Ursprünge, Voraussetzungen, Hintergründe und Bedingungen der Idealisierung der Urkirche
Eine Idealisierung der Urkirche betrieb bereits die Apostelgeschichte. In der Urgemeinde herrschte danach ein Geist der Liebe und Einheit (Apostelgeschichte 2,46 passim; Galater 3,26–28). Aus diesem Geist heraus praktizierte man dort eine Gütergemeinschaft (Apostelgeschichte 2,45) und man war sich theologisch weitgehend einig (Apostelgeschichte 2,42) bzw. es gelang, theologische Differenzen durch einen gemeinschaftlichen Konsensbildungsprozess zu lösen (Apostelgeschichte 15 und Galater 2,1–10). Auch wenn einige als "Apostel" anerkannt wurden, so war nach diesem Bild das Zusammenleben doch von großer Egalität und Eintracht bestimmt. Die Früchte dieser Gemeinschaft bestanden unter anderem in der Stärke und Opferbereitschaft der einzelnen Mitglieder, die sich auch im blutigen Martyrium äußerten (Apostelgeschichte 6,1–6 und 7,55–60). Neben das Apostelamt traten in der Urkirche weitere Lehrer und Propheten, die sich durch ihre Charismen legitimierten, von denen die Paulusbriefe berichten (Weisheit, Erkenntnis, Glaube, Prophetie, Krankenheilungen, Wundertaten, Geisterunterscheidung, Zungenrede und Auslegung der Zungenrede).
Auf ein solches Bild beziehen sich alle weitergehenden Idealisierungen, die in der Neuzeit vorgenommen wurden, wobei meist einzelne Elemente, wie z.B. die Gütergemeinschaft oder das Fehlen einer etablierten Institution, besonders hervorgehoben wurden. Unterschiede finden sich auch in den Vorstellungen von der weiteren Entwicklung des Christentums oder der Gesellschaft, mit denen dieses Bild kontrastiert wurde (siehe unten).
Wichtigste Voraussetzung für das Funktionieren dieses Prozesses der Weitergabe und Funktionalisierung von Idealisierung war die Emanzipation von der absoluten überzeitlichen Autorität der zeitgenössischen Papstkirche, die im Armutsstreit des Mittelalters den Wirkungen der Idealisierung der Urkirche noch erfolgreich hatte entgegentreten können,1 auch wenn es dem Papsttum schon im 13. und 14. Jahrhundert nicht mehr gelang, die Diskussion völlig zu unterdrücken. In der vom bayerischen Hof unter Ludwig IV. (1281/1282–1347) aus geführten publizistischen Debatte der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts etwa, an der unter anderem Wilhelm von Ockham (1285–1347) beteiligt war, spielte das idealisierte Bild von der Gütergemeinschaft der Urkirche bemerkenswerterweise nur eine untergeordnete Rolle. Stattdessen ging es bei den Auseinandersetzungen im Franziskanerorden um die Form der anzustrebenden asketischen Vollkommenheit, während die Position des Theologen und Philosophen Wilhelm von Ockham von Fragen wie der nach der Widerspruchsfreiheit, der göttlichen Omnipotenz (inklusive dem ius divinum) und der weltlichen Kontingenz (dazu gehörte für ihn auch das ius canonicum und die päpstliche Gesetzgebung) geprägt war.2 Auch die Appellationen des bayerischen Königs argumentierten juristisch bzw. rechtsphilosophisch, ohne die Ideale der Urkirche weiter auszugestalten, wie man es vielleicht hätte annehmen können.3
