Germanias philologische Wiege
Es dürfte im 15. Jahrhundert alles andere als leicht gewesen sein, die unzähligen, bis 1806 im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zusammengefassten Territorien unterschiedlichster Größe und Verfasstheit als nationale Entität zu begreifen. So zeigen die frühesten gedruckten Karten gegen Ende des 15. Jahrhunderts keinerlei Ländergrenzen, sofern sie nicht in Küsten oder Flussläufen bestanden. Die für sich betrachtet oft ohnehin unscharfen Binnengrenzen wurden zudem von einem komplizierten, in Jahrhunderten gewachsenen Netzwerk geistlicher Zuständigkeiten überlagert – daraus ergab sich ein ständiger Widerstreit unendlich vielfältiger Partikularinteressen.1
Doch trugen daneben auch andere Umstände zur äußerst heterogenen, tendenziell eher defizitären Ausgangslage der Narration von der "Germania" bei: das weithin beklagte Fehlen einer breiteren antiken Quellengrundlage für eine Frühgeschichte der Deutschen;2 die supranationalen genealogischen Verflechtungen der europäischen Herrscherhäuser bis hinab auf eine gemeinsame biblisch-mythische Frühzeit;3 der universale Rom-Bezug in allen Glaubensfragen während der Jahrhunderte vor der Reformation; das Postulat eines "Reichs-Italien", das unter Maximilian I. (1459–1519) wieder verstärkt bemüht wurde; und schließlich und ganz besonders das Barbaren-Verdikt der Italiener über Deutschland und seine Bewohner.
Schon diese drei letzten Aspekte deuten an, was sich auch beim Blick auf die Einzelheiten bestätigt: Italien, Ursprungsland von Humanismus und Renaissance, spielte bei der Entwicklung des "Modell Germania" eine ebenso tragende wie vielschichtige Rolle. Dies beruhte zunächst auf der einfachen Tatsache, dass die italienischen Universitäten Bologna, Ferrara, Padua oder Pavia zu den bevorzugten Studienorten der ab etwa 1450 greifbaren deutschen Frühhumanisten gehörten, die bei der Ausarbeitung und Verbreitung des "Modell Germania" maßgeblich waren.4 Doch schlug zur gleichen Zeit Enea Silvio Piccolomini (1405–1464)[]5 – als Pius II. (1458–1464) einer der gelehrtesten Köpfe auf dem Papstthron – gewissermaßen den umgekehrten Weg ein, nachdem er zuvor in den Diensten Kaiser Friedrichs III. (1415–1493) gestanden hatte. Er war es, der den Blick für eine vormittelalterliche deutsche Frühgeschichte schärfte. Hier war es vor allem seine – wenngleich nicht durchweg positiv argumentierende – Erarbeitung der um 100 n. Chr. entstandenen Germania des Publius Cornelius Tacitus (55–116/120) nach einer aus dem Kloster Hersfeld nach Rom transferierten Handschrift, die dem neuen Bedürfnis nach einer national-historischen Verortung der Deutschen endlich einen brauchbaren Anhaltspunkt gab.6 Nach der Erstausgabe in der bei den Deutschen beliebten Universitätsstadt Bologna 1472 erfolgte der erste Druck in Deutschland schon etwa 1473/1474 bei Friedrich Kreußner (gest. 1496) in Nürnberg, dessen Textgrundlage vermutlich von einem der Nürnberger Frühhumanisten direkt aus Italien vermittelt worden war.
