Militärische und politische Entwicklungen
Die Ursprünge des Osmanischen Reiches lagen im nordwestlichen Anatolien, wo im 13. Jahrhundert das osmanische Emirat eines von zahlreichen turkmenischen Kleinfürstentümern war.1 Bereits unter dem Dynastiegründer Osman (ca. 1258–ca. 1326) setzte die Ausweitung des Herrschaftsgebietes ein, die unter seinem Sohn Orhan (ca. 1281–ca. 1359) mit der Eroberung Bursas (1326) fortgeführt wurde. Das Ausgreifen der osmanischen Macht auf die südosteuropäische Halbinsel erfolgte in der Zeit nach 1352, als mit der Einnahme der am Marmarameer gelegenen Festung Tzympe ein erster Stützpunkt errichbtet werden konnte. Unter Sultan Murad I. (ca. 1326–1389)[] fiel 1361 Adrianopel (Edirne), das zur neuen Hauptstadt des Reiches wurde.
Die Expansion im südöstlichen Teil Europas setzte sich vorwiegend aus vielschichtigen Eroberungsprozessen zusammen, die sich meist über einen längeren Zeitraum erstreckten. Nicht selten traten die osmanischen Sultane zunächst als Verbündete eines lokalen Herrschers in Erscheinung, während die eigentliche Eroberungsphase mit der Unterstellung der jeweiligen Herrschaftsgebilde unter osmanische Oberhoheit und der sich daran anschließenden Integration des betreffenden Gebietes in den osmanischen Reichsverband einsetzte.2 Einige Regionen oder Städte wie die Moldau und die Walachei oder Ragusa (Dubrovnik) verblieben über Jahrhunderte mehr oder weniger in einem Vasallitätsverhältnis. Solche Eroberungsmuster resultierten auch aus der politischen Zersplitterung des südosteuropäischen Raumes, die das Ausgreifen der osmanischen Macht auf der Balkanhalbinsel erleichterte. Die Zeitfenster, in denen die territoriale Ausdehnung vorangetrieben werden konnte, wurden außerdem wesentlich von den politischen Entwicklungen in Anatolien bestimmt, wo die osmanische Herrschaft in einem ebenfalls lange andauernden Prozess der Herrschaftsetablierung gefestigt werden musste.
Die osmanische Expansion setzte zu einem Zeitpunkt ein, als sowohl das serbische Reich der Nemanjiden-Dynastie als auch das zweite bulgarische Reich Auflösungserscheinungen zeigten. Nach dem Tod Stefan Dušans (ca. 1308–1355) war das Herrschaftsgebilde der Nemanjiden in einzelne Territorialherrschaften zerfallen. Einige dieser "Fürstentümer" unternahmen 1371 einen Feldzug gegen die Osmanen, der mit einer Niederlage bei Černomen an der Marica endete. Auch das bulgarische Reich unter den Šišmaniden konnte keinen Widerstand leisten, da es von zentrifugalen Kräften geschwächt war. Zar Ivan Alexander (Regierungszeit: 1331–1371) hatte eine Teilung des bulgarischen Reiches unter seinen beiden Söhnen verfügt, die sich nacheinander bis 1388 der osmanischen Oberhoheit unterstellten. Im Jahre 1381 waren Bitola, 1385 Sofia und 1387 erstmalig Saloniki (Thessaloniki) gefallen; die endgültige Eroberung der letztgenannten Stadt sollte nach erneuter byzantinischer und venezianischer Herrschaft 1430 erfolgen. Am St. Veitstag (28. Juni) des Jahres 1389 kam es zur Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo Polje),3 in der sich einer der serbischen Teilfürsten, Lazar Hrebeljanović (ca. 1329–1389), mit einem vorwiegend aus serbischen sowie bosnischen Kontingenten bestehenden Heer und osmanische Truppen unter Sultan Bayazid I. (ca. 1360–1402) gegenüberstanden.4 Durch den osmanischen Sieg gingen die aus dem zerfallenen Nemanjidenreich hervorgegangenen Teilfürstentümer ihrem Untergang entgegen und sollten dann 1459, als Smederevo unter osmanische Herrschaft geriet, endgültig von der politischen Landkarte verschwinden.
Im Jahre 1392 eroberten die Osmanen Skopje, das zu einem wichtigen Stützpunkt für die nächsten militärischen Operationen wurde. Nach der Niederlage einer Kreuzfahrerarmee 1396 bei Nikopol fiel schließlich auch das letzte bulgarische Teilfürstentum Vidin, wodurch die Gebiete des einstigen Šišmanidenreiches nun endgültig Bestandteil des osmanischen Imperiums geworden waren. Wie stark die osmanische Politik in Südosteuropa von den Entwicklungen an der östlichen Reichsgrenze abhängig war, zeigen die Ereignisse des Jahres 1402, als Bayazid I. in der Schlacht bei Ankara gegen den mongolischen "Welteroberer" Timur, oder Tamerlan (1336–1405), verlor. Die Gefangennahme und der Tod des Sultans führten im Osmanischen Reich zu einem "Bruderkrieg" unter seinen Söhnen, aus dem Mehmet I. (ca. 1387–1421) als Sieger hervorging.5
Die osmanische Expansion in Südosteuropa richtete sich nach der politischen Stabilisierung verstärkt gegen die Gebiete des heutigen Albaniens, wo Venedig, das bereits große Teile Dalmatiens kontrollierte, zwischen 1392 und 1405 eine Schutzherrschaft über weite Teile Nordalbaniens und die Stadt Durazzo (Durrës) in Mittelalbanien errichtet hatte. Auch im albanischen Raum suchten rivalisierende Adelsgeschlechter zunehmend osmanische Unterstützung und viele von ihnen erkannten insbesondere nach der Schlacht auf dem Amselfeld die Oberhoheit des Sultans an. Sie schickten ihre Söhne als Geiseln an den Sultanshof in Edirne, darunter Georg Kastriota (ca. 1405–1468)[]. Als Sohn eines Adligen wurde er in das Korps der Hofpagen eingegliedert und trat vor 1428 zum Islam über. Weniger die Konversion als vielmehr seine Fähigkeiten, zu denen umfangreiche Sprachkenntnisse gehörten, ermöglichten ihm eine rasche Karriere. In Anerkennung seiner militärischen Verdienste erhielt er den Beinamen Skanderbeg.6 Ab 1438 hatte er verschiedene Verwaltungsränge im albanischen Raum inne, fiel jedoch 1443 vom Sultan ab und trat zum Christentum über. Das Motiv für den Seitenwechsel war wahrscheinlich Rache an Murad II. (1404–1451), der seinen Vater Ivan Kastriota (gest. ca. 1443) hatte ermorden lassen. Zusammen mit anderen Adligen leistete Skanderbeg den Osmanen ein Vierteljahrhundert Widerstand, wobei er mit der von der Renaissance geprägten Staatenwelt auf der Apenninhalbinsel verbündet war. Bereits zu Lebzeiten wurde er zu einer legendären Gestalt und mit seinem Tod im Jahre 1468 setzte die Mythologisierung seiner Person ein. Auch in der Gegenwart wird die Figur Skanderbeg insbesondere in Albanien, Kosovo und Makedonien entsprechend den jeweiligen nationalpolitischen Ausrichtungen gedeutet und zu einer Symbolfigur stilisiert.7 Nach dem Tod Skanderbegs konnte Venedig nur noch für kurze Zeit dem osmanischen Vormarsch Widerstand leisten. Im Juni 1478 fiel die Festung Kruja nach zweijähriger Belagerung und ein Jahr später kapitulierte auch Shkodra. In dem 1479 abgeschlossenen Friedensvertrag, der einen 1463 ausgebrochenen osmanisch-venezianischen Krieg beendete, verlor die Markusrepublik alle ihre albanischen Gebiete mit Ausnahme von Durrës. Der albanische Raum war nun endgültig zum festen Bestandteil des Osmanischen Reiches geworden.8