Erst im Zusammenhang mit der Erschließung der relevanten neutestamentlichen Texte für breitere Schichten im Zusammenhang mit der Reformation fanden sich erste weiter ausdifferenzierte Idealisierungen der Zustände in der christlichen Urgemeinde (John Wyclif (1326–1384)).4 Der Begriff der ecclesia primitiva geht dabei von einer gewissen Kontinuität zwischen den zeitgenössischen Kirchenwesen und der ersten Gemeinde aus. In den reformatorischen Kirchen bezog man sich vor allem auf das Ideal der rechten, weil unverfälschten Lehre; die tridentinische Kirche dagegen erhielt ihr Selbstbewusstsein unter anderem aus der Tatsache, vorläufiger Endpunkt der seitherigen kirchlichen Entwicklung zu sein, während die evangelischen Reformbewegungen des 17. und 18. Jahrhunderts eine "Vollendung" der Reformation nach dem Ideal der Urkirche forderten. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts setzte sich der Begriff der "Urgemeinde",5 des "Urchristentums" oder der "Urgeschichte des Christentums"6 gegenüber dem der ecclesia primitiva durch.7 Damit wurde nun der "gesamte Zusammenhang der ersten christlichen Gemeinden und ihrer Entwicklungslinien"8 in den Blick genommen, auf die sich die im Präfix "Ur-" enthaltene theologische und geschichtsphilosophische Wertung bezieht. Stärker als zuvor stand jetzt auch begrifflich das Urchristentum im Gegensatz zu den späteren Kirchen, die dem eigentlichen "Wesen" des Christentums nach dieser Auffassung nie wieder nahegekommen waren.9 Voraussetzung hierfür war die Idee eines "Ursprungsgedankens", wie er von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Johann Gottfried von Herder (1744–1803) und Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) in verschiedenen Ausrichtungen entwickelt worden war.10 Hinzu kam das Programm der historischen Erforschung des Christentums, wie es vor allem die Neologie in Deutschland herausgebildet hatte, mit dem Ziel, die ursprüngliche und reine Lehre Jesu und der Apostelgemeinde mit Hilfe der philologisch-historischen Exegese zu rekonstruieren.11
Interaktion zwischen dem Ausgangssystem "Urkirche" und unterschiedlichen Idealvorstellungen im 16.–20. Jahrhundert
Die Idealisierung der Urkirche war in der Regel Teil einer Argumentationsstruktur, mit der theologische, soziale, politische, rechtliche und andere geistige oder materielle Anliegen befördert werden sollten, indem den gegenwärtigen Zuständen das als ideal wahrgenommene Leben und Denken der frühesten christlichen Gemeinde zur Zeit der Jerusalemer Apostel gegenübergestellt wurden. Wenn erstens methodisch eine solche Idealisierung z.B. die Anerkennung einer "apostolischen" Autorität der Leiter der Urgemeinde voraussetzte, dann handelte es sich um eine Spezialform des Väterbeweises.12 Zweitens konnte eine duale Sicht der Kirchen- und Theologiegeschichte dahinterstehen, in deren Rahmen die ursprüngliche Rechtgläubigkeit mit erst später entstandenen Häresien kontrastiert wurde. Drittens konnte eine Verfallstheorie bzw. ein Dekadenzmodell vorausgesetzt werden, so dass den idealen ursprünglichen Zuständen die späteren Entwicklungen als Verfall gegenübergestellt wurden. Viertens findet sich auch ein Entwicklungsschema: Aus dem ursprünglichen einfachen "Kern" des Christentums habe sich, so der Gedanke, eine Vielfalt unterschiedlicher Denkweisen herausgebildet, von denen einige mehr, andere weniger gut den Ursprung bewahrten. Fünftens begegnet in der jüngeren Geistesgeschichte der Versuch, die Urgemeinde positiv als ein "Modell" für gelungene innergemeindliche Konfliktlösungen, für dogmatische Entscheidungen oder für Inkulturation darzustellen. Diese unterschiedlichen Interaktionstypen sollen im Folgenden kurz behandelt werden.