Doch liegt der Wirkungsgeschichte der Germania vor allem jene Neuausgabezugrunde, die der berühmte Humanist Konrad Celtis (1459–1508)[]besorgt hatte. Sie erschien um 1498/1502 in Wien bei Johann Winterburger (1460–1519) im Zuge eines weiter ausgreifenden Konzepts und wurde von Celtis um seine programmatischen Dichtungen Germania Generalisund De origine, situ, moribus et institutis Norimbergae libellusangereichert.7 Noch heute mutet die Lektüre des antiken Texts in mancher Hinsicht wie eine erstaunlich genaue Vorwegnahme – und wohl auch Grundlegung – von positiven wie negativen Stereotypen eines deutschen "Nationalcharakters" an, so dass sich eine bis weit ins 20. Jahrhundert reichende Wirkungs- und Vereinnahmungsgeschichte entwickeln konnte: In einem von Tacitus als unwirtlich und karg empfundenen Land finden sich Tugenden wie Genügsamkeit, militärische Tapferkeit und Draufgängertum, Freiheitsliebe, unbedingte Treue und Aufrichtigkeit, Gastfreundschaft, Familiensinn oder Einehe, denen Faulheit und Nachlässigkeit, ausufernde Festesfreude, Spiel- und Trunksucht, eine recht primitive Landwirtschaft und Lebensführung sowie ein unterentwickeltes Gemeinwesen und Kulturleben gegenüberstehen.8 Damit übertrifft Tacitus in puncto Anschaulichkeit und Tiefenschärfe jene beiden anderen wichtigen antiken Quellen zur "Germania" deutlich, die ebenfalls während des Mittelalters präsent waren, ohne jedoch so weitreichende Wirkungen zu zeitigen. Zu nennen ist hier der sogenannte Germanenexkursaus Gaius Iulius Caesars (100–44 v. Chr.) De bello Gallico von etwa 52/51 v. Chr., der zwar summarischer ist, sich aber aus eigener Anschauung des berühmten Verfassers speist und seit 1507 auch auf Deutsch vorliegt.9 Ferner vermittelt die Karte der Magna Germania, also des nichtrömischen Teils Germaniens, eine als authentisch empfundene, antike Vorstellung von der "Germania". Sie wurde von dem offenbar deutschstämmigen Donnus Nicolaus Germanus (ca. 1420–ca. 1490), dem Herausgeber der Cosmographia des Claudius Ptolemaeus (ca. 100–ca. 178 n. Chr.), für deren seit 1467 erfolgende Drucke entworfen.10
Anfang des 16. Jahrhunderts wurden die erwähnten Texte von Tacitus und Caesar bei geschärfter Wahrnehmung von wichtigen Kernaussagen rezipiert: Diese waren die deutliche Scheidung, die Caesar zwischen Germanen und Galliern traf, und die ausdrückliche und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein als verbindlich empfundene Kontinuität von den Germani hin zu den frühzeitlichen Deutschen.11 Hinzu trat die von Tacitus positiv beantwortete Frage nach der Indigenität der Germanen, wonach diese seit jeher die heimatlichen Gefilde bewohnt hätten und auch niemals von dort vertrieben worden seien. Dies wiederum ließ sich nun leicht dahingehend deuten, dass die Germanen auch niemals besiegt worden waren.12
Konrad Celtis zwischen Barbarenverdikt und "Stolzarbeit"
Was sich bereits auf dem Konstanzer Konzil von 1414 bis 1418 andeutete und was auch den Angehörigen der landsmannschaftlichen nationes Germanicae an den italienischen Universitäten zusehends missfiel,13 wuchs sich bis gegen 1500 zu einem regelrechten Politikum aus: die stereotyp abfälligen Äußerungen italienischer Intellektueller über fehlende Kultur, dunkle Vergangenheit, habituelle Rohheit und mangelnde Bildung der Deutschen.14 So wurde es unter Federführung von Konrad Celtis, der führenden Gestalt des nun auch in Deutschland aufblühenden Humanismus, zu einem zentralen Anliegen, hier "Stolzarbeit"15 zu leisten, also Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Dies gilt für jene "zweite Generation" von Humanisten zwischen 1490 und 1530, die nun das alte "italienische Barbarenverdikt zur absichtlichen Ehrverletzung ummünzte" und daraufhin literarisch zur "nationalen Abwehr" überging.16
Diesen Weg hatte 1493 – noch ohne beleidigten Furor – bereits eine der berühmtesten deutschen Inkunabeln überhaupt, der Liber chronicarum (Schedelsche Weltchronik)des Nürnberger Arztes und Humanisten Hartmann Schedel (1440–1514) beschritten.17 So ist etwa der lange Abschnitt über Venedig voller Bewunderung für die Welthandelsmetropole, doch ebenso vergisst Schedel nicht zu erwähnen, dass die deutsche Stadt Trier nach Jerusalem, Babel und Ninive – und lange vor Rom – als eine der ältesten der Welt zu gelten habe.18 Hingegen sucht man gerade dort, wo man es antreffen müsste, eine Betonung des "Nationalen" vergebens: Die doppelseitige Weltkarte, die Schedel seinen Lesern zu Beginn an die Hand gibt, verzeichnet Deutschland schlicht und ohne jede Hervorhebung als "Saxonia", synonym mit dem damals größten unter den deutschen Stämmen.