Während der Kämpfe im albanischen Raum fiel auch das Bosnische Königreich, das seine größte territoriale Ausdehnung im späten 14. Jahrhundert erfahren hatte. Dieses Herrschaftsgebilde war von einer meist schwachen königlichen Zentralgewalt und starken Territorialherren geprägt. Seit den 1380er Jahren sah es sich osmanischen Einfällen ausgesetzt, der erste mit Schriftquellen belegbare Angriff erfolgte 1386. Das Königreich wurde immer mehr zum Spielball der beiden stärksten Landmächte in Südosteuropa, Ungarn und dem Osmanischen Reich. Das Zusammenspiel von innerer Instabilität und äußerer Bedrohung lässt sich am Beispiel der Thronstreitigkeiten nach dem Tod König Tvrtkos I. (1338–ca. 1391) veranschaulichen. Stefan Ostoja (ca. 1350–1410), 1398 zum König gewählt, wurde 1404 vom Adel vertrieben und durch einen Sohn König Tvrtkos, Tvrtko II. von Bosnien (gest. 1443) ersetzt. Ostoja konnte jedoch mit Hilfe einer ungarischen Armee seine Position wieder festigen. Nach 1414 änderten sich die Machtverhältnisse erneut, als der mächtigste bosnische Adlige, Hrvoje Vukćić (1350–1416), mit Hilfe der Osmanen Tvrtko II. wieder als König einsetzen wollte.9 Die Osmanen waren also auch in Bosnien zunächst als Verbündete lokaler Adliger aufgetreten. Der endgültige Fall des Bosnischen Königreiches wird in das Jahr 1463 datiert, als osmanische Truppen unter Sultan Mehmet II., dem Eroberer (1432–1481), schließlich Zentralbosnien eroberten und der letzte König Stjepan Tomašević (1438–1463) gefangengenommen und enthauptet wurde.10
Nachdem durch die Eroberung Konstantinopels 1453, den Verlust des Peloponnes 1460 und den Fall des Kaiserreiches Trapezunt (Trabzon) 1461 auch das Byzantinische Reich endgültig untergegangen war, wurde die politische Entwicklung in Südosteuropa vom Mächtespiel zwischen dem Osmanischen Reich, Ungarn und Venedig bestimmt. Die osmanische Expansion im 15. Jahrhundert stellte für Ungarn zunehmend eine Bedrohung dar, der das Königreich auf Dauer nicht standhalten konnte. Unter Johann Hunyadi (ca. 1387–1456) wechselten sich noch Niederlagen wie bei Varna 1444 mit erfolgreichen militärischen Operationen wie der Entsetzung Belgrads 1456 ab, doch gelang es in der Folge weder Matthias I. Corvinus (1443–1490) noch den Jagellonenkönigen (1490–1526), den Niedergang aufzuhalten. Als sich dann unter Sultan Süleyman I. (ca. 1494–1566) die Stoßrichtung der osmanischen Expansion verstärkt gegen Ungarn richtete, war mit dem Fall Belgrads 1521 und der Niederlage bei Mohács 1526, in der Ludwig II., König von Ungarn und Böhmen (1506–1526), zu Tode kam, das Schicksal des Königreiches besiegelt. Doch lief auch hier die endgültige Eroberung nach dem bekannten Muster ab, als die Osmanen in die Wirren um die Thronfolge eingriffen.
Als Gegner erschienen nun die Habsburger und es deutete sich der osmanisch-habsburgische Gegensatz an, der die politische Entwicklung in Südosteuropa in den folgenden Jahrhunderten prägen sollte. Die ungarischen Adligen wählten auf dem Landtag von Székesfehérvár am 10. November 1526 Johann Szapolyai (1487–1540) zum neuen König, der auf die Unterstützung der Osmanen zählen konnte. Er trat damit in Gegnerschaft zum österreichischen Erzherzog Ferdinand (1529–1595), den eine Gruppe ungarischer Magnaten als neuen Herrscher anerkannte. Der auch mit militärischen Mitteln ausgetragene habsburgisch-osmanische Machtkampf, in dessen Verlauf eine osmanische Belagerung Wiens 1529 scheiterte, endete erst mit dem Tod Szapolyais 1541 und der am 29. August des selben Jahres erfolgten endgültigen Besetzung Budas durch osmanische Truppen. Damit war die Dreiteilung des ungarischen Königreiches besiegelt. Der Osten des Landes entwickelte sich zum Fürstentum Siebenbürgen, das zum Vasallen des Sultans wurde. Die westlichen und nördlichen Gebiete fielen unter die Kontrolle der Habsburger, während die Osmanen Zentralungarn in ihren Reichsverband eingliederten. Süleyman I. starb während eines Feldzuges, der zur Eroberung von Szigetvár führte. Im "Langen Türkenkrieg" (1593–1606) konnte das Osmanische Reich von den Habsburgern noch die Festungen Erlau (1596) und Kanisza (1600) erobern und im Friedensschluss von Zsitvatorok (1606) die erreichten Territorialgewinne absichern.11 Ein letztes erfolgreiches Ausgreifen osmanischer Macht erfolgte im Feldzug der Jahre 1663/1664, als die am Fluss Neutra in der heutigen Slowakei gelegene Festung Neuhäusel erobert werden konnte und damit die größte geographische Ausdehnung des Osmanischen Reiches im östlichen Europa erreicht war. Zur gleichen Zeit verlor auch Venedig seinen Status als südosteuropäische Großmacht, als Kreta 1669 nach einem Krieg, der schon 1645 begonnen hatte, schließlich osmanisch wurde. Vom einstigen venezianischen Überseereich waren nur noch die Ionischen Inseln, einige Küstenplätze auf dem epirotischen Festland und die Insel Cerigo (Kythera) übriggeblieben.12
Diese territorialen Gewinne des Osmanischen Reiches wurden jedoch mehr als rückgängig gemacht, als 1683 die zweite Belagerung Wiens scheiterte.13 Der osmanische Feldzug resultierte aus der Unterstützung Emre Thökölys (1657–1705) durch die Hohe Pforte, der einen Aufstand protestantischer Adliger ("Kurutzenaufstand") im königlichen Ungarn gegen die Habsburger anführte und den die Hohe Pforte 1682 als ungarischen König und Vasall des Sultans anerkannte.
