser (1720–1794) oder Sophie von La Roche, die ihrem Englandideal treu blieben, ja, sich durch die Entwicklung in Frankreich eher darin bestätigt sahen, dass England eben doch die vernünftigere, stabilere, harmonischere Tendenz verkörpere. Anglophilie war deshalb nach 1800 nicht mehr eindeutig eine Angelegenheit der Fortschrittlichen und Liberalen, sondern wurde teilweise zu einem restaurativen Ideal der Konservativen, die sich an Edmund Burke (1729–1797) orientierten (Friedrich Gentz (1764–1832), Adam Müller (1779–1829) u.a.).91