Erst jene Deutschlandkarte, die Hieronymus Münzer (1437–1508) im Rückgriff auf Nikolaus von Kues (1401–1464) gegen Ende des Werks beisteuert, schafft hier größere Klarheit.19 Ohne das italienische Barbarenverdikt explizit zu nennen, sucht er es durch ein ebenso einfaches wie letztlich unüberprüfbares Historisierungskonzept zu entkräften: Die Nobilitierung der Deutschen in ihren Sitten und Gebräuchen sei
... durch nichts anderes als durch die Annahme des christlichen Glaubens erfolgt. Denn der christliche Glaube hat von den Deutschen alle barbarische Grobheit vertrieben und die Deutschen so geadelt, dass jetzt die Griechen grob und die Deutschen mit Recht lateinisch genannt werden.20
Hier also wird die Läuterung nicht dem Fortschreiten geistiger Erkenntnis oder den bildungsreformerischen Ansätzen der Gegenwart – und schon gar nicht ihren italienischen Ursprüngen – zugeschrieben, sondern ihr wird mit dem mythisch weit zurückliegenden Vorgang der Christianisierung der Glanz uralten Herkommens verliehen.
An diesen Punkt knüpfte Konrad Celtis an, als er mit dem Nürnberger Albrecht Dürer (1471–1528) den alsbald berühmtesten deutschen Künstler und Theoretiker für den programmatischen Holzschnitt Philosophiain seinen Quatuor libri amorum (Vier Bücher Liebeselegien)gewann. In diesem konkretisiert sich auf das Äußerste verdichtet diese legendenhafte, ideologisch aufgeladene Spielart von Wissenstransfer, die unter dem Begriff der translatio studii Bedeutung erlangte.21 Es ist im Übrigen eines der wenigen Beispiele, bei dem sich die direkte Einflussnahme eines Humanisten auf eine elaborierte Bilderfindung quellenmäßig belegen lässt. Dürers Schaubild beschreibt – neben vielem anderen – in vier Medaillons knapp den historischen Weg der Übermittlung philosophischer Inhalte: von den alten Ägyptern über die Griechen und Römer auf die Deutschen, vertreten durch den berühmten Universalgelehrten Albertus Magnus (ca. 1193–1280).22 Dieser galt aufgrund seiner alchemistischen Kenntnisse – in Konkurrenz zu dem fiktiven Freiburger Franziskaner Berthold Schwarz – als Erfinder des Schießpulvers. Tatsächlich war keiner der beiden der Erfinder des Schießpulvers, aber diese Erfindung galt neben derjenigen des Drucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg (ca. 1400–1468) in der alten Römerstadt Mainz als epochaler Beitrag der Deutschen zur abendländischen Kulturgeschichte. Darin wird zugleich nicht nur das politische, sondern auch das technische Anknüpfen an antike Glanzleistungen veranschaulicht.23
Diese Thesen wurden auch in einem weiteren Holzschnitt auf das Äußerste komprimiert dargestellt, der sich ebenfalls einer Anregung Konrad Celtis' verdankte: Hans Burgkmairs (ca. 1500–vor 1562) "Reichsadler"-Holzschnitt zeigt ein nationales Bildungsprogramm unter der Schirmherrschaft des "neuen Apoll" Kaiser Maximilian I.24 Allerdings ist das Bild nicht ausdrücklich auf "Deutschland" und seine Bewohner im engeren Sinne, sondern eher auf den Kaiser selbst, seine Wiener Universität und das Reich zugeschnitten, und so tritt letztlich der nationale Aspekt hinter einem eher abstrakt-staatsmäßigen zurück.