Der Begriff "Hohe Pforte" bezeichnete den Sitz der osmanischen Regierung und bezog sich auf den Diwan und den Amtssitz des Großwesirs. Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts eingerichteten Innen-, Außen- und Finanzministerien gehörten ebenfalls zur Hohen Pforte. |
Als jedoch dessen Position immer schwächer wurde, eröffnete das Osmanische Reich den Krieg gegen die Habsburger. Großwesir Kara Mustafa Pascha (ca. 1634–1683) führte seine Truppen 1683 bis vor Wien, dessen Belagerung jedoch nach der Niederlage in der Schlacht am Kahlenberg (12. September 1683) gegen ein vom polnischen König Jan Sobieski (1629–1696) angeführtes Entsatzheer aufgegeben werden musste. 1684 bildeten die Habsburger, Polen, Venedig und der Papst eine "Heilige Liga", deren Truppen Buda und Zentralungarn (1686) eroberten. Dem Bündnis schloss sich ein Jahr später auch Russland an. Der Markusrepublik gelang die Rückeroberung des Peloponnes und im Norden der Balkanhalbinsel verloren die Osmanen 1688 Belgrad an die Habsburger. Ein Jahr später drangen habsburgische Einheiten bis in den Kosovo vor, aus dem sie sich allerdings im folgenden Jahr wieder zurückziehen mussten. Bis 1697 herrschte eine militärische Pattsituation vor, ehe Prinz Eugen von Savoyen (1663–1736)[] den osmanischen Streitkräften bei Zenta (1697) eine schwere Niederlage beibrachte und anschließend bis nach Sarajevo vorstieß. Seinem schnell erfolgten Rückzug schlossen sich einige Tausend Katholiken, vorwiegend aus Zentral- und Mittelbosnien, an, was zum zahlenmäßigen Tiefpunkt des bosnischen Katholizismus, der schon durch Islamisierungsprozesse und Übertritte zur Orthodoxie geschwächt worden war, führte. Militärisch bedeutete der Sieg bei Zenta die endgültige Entscheidung in diesem Krieg, der 1699 mit dem Frieden von Karlowitz/Sremski Karlovci14 endete. Das Osmanische Reich verlor alle Gebiete des "historischen Ungarns" – mit Ausnahme der Region um Temeschwar – an die Habsburger und den Peloponnes an Venedig. Die osmanisch-habsburgische Grenze verlief nun entlang der Flüsse Donau und Save, so dass Bosnien zur Grenzprovinz wurde. Die Rückeroberung der verlorenen Gebiete blieb im frühen 18. Jahrhundert ein vorrangiges Ziel osmanischer Außenpolitik. Im Jahre 1715 konnte der Peloponnes den Venezianern tatsächlich wieder entrissen werden, woraufhin Österreich an der Seite der Markusrepublik in den Krieg eintrat. Im Friedensschluss von Passarowitz15 (1718) erhielt Österreich das Banat sowie Teile der Walachei, Bosniens sowie Serbiens bis vor Niš, und das venezianische Dalmatien wurde landeinwärts erweitert. Der Peloponnes blieb osmanisch. Die 1718 zwischen Habsburgern und Osmanen festgelegte Grenze ist die bis heute geltende Südwestgrenze Bosniens. Entgegen den Bestimmungen des Abkommens marschierten habsburgische Verbände 1736 erneut in Bosnien ein, mussten sich jedoch 1737 bei Banja Luka osmanischen Truppen geschlagen geben. Im darauf folgenden Friedensvertrag von Belgrad16 (1739) verloren die Habsburger fast alle Gebiete südlich der Save und die dabei festgelegte Grenze bildet die Nordgrenze des heutigen Staates Bosnien-Herzegowina.
In den folgenden fünf Jahrzehnten vermieden es beide Großmächte, gegeneinander Krieg zu führen. Die habsburgischen Kräfte waren durch den Österreichischen Erbfolgekrieg (1740–1748) und den Siebenjährigen Krieg (1756–1763) gebunden, während das Osmanische Reich in den Jahren 1743–1746 in Kämpfe mit dem persischen Herrscher Nadir Shah (1688–1747) und zwischen 1768 und 1774 mit Russland verwickelt war. 1788 brach schließlich ein Krieg aus, der die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts ankündigen sollte. Die russische Zarin Katharina II. (1729–1796)[] hatte das "Griechische Projekt" entworfen, wonach das Byzantinische Reich, bestehend aus den osmanischen Gebieten in Europa mit der Hauptstadt Konstantinopel, als russischer Vasallenstaat unter der Herrschaft ihres Enkels Konstantin wieder entstehen sollte. Gemäß diesen Plänen hätte Österreich Serbien, Bosnien, die Herzegowina sowie Dalmatien erhalten, und Venedig waren der Peloponnes, Zypern und Kreta zugedacht. Frankreich wären Ägypten und Syrien zugefallen. Vor dem Hintergrund solcher Ideen, die sich im Aufbau einer russischen Schwarzmeerflotte sichtbar manifestierten, erklärte das Osmanische Reich 1787 Russland den Krieg. Als dessen Verbündete marschierten österreichische Truppen in Bosnien ein, doch mussten sie nach einer fünfmonatigen Belagerung der Festung Dubica aufgeben. Ein Jahr später waren sie zwar militärisch erfolgreicher, doch sahen sie sich wegen des Drucks der anderen europäischen Großmächte gezwungen, ihre Gewinne in Bosnien und Serbien wieder aufzugeben.
Ab dem späten 18. Jahrhundert entschied nicht mehr die militärische Stärke des Osmanischen Reiches, sondern zunehmend die politische Interessenslage der anderen europäischen Großmächte über den Territorialbestand des Osmanischen Reiches in Südosteuropa. Seit dem 19. Jahrhundert sah sich das Osmanische Reich im Inneren mit dem aufkommenden Nationalismus konfrontiert, der zumeist durch in der Diaspora lebende Eliten in den südosteuropäischen Raum importiert wurde. Die Entstehungsgeschichte der neuen Nationalstaaten war Teil der "Orientalischen Frage", mit der jene Krisensituation in Südosteuropa bezeichnet wurde, die aus der militärischen Schwäche des Osmanischen Reiches und den dadurch ausgelösten Rivalitäten der europäischen Mächte entstanden war. Die politische Führung des Reiches konnte trotz umfangreicher Reformbemühungen, die als Tanzimat17 in die Geschichte eingingen und deren Ansätze in den folgenden Abschnitten skizziert werden sollen, den Zerfall des Imperiums nicht mehr verhindern.
Der vollständige Terminus lautet Tanzimat-i Hayriye "Wohltätige Ordnungen". Unter diesem Begriff werden die Reformbemühungen zwischen dem als Hatt-i şerif von Gülhane bezeichneten großherrlichen Sendschreiben, mit dem 1839 die Reformprinzipien vorgestellt wurden, und der Verkündigung der Verfassung (1876) zusammengefasst. |
Nachdem seit dem Frieden von Karlowitz (1699) die Grenzen des Osmanischen Reiches in Südosteuropa weitgehend unverändert geblieben waren, begann sich im 19. Jahrhundert das Bild zu verändern. Das Osmanische Reich musste nun nicht mehr nur nach militärischen Auseinandersetzungen mit anderen Mächten, sondern auch nach Rebellionen, die sich häufig aufgrund der politischen Großwetterlage zu internationalen Krisen ausweiteten, territoriale Verluste hinnehmen. Der osmanische Rückzug aus Südosteuropa erfolgte in periodischen Krisen.