Die Idealisierung der Urkirche als Traditionsbeweis
Die Alte Kirche und die Theologie des Mittelalters kannten im Wesentlichen drei Säulen, die als Kriterien der wahren Tradition weithin anerkannt waren: consensus, universitas und antiquitas, also die allgemeine Übereinstimmung, wie sie von Synoden und Konzilien herbeigeführt wurde, die kirchenweite Verbreitung und die "Althergebrachtheit". Im Zweifel, so die Überlegung, sei derjenigen Lehre zu folgen, die sich bereits bei den Vätern und Aposteln findet, weil sie näher am Ursprung sind und damit die Kontinuität der ursprünglichen Wahrheit verbürgen.13 Dieser Altersbeweis ist in der gesamten mittelalterlichen Theologie für die Herstellung theologischer Plausibilität grundlegend. Durch die Umbrüche seit der Mitte des 15. Jahrhunderts geriet diese Plausibilität unter Druck: Traditionsbeweise ließen sich nun anhand gedruckter Quellen leicht falsifizieren.14 Die Idee eines geistesgeschichtlichen Fortschritts, wie er in der Renaissance begegnete, stellte den Traditionsbeweis grundsätzlich in Frage. So kam es zu einer Krise des Väterbeweises. Davon war lediglich die apostolische Autorität der Protagonisten der Urgemeinde weitgehend ausgenommen – ein Sachverhalt, der nur mit den Besonderheiten des reformatorischen Denkens zu erklären ist. Einerseits führten die Reformatoren die Autorität der neutestamentlichen Schriften in diesem Zusammenhang gerade gegen die der Kirchenväter erfolgreich ins Feld (sola scriptura). Andererseits gab die Fortentwicklung der philologischen und historischen Disziplinen seit dem Zeitalter des Humanismus Anlass zu hoffen, mit ihrer Hilfe die Wahrheiten der ecclesia primitiva erheben zu können. Dies ist Voraussetzung für die Rolle, die die Idealisierung der Urkirche in den folgenden Jahrhunderten spielen sollte.
Die Idealisierung der Urkirche als Teil einer dualen Sicht der Kirchen- und Dogmengeschichte
Der Traditionsbeweis bezog sich seit der Entstehung des christlichen Kanons im 2. Jahrhundert auf das traditionelle dualistische Schema vom Antagonismus zwischen "ursprünglicher" Orthodoxie und späterer Häresie. Ketzerkataloge, Häresielisten und Aufstellungen orthodoxer Kirchenlehrer gehörten zum Grundinstrumentarium theologischer Arbeit. Die Urgemeinde stand gedanklich dabei stets an der Spitze der Rechtgläubigkeit repräsentierenden Autoritäten, was wiederum eine Idealisierung der Urkirche sowohl zur Voraussetzung als auch zur Folge hatte. Beförderte dies bis ins 19. Jahrhundert hinein die historische Erforschung der Urgemeinde, so wurde dieses Modell spätestens im 20. Jahrhundert als problematisch empfunden.15 Während jedoch bereits Gottfried Arnold (1666–1714)[] an der Wende zum 18. Jahrhundert eine großangelegte Ketzerrehabilitation in Angriff genommen hatte und die duale Sicht der Kirchen- und Dogmengeschichte als ein Konstrukt der institutionalisierten Kirche entlarven wollte, behielt ein idealisiertes Bild der Urkirche bis in die neueste Zeit ihre Anziehungskraft. Erst die erkenntnistheoretische Subjektivierung des Wahrheitsbegriffs durch Philosophie und Religionssoziologie des 20. Jahrhunderts stellte auch dieses nachhaltig in Frage.16
Die Idealisierung der Urkirche als Teil einer Verfallstheorie des Christentums
Eine milde Form der bereits im Mittelalter zu erhebenden Verfallstheorie des Christentums17 wurde auch von den Reformatoren vertreten und fand erstmals eine wissenschaftliche Ausgestaltung in den Magdeburger Zenturien (1559–1574).18 Dabei handelte es sich um den ersten, durch ein Autorenkollektiv durchgeführten und in einzelne Loci und Jahrhunderte (Zenturien) gegliederten Versuch einer umfassenden historiographischen Erfassung der Geschichte des Christentums nach der Reformation.19 Die Idealisierung der Urkirche in den Loci der ersten Zenturie ist dabei Referenzpunkt für die testes veritatis (Wahrheitszeugen), in deren Abfolge sich die Kirchen der Reformation einreihten.20 Auch unter den Denkern der tridentinischen Kirche findet sich eine solche milde Verfallstheorie. So entwirft etwa der französische Jesuit Denis Pétau (1583–1652) ein Idealbild der Urkirche, von dem es bereits in der Antike zahlreiche Abweichungen gegeben habe (von denen er einige freilich auch positiv werten kann), die auf den Einfluss des Hellenismus zurückzuführen seien.21 Eine verschärfte Form dieser Verfallstheorie vertraten, allerdings stark fokussiert auf das trinitarische "hellenistische" Dogma, die Sozinianer mit ihrer antitrinitarischen Bewegung, die sich im 17. Jahrhundert rasch in Europa ausbreitete.22