Auch war es Celtis gewesen, der mit dem Projekt einer poetischen Deutschlandbeschreibung, die sich als "Leitmotiv" durch sein gesamtes Schaffen zog,25 insofern weit über alle greifbaren Quellen hinausgegangen war, als er in seinen Liebeselegien diese geographische Entität nun symbolisch auflud und damit einer höheren Deutung den Boden bereitete: Aus vier Teilen bestehe die Germania, und genau in der Mitte liege der Fichtelberg, von dem aus sich die vier Hauptströme Deutschlands nach allen Himmelsrichtungen ergössen.26 Indem er seine fiktiven Geliebten in allen Landesteilen elegisch besingt, emotionalisiert er indirekt auch sein Verhältnis zu diesen Gegenden selbst und schafft damit eine Huldigung an etwas, das bislang kaum preiswürdig erschienen war: das "Land", in dem er geboren war und das er vielfach durchwandert hatte, in dem er lebte und segensreich zu wirken gedachte. Wenn es also so etwas wie die Geburtsstunde einer Heimatliebe gab, die über das subjektiv-emotionale "Vaterland" des unmittelbaren Ortes der eigenen Geburt und Kindheit hinausging, dann ist sie wohl in Celtis' Quatuor libri zu sehen.
Maximilian I., das "Heilige Römische Reich" und die "Germania"
Anders als in Italien, wo mit den klassischen Inhalten auch die antikisierende Form – namentlich in Architektur und bildender Kunst – einherging, waren in Deutschland Humanismus und Antikenrezeption stärker philologisch, aber auch politisch geprägt: Denn wer im Reich die römische Blütezeit unter Caesar oder Augustus (63 v. Chr.–14 n. Chr.) allegorisch heraufbeschwor, benannte damit zugleich das Exemplum für die hochgespannten Erwartungen, die sich mit der Regentschaft Kaiser Maximilians I. verbanden. Sie betrafen das erhoffte Aufblühen der Wissenschaften und Künste und die erwünschte Führungsrolle des deutsch-römischen Kaisers unter allen christlichen Königreichen. So wurde Maximilian zeit seines Lebens die bevorzugte Projektionsfläche für die national-patriotischen Hoffnungen seines engeren und weiteren intellektuellen Umfelds: Bereits vor 1500 zeigt ihn ein Huldigungsblatt des Regensburger Humanisten Janus Tolophus (1429–1503) als "Hercules Germanicus".27
Wie sein gelehrtes Umfeld hatte auch der Kaiser zeitlebens eine äußerst ambivalente Beziehung zu Italien, die sich stark widerstreitenden Erfahrungen verdankte: Trotz aller Misserfolge kämpfte er dort vehement um seinen und des Reiches Einfluss. Auch wenn das sogenannte regnum Italicum oder "Reichsitalien" – also der von den Herrschern des Heiligen Römischen Reiches beanspruchte Teil Italiens – als politisches Phänomen eher dem Hochmittelalter angehörte,28 blieb es für Kaiser Maximilian vor allem nach der Hochzeit mit der Mailänder Herzogstochter Bianca Maria Sforza (1472–1510) im Jahr 1494 präsent. Der Anspruch auf jene Italia, quae mea est ("mein Italien"), trat besonders im Ringen mit dem Papsttum und Venedig um den 1508 endgültig gescheiterten Romzug und in den Kämpfen um das Reichslehen Mailand zutage.29