1804 brachen in der Provinz Belgrad Unruhen aus, die in eine Revolte mit politischem Charakter umschlugen. Dieser zunächst inner-osmanische Konflikt geriet bald in das Blickfeld der Großmächte und es war Russland, das im Frieden von Bukarest (1812) auf einer formalen Autonomie Serbiens bestand. Dessen politische Umsetzung ließ jedoch auf sich warten und sollte erst in den folgenden Jahrzehnten realisiert werden. Ein einschneidendes Ereignis war der 1821 ausgebrochene griechische Aufstand, den die Streitkräfte der Hohen Pforte nicht niederschlagen konnten. Daher riefen die Osmanen Muhammad Ali Pascha (1769–1849) zu Hilfe, der in der ägyptischen Provinz seine Machtposition gefestigt und die dortigen Truppen nach französischem Vorbild modernisiert hatte. Seine Einheiten verzeichneten große militärische Erfolge im Kampf gegen die Aufständischen. Erst durch das Eingreifen Russlands, Englands sowie Frankreichs und die Vernichtung der osmanisch-ägyptischen Flotte bei Navarino (1827) wendete sich das Kriegsglück. Im Vertrag von London 1830 erlangte Griechenland seine Unabhängigkeit.
Etwa zeitgleich wurde die 1812 vereinbarte serbische Autonomie umgesetzt, als der Sultan im russisch-osmanischen Friedensschluss von Edirne (1829) Miloš Obrenović (1780–1860) als Fürst eines autonomen Serbiens anerkennen musste. Das Abkommen enthielt außerdem Bestimmungen, die den Status der Donaufürstentümer Moldau und Walachei betrafen. Beide waren im 16. bzw. 17. Jahrhundert gegenüber dem Sultan tributpflichtig geworden. Seit 1711 (Moldau) und 1715 (Walachei) hatte die Hohe Pforte "Phanarioten" als Fürsten eingesetzt, die einflussreichen griechischen Familien aus dem Istanbuler Stadtteil Phanar (türk. Fener) entstammten und bis 1821 die Donaufürstentümer verwalteten. Das Abkommen von Edirne legte nun fest, dass die Moldau und die Walachei zu einem russischen Protektorat unter osmanischer Oberhoheit wurden. Die Machtfülle des Zarenreiches in Südosteuropa erfuhr jedoch durch die Regelungen des Friedensvertrages von Paris, der 1856 den Krimkrieg beendete, eine erhebliche Einschränkung, als die Donaufürstentümer ihren Status als russisches Protektorat verloren. Die 1859 erfolgte und 1864 vom Sultan bestätigte Wahl eines gemeinsamen Fürsten stellte die faktische Vereinigung von Moldau und Walachei dar.
1875 brachen Aufstände in Bosnien, der Herzegowina und im bulgarischen Raum aus, die Serbien und Montenegro einen Anlass zur 1876 erfolgten militärischen Intervention boten. Die sich abzeichnende Überlegenheit der osmanischen Armee veranlasste Russland, 1877 in den Krieg gegen das Osmanische Reich einzutreten. Nach verheerenden Niederlagen musste der Sultan 1878 in den Frieden von San Stefano einwilligen, der u.a. ein unter russischer Vorherrschaft stehendes, autonomes Fürstentum Bulgarien vorsah. Dieser Machtzuwachs Russlands stieß auf den Widerstand der übrigen Großmächte, die 1878 auf dem Berliner Kongress einen Interessensausgleich zu finden versuchten. Serbien, Montenegro und Rumänien wurden zu unabhängigen Staaten und Österreich-Ungarn erhielt das Recht, Bosnien und die Herzegowina zu verwalten. 1878 besetzten habsburgische Truppen diese Region und annektierten sie schließlich 1908. Die Ereignisse bis zum Ersten Weltkrieg zeigen, dass der Berliner Kongress keine Lösung der "Orientalischen Frage" erzielte.18 In den Balkankriegen 1912/1913 ging es um die letzten osmanischen Territorien in Südosteuropa: Albanien, Makedonien und Thrakien. Einerseits stellten diese militärischen Auseinandersetzungen eine Fortführung der Konflikte unter den Großmächten dar, wie das Bestreben Russlands um eine Stärkung Serbiens zeigt. Die 1913 anerkannte Unabhängigkeit Albaniens war auch eine Reaktion der anderen Großmächte, um Serbien den Zugang zur Ägäis zu versperren. Andererseits waren die Balkankriege nicht zuletzt Ausdruck von Emanzipationsversuchen der neuen Balkanstaaten, die eine eigenständige Außenpolitik zu betreiben suchten. Insgesamt bedeuteten die verlustreichen Kämpfe das Ende der osmanischen Herrschaft in Südosteuropa, abgesehen von einem Teil Thrakiens.19
Der weitgehende Rückzug des Osmanischen Reiches aus Südosteuropa, der sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert vollzogen hatte, bedeutete einen tiefgreifenden Wandel der politischen Gegebenheiten auf der Balkanhalbinsel. Die imperialen Herrschaftsstrukturen wurden durch Nationalstaaten ersetzt, deren Formierung die Entwicklung des südöstlichen Teils des europäischen Kontinents bis in die Gegenwart beeinflusst. Die ideengeschichtlichen Ursprünge dieses Transformationsprozesses lagen im westlichen Europa, wo unter dem Eindruck von Aufklärung, Romantik und Idealismus sowie den prägenden Erfahrungen der napoleonischen Kriege Ideen von Staat und Nation diskutiert wurden. Es waren die Überlegungen von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und insbesondere von Johann Gottfried von Herder (1744–1803), die in Südosteuropa realpolitische Wirkungsmacht erlangen sollten. Die Umsetzung dieser Vorstellungen auf der Balkanhalbinsel erforderte zunächst die Konstruktion von Nationen, die aus unterschiedlichen Gruppenidentitäten, deren Bezugspunkte die gleiche Religion, Sprache oder kulturelle Ähnlichkeiten sein konnten, geformt wurden. Die frühesten Träger dieser Entwicklung waren Vertreter der jeweiligen Diaspora wie der Grieche Adamantios Korais (1748–1833) in Paris oder der Serbe Vuk Karadžić (1787–1864) in Wien, die durch Sprachkodifizierung eine Nationalsprache zu schaffen versuchten. Neben der Sprache sollte auch eine gemeinsame Geschichte und Kultur geschaffen werden, was durch die Errichtung eines "eigenen" Bildungssystems oder der nationalen Verklärung von Folklore erreicht werden sollte. Jedoch handelte es sich in dieser Phase (frühes 19. Jahrhundert) der Nationenbildung um ein Elitenprojekt ohne große Breitenwirkung. Die gezielten Versuche, die Nationsvorstellung in der Bevölkerung zu verankern, begannen in Südosteuropa mit regionalen zeitlichen Unterschieden. Die Autonomie des serbischen Fürstentums (1829) oder die Schaffung des Königreiches Griechenland (1830) schufen politische Rahmenbedingungen, in denen derartige Bemühungen leichter möglich waren. Beide Staatsgebilde waren sprachlich und ethnisch relativ homogen, was auch eine Folge der Abwanderung bzw. der Vertreibung der muslimischen Bevölkerung war. Von 1804, als der serbische Aufstang ausbrach, bis 1820 hatten ca. 15.000–20.000 Muslime das serbische Gebiet verlassen. Der griechische Aufstand 1821 bedeutete auch das weitgehende Ende der muslimischen Siedlungsgeschichte im südlichen Griechenland, wo bis dahin vermutlich zwischen 60.000 und 90.000 Muslime gelebt hatten. Die überwiegende Mehrzahl flüchtete, wurde vertrieben oder ermordet, so dass nur noch wenige Muslime im neugeschaffenen Königreich zu finden waren.