Mit der Kirchengeschichtsschreibung des lutherischen Pfarrers Gottfried Arnold kam es zu einem Paradigmenwechsel in der Idealisierung der Urkirche. Bereits der Umfang der Ausgestaltung der "wahren Gemeine" in seinen Schriften markiert eine neue Dimension dieser Idealisierung (siehe unten).23 Entscheidender war, dass mit Arnolds Unpartheyische[r] Kirchen- und Ketzer-Historie24 die bisherigen Interaktionsmodelle nachhaltig abgelöst wurden durch eine Theorie, die entweder als lineare Verfallstheorie oder als zyklische Dekadenztheorie ausgestaltet werden konnte und die in der Regel der dualen Sicht der Kirchengeschichte und dem Traditionsbeweis polemisch entgegentrat: Die normative Frühzeit endete danach mit der Urkirche, die Kirchenväter repräsentierten bereits eine Abkehr von den reinen Anfängen. So wurde die Idealisierung der Urkirche zum alles entscheidenden Referenzpunkt, mit dem der Verfall bzw. die Dekadenz der Zustände davor bzw. danach kontrastiert wurde. Ähnliche Gedanken finden sich bei Arnolds Zeitgenossen Christian Thomasius (1655–1728), Samuel von Pufendorf (1632–1694), Justus Henning Boehmer (1674–1749) und Johann Michael von Loën (1694–1776). Unmittelbar abhängig von Arnold waren Bernhard Peter Karl (1671–1723), Johann Konrad Dippel (1673–1734) und Christoph Matthäus Pfaff (1686–1760). Arnolds Idealisierung der Urkirche als ein Ort unverdorbener persönlicher Frömmigkeit der Einzelnen und der Gemeinen übernahmen später unter anderem Gerhard Tersteegen (1697–1769), Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817), Christian Eberhard Weißmann (1677–1747), August Neander (1789–1850), Winfried Zeller (1911–1982) und Walther Völker (1896–1988).
Seit diesem Paradigmenwechsel wurde es auch als eine wissenschaftliche Aufgabe begriffen, die Wahrheit der Anfangszeit hinter den Verfälschungen des späteren Christentums wieder freizulegen. Dies gilt nicht zuletzt für den liberalen Protestantismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der unter Bezug auf die Predigt Jesu und ihre Rezeption in der Urgemeinde das "Wesen des Christentums" zu beschreiben versuchte – entweder mit dem Ziel, die als vorbildlich empfundene Ethik der apostolischen Zeit als überzeitliche Wahrheit zu erfassen25 oder den eschatologischen Charakter der Urkirche deutlich zu machen.26
Die Idealisierung der Urkirche als Teil eines Entwicklungsschemas
Bemerkenswerterweise trug der erkenntnistheoretische Diskurs der Philosophie des 19. Jahrhunderts zur Attraktivität eines Idealbildes der Urgemeinde erneut bei. Im Anschluss an Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) Geschichtstheorie deutete Ferdinand Christian Baur (1792–1860) den Kampf zwischen Orthodoxie und Häresie als Dialektik, deren Ur-Ereignis die Auseinandersetzung zwischen petrinischem Judenchristentum und paulinischem Heidenchristentum gewesen sei.27 Auf diese Weise wurde ein Entwicklungsschema eingeführt, das ein idealisiertes Bild der Urkirche als den Bezugspunkt einer positiven zielorientierten Entwicklung fassen konnte. Während die diesem Modell folgende spekulative Theologie im Protestantismus langfristig nur wenig Anklang fand,28 wurde das Entwicklungsschema – unabhängig von den Hegel'schen Grundlagen – erfolgreich im Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts aufgegriffen. Die katholische Tübinger Schule übernahm zwar ebenfalls ein idealisiertes Bild des Glaubensbestandes der Urkirche, ihre Vertreter Johann Sebastian Drey (1777–1853), Johann Adam Möhler (1796–1838) und Johannes von Kuhn (1806–1887) verstanden jedoch die Differenz zu den späteren dogmatischen Entwicklungen positiv als das Ergebnis einer organischen Entwicklung. Der englische Theologe John Henry Newman (1801–1890) hat vielleicht mit der nachhaltigsten Wirkung ein solches Bild vertreten, durch das die zeitgenössische römisch-katholische Kirche als diejenige Kirche verstanden wurde, welche eine den Anfängen am meisten angemessene Entwicklung erfahren hatte.29 Auch im 20. Jahrhundert findet sich ein solch positives Entwicklungsmodell etwa bei Karl Rahner (1904–1984) und Joseph Ratzinger (*1927).30