Dabei ist zu betonen, dass Maximilian die Interessen des Hauses Habsburg mit jenen des Reiches – oft zum Nachteil des Letzteren – unauflöslich vermengte und dabei keineswegs einer erkennbaren, stringenten Ideologie folgte, schon gar keiner, die als national bezeichnet werden könnte. Vielmehr speiste sich die Darstellung der eigenen Überlegenheit aus der Würde seines durch Iulius Caesar begründeten Amtes sowie – oft in engster Verschränkung damit – aus der als urzeitlich wahrgenommenen Abkunft des Hauses Habsburg. So ließ er seine politischen, dynastischen und militärischen Ziele durch Sekretäre, Poeten und Künstler mit der jeweils zweckmäßigen ideellen Einkleidung versehen.30
Dabei kamen entscheidende Impulse aus dem Elsass, einem Landstrich, in dem die dynastischen Interessen des Kaisers mit jenen des Reiches in etwa deckungsgleich waren und dessen Herrschaft Maximilian als "Landgraf im Elsass" seit 1490 innehatte.31 Anders als die nur lose und immer schwächer mit dem Reich verbundenen Grenzterritorien der habsburgischen Niederlande, Kur-Böhmens oder der Schweiz war das Elsass ein Gebiet, das aufgrund der ständigen Bedrohung durch burgundische, später französische Ansprüche als ausgesprochen "reichisch" dargestellt wurde. Das Elsass war außerdem die "patria" bekannter Historiographen und Literaten wie Jakob Wimpfeling (1450–1528) oder Sebastian Brant (1457/1458–1521).32 Wimpfeling ist besonders hervorzuheben – er verfasste mit seiner Germania, die 1501 in Straßburg auf Lateinisch und Deutsch als Teil eines Sammelwerks erschien,33 ein frühes Standardwerk nationaler Geschichtsschreibung, dessen Stoßrichtung in erster Linie antifranzösisch war.34
Dürer und Hutten: Ein vergleichender Ausblick
Es wäre zu einfach, von den Jahrzehnten um 1500 einen Bogen zum Hypernationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts zu schlagen,35 denn schon bald schuf die Reformation mindestens zwei einander entgegengesetzte Wertesysteme, innerhalb derer das Moment des Nationalen vor allem auf evangelischer Seite instrumentalisiert wurde. Dies heißt aber keinesfalls, dass nicht zahlreiche Einzelmotive und Narrative über alle kulturgeschichtlichen Wandlungen hinweg erkennbar blieben. Kaum ein Phänomen zeigt dies deutlicher als die Figur des Künstlers und Theoretikers Albrecht Dürer, und auch in seinem Fall stellt Italien – für ihn selbst wie für seine späteren Bewunderer – einen der wesentlichen Reibungspunkte dar. Dies hängt vor allem mit der Tatsache zusammen, dass im Bereich der bildenden Künste italienisches Formengut in Deutschland allgemein nur sehr zögerlich und meist in einer auf das heimische Stilempfinden zugeschnittenen "Beugungsform" Einzug hielt. Diese verstand sich jedoch auch als Synthese und Übertreffung des Vorgefundenen und lässt nicht zuletzt die Interpretation als bewusste Absage an die Einflüsse der italienischen Renaissance zu.36
Diese Überlegung besitzt für die Zeit bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts durchaus Plausibilität. Für die darauffolgenden Jahrzehnte muss sie jedoch relativiert werden, da sich seit 1550 – weit über die Kunstgeschichte hinauswirkend – dann doch zunehmend das "Renaissance-Modell" des italienischen Malers und Literaten Giorgio Vasari (1511–1574) als Großerzählung etablierte. Es propagierte mit großem, erst seit neuerer Zeit kritisch beleuchtetem Erfolg die Narration von der Unterbrechung der kulturellen Überlieferung der Antike durch das sinistre, "gotische" Mittelalter und von