Die politische Umsetzung des Nationalstaatsgedankens in Südosteuropa hatte jedoch nicht nur antiosmanische bzw. antiislamische Reflexe zur Folge, sondern beinhaltete auch erhebliches Konfliktpotential zwischen den neu entstehenden Nationalstaaten. Regionen wie Makedonien, Kosovo oder Bosnien wurden aufgrund sprachlicher, religiöser oder historischer Kriterien von mehreren Nationalbewegungen beansprucht, wodurch dann immer wieder Bevölkerungsgruppen unter Mord, Flucht und Vertreibungen zu leiden hatten oder einem hohen Assimilierungsdruck ausgesetzt waren, wenn sie nicht als zur "eigenen" Nation gehörig betrachtet wurden.20
Das Timarsystem
Die direkte Eingliederung eines eroberten Gebietes in den osmanischen Reichsverband erfolgte in Südosteuropa meist durch die Erstellung eines Katasterverzeichnisses (tapu tahrir defteri), in dem die entsprechend ihrer Größe als tımar, has oder zeamet bezeichneten "Lehen", die Namen der Inhaber und die Haushaltsvorstände aus der steuerpflichtigen Bevölkerung (reaya) aufgeführt waren. Das älteste Register datiert aus dem Jahre 1431 und umfasst einen Großteil des heutigen Albaniens. Es zeigt, dass das Timarsystem nicht selten territorial und personell an vor-osmanische Strukturen anknüpfte. Das 1431 erstellte Verzeichnis enthält eine große Zahl christlicher Lehensinhaber, die ihr feudales Eigentum in das Timarsystem überführen konnten. Da im Osmanischen Reich der Großteil des ackerbaulich nutzbaren Landes als Staatsland (mirî) galt, ging dieser Übertrag gewöhnlich mit dem Verlust des Eigentumsrechtes und der Beibehaltung des Nutzungsrechtes einher.
Der Timariot (Timar-Inhaber) war nicht Eigentümer des Grund und Bodens, so dass ihm nur die daraus erzielten Einkünfte zustanden. Ebenso konnte das tımar in der Regel auch nicht vererbt werden. Im bosnischen Raum gelang es jedoch einigen Kleinadligen, ihren vererbbaren und abgabenfreien Besitz als steuerlich privilegierte baština im Familienbesitz zu halten. Ein ähnliches Phänomen ist auch aus Makedonien und Serbien bekannt, wo als Voynuken bezeichnete Angehörige christlicher Hilfstruppen ihren Besitz mit den damit verbundenen Steuervergünstigungen zumindest bis zum 16. Jahrhundert bewahren konnten. Diese Beispiele belegen den Charakter des Timarsystems, das vorwiegend aus "Dienstlehen" bestand, die gegen Militärdienst vergeben wurden. Zu den Ausnahmen zählten kirchliche Würdenträger, osmanische Richter oder hohe Verwaltungsangehörige, die ebenfalls Inhaber solcher Lehen geworden sind. Im Gegensatz zum westeuropäischen "Feudalismus" durfte der osmanische Lehensinhaber keine Gerichtsbarkeit über die auf seinem "Lehen" lebende bäuerliche Bevölkerung ausüben.21
Das Timarsystem begann sich spätestens im 17. Jahrhundert stark zu verändern. Zu den wichtigsten Merkmalen dieses Transformationsprozesses zählte die zunehmende Verbreitung von çiftliks, die meist als landwirtschaftliche Großbetriebe angesehen werden. In Küstenregionen wie dem Gebiet um Durrës (im heutigen Albanien) oder in Ebenen wie dem Hinterland von Thessaloniki, Teilen Makedoniens sowie Thessalien erreichten sie zum Teil eine beträchtliche Größe, während in von Bergen und Hügeln durchzogenen Regionen wie Bosnien nur kleinere çiftliks entstehen konnten. Die Ursachen für ihre Verbreitung waren vielfältig. Zu den wichtigsten Gründen zählte die Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation der Timar-Inhaber. Die Verkleinerung der "Lehen", die Entwertung der Silberwährung akçe und die seit dem 17. Jahrhundert zunehmende Verbreitung der Steuerpacht waren die wesentlichen Ursachen für eine Entwicklung, die den Timarioten veranlasste, direkten Landbesitz in Form eines çiftliks anzustreben. Ebenso wurden immer mehr Steuerpächter, die seit 1695 Steuerpachten auch auf Lebenszeit besitzen konnten, zu Inhabern von çiftliks. Das Timarsystem wurde 1831 abgeschafft, so dass die çiftliks nun auch offiziell zum Privateigentum ihrer Besitzer wurden.22
Die osmanische Provinzverwaltung
Mit der Einführung des Timarsystems ging auch der Aufbau der osmanischen Provinzverwaltung einher, deren "klassische" Ausprägung jedoch eine große regionale Differenzierung erfuhr. Die größten Verwaltungseinheiten hießen bis zum 16. Jahrhundert vorwiegend beylerbeyilik oder vilayet, insbesondere ab dem 18. Jahrhundert erschien in osmanischen Verwaltungsdokumenten häufig der Terminus eyalet. An der Spitze einer solchen Großprovinz stand ein als beylerbeyi und ab dem 18. Jahrhundert meist als vali bezeichneter Gouverneur. Bis zum 15. Jahrhundert wurden alle Eroberungen in Südosteuropa einschließlich des Schwarzmeergebietes der Provinz Rumili ("Land der Rhomäer") als der übergeordneten administrativen Einheit zugeordnet, während nach der Einnahme Budas 1541 Rumelien in mehrere Statthalterschaften unterteilt wurde. Die einzelnen Großprovinzen waren in livas oder sancaks eingeteilt, denen jeweils ein sancakbeyi vorstand. Die nachstehende Verwaltungsebene bestand aus den Gerichtsbezirken (kaza oder kadılık) mit einem Richter (kadı) an der Spitze, die wiederum in einzelne Distrikte (nahiye) untergliedert waren. Innerhalb dieses Verwaltungssystems hatten die kadıs eine Doppelfunktion inne. Einerseits sprachen sie Recht, wobei sie ihre Urteile auf der Grundlage des religiösen Rechts (şeriat), des sultanischen Verordnungsrechts (kanun) und des Traditionsrechts (örf) fällten. Die von Rechtsgelehrten (müfti) erstellten Rechtsgutachten (fetva) waren für den Richter gewöhnlich nicht bindend. Andererseits nahmen die kadıs auch administrative Aufgaben wie die Überwachung der Frommen Stiftungen (vakıf) und die Verantwortung für den guten Zustand der Verkehrsinfrastruktur wahr. Meist oblag ihnen auch die Kontrolle des Marktgeschehens.23