Die Idealisierung der Urkirche als Modell für zukünftige Entwicklungen
Unabhängig von den unterschiedlichen Sichtweisen auf die Kirchen- und Theologiegeschichte wurde verschiedentlich ein ideales Bild der ecclesia primitiva in besonderen politischen oder gesellschaftlichen Umbruchsituationen eingesetzt, um ein bestimmtes politisches oder kirchenpolitisches Programm argumentativ zu untermauern. Dies gilt etwa für die Zivilkonstitution des Klerus in der französischen Revolution von 1790.31 Ein anderes Beispiel für eine solche "überzeitliche" Instrumentalisierung eines Idealbildes der Urkirche ist das Bild eines "sozialistischen Christentums", wie es Karl Kautsky (1854–1938)[] zu Beginn des 20. Jahrhunderts entworfen hat (siehe unten).32 Methodisch ähnlich gehen Teile der gegenwärtigen Theologie vor, wenn sie formale Anknüpfungspunkte an die Leistungen der Urkirche suchen, etwa die für die Missionswissenschaft angeblich beispielhafte Inkulturation fremder Kulturen (vgl. das "Apostelkonzil" Galater 2,1–10 und Apostelgeschichte 15)33 oder die exemplarische Verbindung von Lehre und Leben.34
Inhalte der Idealisierung der Urgemeinde
Inhaltlich beziehen sich diese unterschiedlichen Idealisierungen der Urgemeinde in der Regel auf vier Grundelemente, die in der Apostelgeschichte als Kennzeichen der ecclesia primitiva herausgehoben werden: 1. Das Beharren auf den Ursprüngen, sinnbildlich ausgedrückt im Bleiben in Jerusalem, der Stadt, in der nach dem Befehl des Herrn die Urgemeinde auf die Verheißung des Vaters warten soll (Apostelgeschichte 1,4). 2. Eine daraus folgende häresiefreie theologische Einheitlichkeit (Apostelgeschichte 2,42). 3. Eine weitgehend macht- und hierarchiefreie Sozialstruktur ohne Sklaverei, dafür mit gleichmäßiger Verteilung des Vermögens und Gütergemeinschaft (Apostelgeschichte 2,45). 4. Damit nur indirekt zusammenhängend eine "niedrige" Ekklesiologie ohne feste Institutionen und Hierarchien, ermöglicht durch die Präsenz des Heiligen Geistes (nach dem Pfingstereignis in Apostelgeschichte 2), die vor allem für die allseitige "Liebe" (Apostelgeschichte 2,46 passim) unter den Angehörigen der Urkirche verantwortlich gemacht wird.
Das Verharren am Ursprung
Die Urkirche faszinierte stets allein schon durch die Tatsache, dass sich nur diese Kirchengemeinschaft in unmittelbarer Nähe des Wirkens und Predigens Jesu aufhielt und dort ihren Gottesdienst feierte, nämlich in Jerusalem. Grund dafür war nach der Apostelgeschichte der Befehl des Herrn, genau dort auf die Verheißung des Vaters zu warten (Apostelgeschichte 1,4), und in der Tat geschieht das Pfingstereignis nach Apostelgeschichte 2 deshalb auch in Jerusalem. Nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 entstanden neue christliche Zentren in Antiochien, Alexandrien und Rom, was seit dem 14. Jahrhundert immer wieder mit negativen Entwicklungen (siehe unten 3.2–3.4) in Verbindung gebracht wurde. Eine solche Sicht konnte unabhängig von dem verwendeten Modell, das der jeweiligen Idealisierung der Urkirche zugrunde lag (siehe oben 2.1–2.5), auf noch sehr viel ältere Jerusalemtraditionen zurückgreifen.35 Neben den Heiligtumstraditionen,36 die mit dem Tempel in Verbindung stehen, ist hier an die gesamtisraelitischen Gottesbergtraditionen ("Zion"),37 das Motiv der Völkerwallfahrt38 und weitere Aspekte einer speziellen exilisch-nachexilischen Jerusalemer Theologie zu denken.39 Bereits in der Alten Kirche wurde dieses Material für die Vorstellung von der christlichen Gemeinde als dem "neuen Jerusalem" gebraucht40 und Teil einer christlichen Jerusalemverehrung,41 die sich von Anfang an auch in der christlichen Kunst niederschlug.42 Hierauf konnten sich auch spätere Idealisierungen der Jerusalemer Urgemeinde beziehen.