ihrer glorreichen, allem anderen überlegenen Wiederbelebung in Florenz.37 Tatsächlich aber war keiner der deutschen Künstler aus der Generation Dürers – einschließlich Dürers selbst – jemals in Florenz oder Rom gewesen. Und gerade bei ihm sind es weniger direkte formale als kunsttheoretische Anregungen, die er vor allem durch seinen zweiten Aufenthalt in Venedig (1505–1507) empfangen hatte. Hier – und nur hier – signierte er tatsächlich einmal als Albertus durer germanus38 und betonte damit zunächst seine deutsche Herkunft im Sinne der humanistischen Freunde Brant und Celtis, zugleich – und dies war ihm wohl das wichtigere Anliegen – demonstrierte er aber auch die aktive Teilhabe am intellektuellen Diskurs der Zeit.39
So konnte es zu der erstaunlichen Tatsache kommen, dass vor dem Aufstieg Martin Luthers (1483–1546) zur nationalen Identifikationsfigur(zumindest auf protestantischer Seite) sein Vorläufer hierin kein Herrscher, Dichter oder Theologe war, sondern eben der Künstler Albrecht Dürer. Seine Person und Werk waren bereits gegen 1500 zur Projektionsfläche eines nationalen Überlegenheitsgefühls geworden, als Celtis ihn zum "deutschen Apelles" erhoben hatte. Und nach seiner Reise durch die Niederlande 1520/1521 war er dort zum Germanorum decus (Zierde Deutschlands) verklärt worden. Dies vermeldete bis 1852 die Inschrift seiner etwa 1563 entstandenen Büstean der ehemaligen Fassade des Hauses der Antwerpener Malergilde.40 Diese Erhebung zum Vertreter "Germanias" überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass er mit allen literarischen Protagonisten der "Germania" – Celtis, Brant, Wimpfeling oder Schedel – bekannt oder befreundet war.
So stand er in kaum geringerem Maße als seine Zeitgenossen Martin Luther, Hans Sachs (1494–1576) oder Ulrich von Hutten (1488–1523) Pate, als sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts der romantische Nationalismus in Deutschland zu entwickeln begann. Während seine Figur aber spätestens seit den 1970er Jahren keine nennenswerte Rolle im zunehmend bewältigungsorientierten deutschen Nationsdiskurs mehr spielt, verdankt sein Zeitgenosse Hutten dem Ansehen, das er als Kämpfer für die Reformation, adeliger Revolutionär und Bauernfreund in der Deutschen Demokratischen Republik genoss, eine patriotische Spätblüte.41 Nach deren Ende 1990 hat somit eine der letzten patriotischen Narrationen Deutschlands, deren Träger die ersten Ausgaben von Tacitus' Germania noch selbst erlebt hatte, weitgehend ausgedient.
Als ein beinahe ironischer Epilog erweist sich dabei die Tatsache, dass "Hermann der Cherusker", einer der wichtigsten Kronzeugen des deutschen Nationalstolzes, bis weit in das 20. Jahrhundert hinein seine literarische Erweckung Hutten verdankte. In Huttens wohl gegen 1517 verfassten, doch erst postum 1528 – gemeinsam mit der Germania des Tacitus – gedruckten Arminius, wird Hermann (ca. 18 v.Chr.–21 n.Chr.) in Dialogform als Besieger der römischen Legionen und als Freiheitsheld und Inbegriff der deutschen Unbesiegbarkeit gefeiert. Hier freilich hat die neuere Forschung Hinweise darauf gefunden, dass die Schilderung des Helden in der Tradition des antiken Satirikers Lukian (120–180) vielfacher ironischer Brechung unterliegt.42