Spätestens im 17. Jahrhundert durchlief die Provinzverwaltung einen tiefgreifenden Strukturwandel. Die Amtszeiten der Gouverneure sowie untergeordneter Amtsträger verkürzten sich, da einer immer größeren Zahl von Bewerbern weniger Stellen gegenüberstanden. Der daraus resultierende Konkurrenzdruck war eine wesentliche Ursache für die Herausbildung von Haushalten, die sich aus Familienmitgliedern und nicht verwandten Mitgliedern zusammensetzten. Diese sich ständig verändernden Gebilde sollten die notwendige Vernetzung im Verwaltungsapparat gewährleisten, die für eine erfolgreiche Laufbahn unabdingbar geworden war. Jedoch mussten die Statthalter und andere Würdenträger diese Haushalte auch zwischen ihren Amtszeiten finanzieren, so dass sie gezwungen waren, ihre Einnahmen zu erhöhen. Sie versuchten beispielsweise, möglichst vielen Angehörigen ihres Haushalts Steuerpachten zu verschaffen. Klagen über überhöhte Steuerforderungen hatten oftmals in diesem Strukturwandel ihre Ursache.24
Zu den wichtigsten Merkmalen des Strukturwandels zählte auch der Bedeutungszuwachs lokaler Notabeln (ayan). Die materielle Grundlage ihres Aufstiegs bildete Landbesitz, insbesondere in Form von çiftliks, und vor allem der Besitz einer Steuerpacht. Zunächst sollten sie die osmanische Verwaltung unterstützen, da diese insbesondere während des "Großen Türkenkrieges" (1683–1699) viele Aufgaben nicht mehr ausreichend wahrnehmen konnte. Jedoch blieben sie auch im 18. Jahrhundert unentbehrlich, so dass schließlich um 1725 das Amt (ayanlık) institutionalisiert und mit bestimmten Aufgaben versehen wurde. Immer wieder versuchten einzelne Familien, das ayanlık in Besitz zu nehmen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konnten beispielsweise die Familien Rizvanbegović ihre Macht in der Herzegowina oder die Bushattliu ihre Macht in Nord- und Mittelalbanien ausdehnen. In der traditionellen albanischen Nationalhistoriographie werden letztere häufig als Vorkämpfer einer nationalen Unabhängigkeit interpretiert, jedoch wollten sie – wie auch andere ayane des 18. Jahrhunderts – ihren Einflussbereich nur innerhalb des osmanischen Verwaltungssystems vergrößern. In Städten wie Sarajevo konnten sogar ärmere und christliche Einwohner das Amt des ayan erlangen. Im Gegensatz zu anderen Provinzen des Osmanischen Reiches gab es in Bosnien seit dem 16. Jahrhundert Kapetane, die zunächst vorwiegend an der Grenze zu den habsburgischen Gebieten anzutreffen waren. Im Verlauf der folgenden zwei Jahrhunderte breitete sich diese Institution in ganz Bosnien aus, wobei insbesondere ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Amt in vielen Fällen erblich wurde. Der Einfluss dieser lokalen Notabeln basierte wesentlich darauf, dass sie verschiedene militärische und administrative Funktionen ausübten. Viele von ihnen versuchten – auch in der Auseinandersetzung mit anderen Kapetanen – das ayanlık und die damit verbundenen Rechte zu erhalten. Häufig verdankten die Kapetane ihre Machtstellung jedoch v.a. dem Besitz einer Steuerpacht und ihrer Funktion als Truppenkommandeure.
Für die osmanische Verwaltung stellten die ayane eine ambivalente Institution dar. Einerseits waren sie inzwischen ein fester Bestandteil des imperialen Herrschaftsmechanismus geworden, andererseits drohten sie der Kontrolle der Hohen Pforte zu entgleiten. Die Zentralmacht konnte erst unter Mahmud II. (ca. 1785–1839)[] die ayane – auch durch den Einsatz militärischer Gewalt – ausschalten. 1835 wurden schließlich die Kapetane in Bosnien und der Herzegowina abgeschafft und durch Beamte ersetzt, die den Titel müsselim trugen. Sie wurden vom Gouverneur ernannt, wobei nicht wenige einstige Kapetane und ayane in dieses Amt berufen wurden. Die bis 1850 andauernden Revolten einzelner Kapetane wurden von osmanischen Truppen niedergeschlagen.25
Zu den Reformansätzen im 19. Jahrhundert gehörte auch eine Neugestaltung der osmanischen Territorialverwaltung, die mit dem Vilayet-Gesetz von 1864 in Kraft trat. Es wurde zunächst nur auf die im gleichen Jahr gegründete Donauprovinz angewandt, die aus den bisherigen Provinzen Silistra, Vidin und Niš gebildet wurde. Zu den Zielen der Reorganisation gehörte auch eine stärkere Beteiligung der nichtmuslimischen Bevölkerung. Eine weitere Ausgestaltung erfuhr das Gesetz ab 1867, wonach das Reichsterritorium in vilayets mit jeweils einem vali an der Spitze gegliedert werden sollte. Außerdem wurde dem Gouverneur nun auch ein Verwaltungsrat aus muslimischen und nichtmuslimischen Vertretern an die Seite gestellt. Das gleiche Prinzip fand auch auf der sancak-Ebene Anwendung und selbst in den Gerichtsbezirken war nun ein Verwaltungsrat vorgesehen.
Regionale Ausgestaltung der osmanischen Provinzverwaltung
Die osmanischen Herrschaftsstrukturen konnten jedoch nicht in allen Regionen implementiert werden. In einigen aufgrund der naturräumlichen Bedingungen nur schwer beherrschbaren Regionen begnügte sich die osmanische Verwaltung mit der formalen Anerkennung der Oberhoheit des Sultans, indem sie auf der Entrichtung eines Tributs (haraç) sowie der Heeresfolge bestand. Bis zum 18. Jahrhundert gab es auch immer wieder Versuche, in den nordalbanischen Bergregionen den von den dort lebenden Stämmen oft verweigerten haraç mit militärischen Mitteln einzutreiben. Tribale oder auf Geschlechterverbänden aufbauende Gesellschaften widersetzten sich immer Versuchen der osmanischen Verwaltung, sie enger in die Strukturen des Imperiums zu integrieren. In der südalbanischen Himara-Region kam es häufig zu Aufständen und die im südlichen Epirus lebenden Sulioten leisteten bis in das 19. Jahrhundert erheblichen Widerstand. Eine lockere Integration in den Reichsverband kennzeichnete auch die Stellung der "Schwarzen Berge" (Crna Gora/Montenegro), wo die Osmanen das Timarsystem nicht eingeführt hatten. Die Bevölkerung lebte vorwiegend nach einer Stammesverfassung, jedoch begannen seit dem späten 17. Jahrhundert die mehrheitlich aus der Familie Petrović Njegoš stammenden orthodoxen Bischöfe (vladika) von Cetinje zentralisierte Machtstrukturen zu schaffen.