Mit diesen Vorstellungen konnte sich auch das Konzept einer "Uroffenbarung" verbinden, das in der europäischen Romantik und dem römisch-katholischen Traditionalismus als Gegenreaktion auf die rationalistische Philosophie autonomer Subjektivität entwickelt wurde.43 Der ecclesia primitiva wurde in diesen Überlegungen wiederholt ein besonders unmittelbarer Zugang zu dieser Uroffenbarung unterstellt, auch wenn sie danach prinzipiell auch in den Religionsurkunden von Heiden, Juden und anderen Völkern begegnen konnte und die Erkenntnis der Urkirche nur ein, wenn auch besonders prominentes, Glied in der Weitergabe der Tradition darstellte.
Auch im theologischen Denken des 20. Jahrhunderts spielte eine Idealisierung der Urkirche vor dem Hintergrund der Faszination des "Ursprünglichen" eine wichtige Rolle. So wurde von römisch-katholischer Seite der "formgeschichtlichen Schule" der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts nicht immer ganz ungerechtfertigt eine "Hypostasierung des Urchristentums" vorgeworfen, die strukturelle Analogien zu einer solchen Idealisierung des Ursprungs aufweise.44 Der formgeschichtlichen Schule zufolge war die Keimzelle christlichen Glaubens in der Urkirche zu finden – und nicht etwa in der Lehre Jesu oder in der späteren dogmatischen Entwicklung. Bereits David Friedrich Strauß (1808–1874) wollte mit seiner "mythischen Sichtweise" das entscheidende Ereignis des Christentums in der Urgemeinde gefunden haben.45 Martin Dibelius (1883–1947),46 Rudolf Bultmann (1884–1976),47 Oscar Cullmann (1902–1999)48 und andere lasen vor dem Hintergrund der Kritik an den Ergebnissen der Leben-Jesu-Forschung die neutestamentlichen Schriften als Ausdruck des Glaubens der ecclesia primitiva, der die überzeitliche Norm christlicher Theologie repräsentieren sollte. Jedenfalls in der Rezeption dieser Forschungen, so die Kritik, führte eine solche Konzentration auf den von der Urgemeinde verkündigten "kerygmatischen Christus" ebenfalls zu einer Form ihrer Idealisierung, die bis heute nachwirkt.
Die theologische Einheitlichkeit der Urkirche
Mit dieser ersten Faszination, die von der Nähe der Urkirche zum Ursprung ausgeht, hängt die zweite Faszination zusammen, die von der unterstellten theologischen Einheitlichkeit und Häresiefreiheit ausgeht. Nach Apostelgeschichte 2,42 hielt die Jerusalemer Gemeinde "an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft". Vor diesem Hintergrund konnte bereits der antike Kirchenhistoriker Socrates Scholasticus (380–440) "Jerusalem" als eine Chiffre für ein verlorenes Ideal in Zeiten der theologischen Kontroverse und Entzweiung gebrauchen.49 Traditionsbeweis, duale Sicht der Kirchen- und Dogmengeschichte, Dekadenz- und Entwicklungsmodelle rekurrieren gleichermaßen auf dieses idealisierte Bild einer häresiefreien theologischen Einheitlichkeit der Urkirche. Auch das Urkirchenbild der formgeschichtlichen Schule der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts reduzierte die Lehre der Urgemeinde auf ein relativ einheitliches "Kerygma", von dem andere Einflüsse aus der religionsgeschichtlichen Umwelt des Christentums recht klar geschieden werden konnten.50