In einigen dieser staatsfernen Räume entwickelten sich eigene Regelwerke zur Konfliktlösung, die als kanun (vom byzantinisch-griechischen kanon) bezeichnet wurden. Die Menschen im albanischen Raum kannten verschiedene Gewohnheitsrechte, wobei in Nordalbanien und in Teilen des Kosovo der nach Leka Dukagjin (1410–1481) benannte kanun galt. Er wurde erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem Franziskaner Shtjefën Gjeçovo (1873/1874–1929) verschriftlicht. Das Regelwerk enthält eine Vielzahl von Konfliktvermeidungsmöglichkeiten wie Schlichtung, Schadensersatz oder auch die Blutrache (wörtl. "Blutnehmen"). Letztere findet sich auch in anderen mediterranen Regionen (Korsika, Kreta), die ein ähnliches Gesellschaftsmuster aufweisen. Das "Blutnehmen" folgte festgelegten Regeln und traf nicht nur den Täter, sondern auch dessen männliche Verwandte. Insgesamt betraf der kanun alle wichtigen Teile des gesellschaftlichen Lebens und machte das osmanische Rechtsystem praktisch überflüssig. Bis in die Gegenwart erschwert das lebendige Gewohnheitsrecht die Durchsetzung zentralstaatlicher Rechtssysteme.26
Ebenso prägte der Rückgriff auf Strukturen, deren Ursprünge in vor-osmanischer Zeit lagen, die regionale Ausgestaltung der jeweiligen Provinzverwaltung. Insbesondere in den von orthodoxen Christen bewohnten Gebieten übernahmen als knez bezeichnete Distriktvorstände sowie Dorfvorstände (primikür, starešin, kocabaşı) administrative Funktionen, die sie, wie die ihnen übertragene Aufgabe der Steuereintreibung veranschaulicht, zu Mittlern zwischen der lokalen christlichen Bevölkerung und den osmanischen Autoritäten werden ließen.
Eine weitere Form der regionalen Ausgestaltung osmanischer Herrschaftsmechanismen war die Gewährung eines besonderen Status für bestimmte Bevölkerungsgruppen und Städte. Der auf der Halbinsel Chalkikide liegende "heilige Berg" Athos kam 1424 unter osmanische Oberhoheit. Die Mönchsrepublik entrichtete einen jährlichen Tribut und genoss im Gegenzug weitreichende Privilegien sowie innere Autonomie. Steuerliche Vorteile wurden auch den vorwiegend christlichen Martolosen27 und "Passwächtern" (derbendci) zuteil, die militärische und polizeiliche Aufgaben wahrnahmen. Klagen von Kaufleuten, die sich über Übergriffe von Passwächtern bei den osmanischen Autoritäten beschwerten, ließen die Frage nach deren Zuverlässigkeit aufkommen. Die osmanische Verwaltung hoffte mit Hilfe von Bürgen, die jeder "Passwächter" zu nennen hatte, eine interne soziale Kontrolle aufzubauen. Bergleute oder andere Bevölkerungsgruppen, die wichtige Dienste für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Osmanischen Reiches erbrachten, kamen ebenfalls in den Genuss von Steuererleichterungen. Einige Städte behielten ihre bereits in vor-osmanischer Zeit bestehenden Privilegien, anderen wurden aus unterschiedlichen Gründen, wie ihrer geostrategischen oder ökonomischen Bedeutung, Steuererleichterungen und andere Privilegien gewährt. In Sarajevo war sogar das Aufenthaltsrecht des Gouverneurs in der Stadt auf drei Tage beschränkt.28
Islamisierung
Mit der osmanischen Expansion etablierte sich der Islam endgültig im südosteuropäischen Raum, wo sich bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts insgesamt etwa ein Drittel der Bevölkerung zur neuen Religion bekannt haben dürfte. Die wenigen verfügbaren Schriftquellen erlauben jedoch kaum detaillierte Angaben über das Zahlenverhältnis von Konvertiten und zugewanderten muslimischen Bevölkerungsgruppen wie den als Yürüken bezeichneten Nomaden, den Derwischen oder muslimischen Händlern und Handwerkern. In dieser ersten Phase war die Islamisierung weitgehend auf die Städte beschränkt, in denen mit den Moscheen, Derwischkonventen und Frommen Stiftungen die religiöse Infrastruktur entstand. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts griff die Islamisierung auch auf den ländlichen Raum über und erreichte in den 1640er Jahren in vielen Gebieten Südosteuropas ihren Höhepunkt. Nur in Bosnien und der Herzegowina wurden bereits zu einem nicht bestimmbaren Zeitpunkt im späten 16. oder frühen 17. Jahrhundert die Muslime zur größten Bevölkerungsgruppe. Im 18. Jahrhundert gab es in den osmanischen Gebieten Südosteuropas keine großen Konversionswellen mehr.
Der Blick auf die genannten Islamisierungsphasen zeigt, dass es sich um langfristige Prozesse mit starken regionalen Unterschieden handelte. Monokausale Erklärungsversuche für den Übertritt zum Islam können den historischen Gegebenheiten nicht gerecht werden, schließlich führten unterschiedliche Faktoren zur Islamisierung großer Gebiete Südosteuropas. Die Vermeidung der Kopfsteuer (cizye) für Nichtmuslime wird häufig als Motiv genannt, doch kann dieses Argument als eines von mehreren Motiven bestenfalls für das 17. Jahrhundert angeführt werden, als angesichts einer insgesamt gestiegenen Steuerlast der Glaubenswechsel die Möglichkeit eröffnete, wenigstens der Kopfsteuer zu entgehen. Ebenso wird die Furcht vor der "Knabenlese" (devşirme) hervorgehoben, die Christen zur Konversion veranlasst habe. Es handelte sich dabei um die Rekrutierung christlicher, in Bosnien auch muslimischer Knaben, die vorwiegend als Janitscharen oder Palastangehörige in den Dienst des Sultans genommen wurden. Einige von ihnen erklommen die höchsten Stufen der Karriereleiter und hatten sogar das Großwesirat inne. 25 von 92 Großwesiren, die zwischen dem 15. und dem 17. Jahrhundert dieses Amt bekleideten, kamen aus dem albanischen Raum. Seit dem 16. Jahrhundert fand die devşirme alle ein bis fünf Jahre statt und wurde letztmals zu Beginn des 18. Jahrhunderts praktiziert.
In die Diskussion um die Bedeutung der "Knabenlese" für die Konversionsprozesse in Südosteuropa fließt meist die Frage ein, ob die Islamisierung erzwungen oder freiwillig erfolgte. Berichte über Zwangskonversionen liegen zwar aus verschiedenen Regionen vor, doch müssen sie jeweils mit Vorsicht gelesen werden. Chronisten berichten beispielsweise über Zwangskonversionen in Gebieten des heutigen Makedonien und den Rhodopen, die im 16. und 17. Jahrhundert stattgefunden haben sollen. Jedoch wurden diese Chroniken erst im 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund des aufkommenden Nationalismus und einer "antitürkischen" Propaganda verfasst. Die Auswertung zeitgenössischen Quellenmaterials lässt die Erzählungen der Chronisten als nicht haltbar erscheinen. Inwieweit Übergriffe auf Nichtmuslime zum Religionswechsel führten, lässt sich nur schwer feststellen. Aus den albanischen Gebieten sind insbesondere während und nach Kriegen mit christlichen Mächten solche Vorfälle belegt. Soldaten plünderten manchmal auch Häuser von Nichtmuslimen, wenn der Sultan gestorben war.