Kritisch gesehen wird heute schließlich die in allen Idealisierungen der Urkirche bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschende Auffassung von der sehr frühen Trennung der Urkirche von den Traditionen des zeitgenössischen Judentums. Grundlage hierfür war ebenfalls eine idealisierte Auffassung von der Einheitlichkeit in der Lehre der Urkirche, während neuere Ansätze das Urchristentum ebenso wie das rabbinische Judentum als variante Ausprägungen des Judentums der Spätzeit des Zweiten Tempels zu porträtieren versuchen und beiden eine längere plurale und vielschichtige inhaltliche Entwicklung zubilligen.51 Auf der Ebene ihres christologischen Bekenntnisses spricht freilich nach wie vor vieles für eine frühe Trennung der Jerusalemer Gemeinde von ihrem religiösen Umfeld, während sich auf anderen Ebenen der Theologie (Gotteslehre und Kosmologie), der religiösen Praxis und der Frömmigkeit die Einsicht in komplexere Ablösungsprozesse und größere Vielfalt bereits in den frühesten Gemeinden durchzusetzen scheint.52
Die Sozialstruktur der Urkirche
Nach Galater 3,26–28 und Apostelgeschichte 2,45 war die Urgemeinde frei von Diskriminierung, Sklaverei und materieller Ungleichheit. Stattdessen praktizierte man eine Gütergemeinschaft, die mit der Etablierung der neuen christlichen Zentren außerhalb von Jerusalem wieder aufgegeben wurde. Im mittelalterlichen Armutsstreit verwendeten radikalere Positionen diese Gütergemeinschaft als ein Argument für die Besitzlosigkeit von "Jesus und den Aposteln" (siehe oben). Das klösterliche Leben der Bettelorden lässt sich als eine Form der Umsetzung dieses Idealbildes verstehen. Der Humanismus und die Reformation hingegen übten starke Kritik an diesem nun als Werkgerechtigkeit diskreditierten monastischen Leben und vor allem an der theologischen Festschreibung des Mönchtums als eines höherwertigen Ordensstandes durch Thomas von Aquin (ca. 1225–1274) und in der franziskanischen Ontologie und Gnadenlehre.53 Bereits Wyclif hatte darauf hingewiesen, dass die Schrift nichts vom Mönchtum enthalte, und interpretierte deshalb Apostelgeschichte 2,45 als einen selbstverständlichen, an jeden Christen gerichteten Aufruf des humilis Christus zur Nachfolge.54
Dagegen entdeckte der radikale Pietismus die Gütergemeinschaft neu und konnte sich dabei auf Gottfried Arnolds Idealisierung der Urkirche beziehen. Daraus ergab sich die Überzeugung, dass wahres Christentum nur außerhalb der verfassten Kirche gelebt werden könne. Im späten 17. und beginnenden 18. Jahrhundert entstand daraus eine länderübergreifende Bewegung unterschiedlicher Gruppierungen, die in losem Kontakt zueinander standen. In dieser Zeit gründeten etwa Jane Leade (1624–1704) und John Pordage (1607–1681) die Philadelphian Society for the Advancement of Piety and Divine Philosophy, die einen weit über England hinausreichenden Einfluss ausübte. Das in Leades Schriften entwickelte Idealbild der Urkirche stellte die im Bericht der Apostelgeschichte beschriebene "Bruderliebe" ins Zentrum und forderte zu einem gemeinsamen, schriftgemäßen Warten auf die Allversöhnung jenseits von Konfessionsgrenzen nach dem Vorbild der Urgemeinde auf. Philadelphische Gemeinschaften entstanden daraufhin in kurzer Zeit unter anderem in der Schweiz, in den Wittgensteiner und Wetterauer Gebieten sowie in Nordamerika.
Eine andere Zielsetzung hatte die historisch-materialistische bzw. marxistische Ethik- und Gottesdienstkritik an der Alten Kirche, wie sie Karl Kautsky 1910 erstmalig ausführlich formulierte55 und wie sie vor allem in den 1960er und 1970er Jahren weite Verbreitung fand:56 Danach "war die Erlösung aus dem Elend, die das Christentum verkündete, anfangs sehr materiell, auf dieser Welt, nicht im Himmel gedacht", also ursprünglich auf die Umwandlung der empirischen Verhältnisse gerichtet.57 Dies sei der wahre Geist der ecclesia primitiva gewesen. In nachapostolischer Zeit dagegen wurde demnach diese Botschaft durch die Konzilskirche,58 durch Neuplatonismus, Spiritualismus und hierarchisch organisierte Gottesdienste in den Hintergrund gedrängt.59
Ekklesiologie und Pneumatologie der ecclesia primitiva
Viele Idealisierungen der Urkirche haben weniger Häresiefreiheit oder Sozialstruktur im Blick, sondern porträtieren die eschatologisch und pneumatologisch grundierte Ekklesiologie der Urkirche als ein institutionelles Ideal. Die nur in der Urgemeinde in vollkommener Form wirkmächtige "Liebe" (Apostelgeschichte 2,46 passim) und die Anwesenheit des Heiligen Geistes (Pfingstereignis Apostelgeschichte 2) hatten nach dieser Ansicht eine wahrhafte und reine ecclesia60 ermöglicht, die die spätere Institution Kirche wieder zerschlagen habe.61 Die Urkirche konnte so als vollkommene "Vereinigung der Glieder des geistlichen Leibes Christi" verstanden werden.62
Als Vorbild konnte ein solches Bild bereits frühen monastischen Gemeinschaften dienen. Wichtige Grundlage für neue Gemeinschaftsformen wurde es in der radikalen Reformation und im Philadelphismus. Die Täufergemeinden der Reformationszeit nahmen sich eine Urkirche zum Vorbild, die ihrer Ansicht nach das nahe Weltende erwartete und ausschließlich aus Wiedergeborenen mit einem reinen Lebenswandel bestand. Mitglieder, die diesem Ideal nicht entsprachen, wurden aus der Gemeinschaft verbannt, und man versuchte, das Ideal der ursprünglichen "Unbeflecktheit" entweder durch Absonderung oder durch eine Theokratie wie im Täuferreich zu Münster (1532/1534–1535) zu verwirklichen. Zu den auf die Urkirche bezogenen Idealen gehörten neben der konkreten Naherwartung dabei auch die Erwachsenentaufe und die Polygamie.63
Ein ähnliches Bild der Urkirche fand sich im radikalen Pietismus bzw. im Philadelphismus des 18. Jahrhundert (siehe oben), der neben einem weit entwickelten Chiliasmus64 von einer "hierarchiefreien" Ekklesiologie nach dem Vorbild der Urkirche gekennzeichnet war. Einzelne Gruppen dieser Art existierten bis ins 19. Jahrhundert unter anderem in Nordamerika fort. Große Breitenwirkung erzielte das im Hinblick auf Pneumatologie und Ekklesiologie idealisierte Bild der Urkirche über diese radikalen Gruppen hinaus durch die Rezeption der Werke des lutherischen Theologen Johann Arndt (1555–1621)[].65
Auch die liberale Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts66 kontrastierte die vom heiligen Geist geprägte, charismatisch organisierte Urgemeinde der auf die Wiederkunft Christi wartenden freien Kinder Gottes mit dem sogenannten Frühkatholizismus, der sich auf eine längere Zeit auf Erden einrichtete und eine entsprechend langlebig orientierte hierarchische Organisation einrichten musste.
Zusammenfassung
Die unterschiedlichen Formen der Idealisierung der Urkirche in der europäischen Geschichte sind Teil einer keineswegs geradlinigen Entwicklung eines interkulturellen Transferprozesses zwischen jüdisch-christlicher Antike und europäischer Geistesgeschichte seit dem Spätmittelalter. Einerseits hat das jahrhundertelange große Interesse an der ecclesia primitiva das moderne Wissen von den Anfängen des Christentums nicht nur inhaltlich geprägt, sondern durch den Impuls zur Forschungstätigkeit auch bereichert. Andererseits ist nicht nur die Stärke dieses Impulses und die argumentative Zielsetzung der Inanspruchnahme eines idealisierten Bildes des Urchristentums von geistesgeschichtlichen Neuentwicklungen bestimmt, die völlig unabhängig vom "Ausgangsystem Urkirche" waren. Diese lieferten vielmehr in der Regel erst das für die Konstruktion des jeweiligen Idealbildes grundlegende methodische Instrumentarium, was Voraussetzung für die – kaum zu überschätzende – Rolle einer idealisierten ecclesia primitiva in den theologischen und gesellschaftlichen Debatten ihrer Zeit war.