Lokale oder regionale Formen von Gewaltanwendung zählten jedoch nicht zu den wichtigsten Gründen der Islamisierung. Bedeutsamer waren Faktoren wie die schwache kirchliche Infrastruktur in einigen Regionen Südosteuropas vor der osmanischen Eroberung. Im bosnisch-herzegowinischen Raum hatte die Existenz der "Bosnischen Kirche" die Etablierung fester katholischer und orthodoxer Strukturen verhindert. Da kein dichtes Netz an Pfarreien und damit auch keine intensive seelsorgerische Betreuung vorhanden war, gab es auch keine engere Bindung der Menschen an die beiden christlichen Kirchen. Der Charakter der "Bosnischen Kirche" ist bis heute Gegenstand kontroverser Diskussionen. Enge Verbindungen zu den Bogomilen lassen sich in den zeitgenössischen Quellen nicht nachweisen und auch über Kontakte zu westeuropäischen Ketzerbewegungen wie den Albigensern, Waldensern oder Katharern ist nur sehr wenig bekannt. Die Kirchenorganisation, an deren Spitze der Djed oder Gost stand, wies Parallelen zu mönchischen Strukturen im ostkirchlichen Raum auf, wie sie von Basileus dem Großen (330–379) geprägt worden waren. Zum Zeitpunkt der osmanischen Eroberung war die "Bosnische Kirche" bereits erheblich geschwächt, so dass im ersten osmanischen Steuerregister nur noch 120–130 Haushalte von Angehörigen dieser Kirche ("Krstjani") zu finden sind.
Eine nur schwache Anbindung an die christlichen Kirchen existierte auch in den bulgarischen Gebieten, in denen das Bogomilentum den Ausbau einer orthodoxen Kirchenstruktur nicht ermöglichte. Die von Bogomil im 10. Jahrhundert verkündete Lehre bestand aus einem religiösen Dualismus, ihre praktische Anwendung führte zum Konflikt mit den politischen und kirchlichen Herrschaftsstrukturen. Das angestrebte Ideal war ein reines "apostolisches" Leben, in dem Beten, Fasten und Pilgern den Alltag bestimmen sollten. Ausgehend von Bulgarien verbreitete sich das bogomilische Gedankengut in Byzanz, den anderen Teilen des Balkanraumes und auch in Russland.
Von Bedeutung für die Islamisierungsprozesse war auch das Wirken islamischer mystischer Bewegungen (Derwische), von denen insbesondere im albanischen Raum die Bektaschis eine wichtige Rolle gespielt haben dürften. Sie errichteten ihre Konvente (tekke, zaviye) häufig in der Nähe bekannter Wallfahrtsorte und integrierten Elemente des Volksglaubens in ihre religiösen Praktiken. So konnte sich ein Volksislam herausbilden, der die Konversion zu einem "fließenden Übergang" werden ließ. In den staatsfernen Gebirgsregionen Albaniens, wo osmanische Herrschaftsstrukturen kaum oder überhaupt nicht präsent waren, lebten Kryptochristen, die sich nach außen als Muslime deklarierten, aber weiterhin christliche Riten vollzogen. Das religiöse Leben in Südosteuropa prägten auch interreligiöse synkretistische Erscheinungsformen, wenn Muslime und Christen beispielsweise die gleichen Wallfahrtsorte aufsuchten, Muslime ihre Kinder taufen ließen oder Christen den Imam um Gebete für ihren Nachwuchs ersuchten.29
Katholisches und orthodoxes Christentum sowie Judentum
In den südosteuropäischen Gebieten des Osmanischen Reiches lebten Christen im nördlichen Albanien, auf den griechischen Inseln, in Ungarn und in Bosnien, wo sie von Franziskanern seelsorgerisch betreut wurden. Letztere waren vermutlich bereits Ende des 13. Jahrhunderts nach Bosnien gekommen, um das von Rom bestimme Christentum gegenüber der "Bosnischen Kirche" zu stärken. 1339/1340 gründeten sie das Vikariat Bosnien, das sich bis zum Schwarzen Meer erstreckte. Die sich aus der osmanischen Expansion ergebenden neuen Rahmenbedingungen erforderten eine Neuorganisation des Ordens, so dass es 1514 zu einer Teilung des Vikariats kam. Es entstanden eine "kroatische Provinz" (Provincia Croatiae), die alle nicht-osmanischen Gebiete umfasste sowie die Provincia Bosnae Argentinae, die sich vor allem auf Bosnien erstreckte. Die Franziskaner hatten bereits von Mehmet II. umfangreiche Privilegien erhalten, zu denen die Bewegungsfreiheit der Geistlichen, ungehinderte Religionsausübung, Besitz und Reparatur der Kirchen, weitreichende Steuerbefreiungen sowie Schutz vor Übergriffen und Belästigungen durch die orthodoxen Patriarchen und Metropoliten gehörten. Diese Bestimmungen wurden im 17. und 18. Jahrhundert erneuert, wenngleich sie spätestens im 18. Jahrhundert schwerer gegenüber den lokalen Autoritäten durchzusetzen waren. Die Gründe sind u.a. in den beschriebenen Veränderungen innerhalb der osmanischen Verwaltungsstrukturen zu suchen. Die Zentren franziskanischen Wirkens bildeten die Konvente, die mehrere Pfarreien seelsorgerlich betreuten. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bemühten sich die Klöster verstärkt darum, auch außerhalb von Bosna Argentina gelegene Pfarreien zu übernehmen. In einigen Fällen gelang es ihnen sogar, die Unterstützung osmanischer Autoritäten für solche Vorhaben zu gewinnen. Der Hintergrund war eine zunehmende Verschlechterung der finanziellen Situation franziskanischer Konvente, die daher vor allem auf die als congrua bezeichneten Einnahmen aus den Gemeinden angewiesen waren. Die bosnischen Franziskaner waren neben den Jesuiten die wichtigsten Stützen für die 1622 gegründete Congregatio de Propaganda Fide, der vom Heiligen Stuhl u.a. die Organisation der Missionstätigkeit in den südosteuropäischen Provinzen des Osmanischen Reiches übertragen wurde. Apostolische Vikare reisten vor allem durch Bosnien, die Herzegowina und die albanischen Gebiete, um einen Überblick über die Zahl der Katholiken, den Zustand der Kirchen und Klöster sowie die seelsorgerliche Betreuung der Pfarreien zu bekommen. Ihre Berichte an die Kongregation in Rom gehören zu den wichtigsten Dokumenten über das Leben der katholischen Bevölkerung in diesen Regionen.30
Das nominelle Oberhaupt aller orthodoxen Gläubigen im Osmanischen Reich war der ökumenische Patriarch von Konstantinopel, dessen Amtssitz seit 1601 im Stadtteil Phanar (türk. Fener) liegt. Jedoch gelang es dem Patriarchen zunächst nicht, diesen Anspruch Wirklichkeit werden zu lassen. Im südosteuropäischen Raum hatten das autokephale Erzbistum von Ochrid und das Patriarchat von Peć seine Macht stark eingeschränkt. Beide Kirchen besaßen eine gemeinsame Vergangenheit, da bis zur Gründung einer autokephalen serbischen Kirche im Jahre 1219, die der hl. Sava (ca. 1174–ca. 1235) vom ökumenischen Patriarchen Manuel I. (gest. ca. 1221) erlangte, Serbien der Jurisdiktion von Ochrid unterstanden hatte. Mit dem Untergang der letzten Reste serbischer Staatlichkeit 1459 kam die serbische Kirche erneut unter Ochrider Oberhoheit, ehe dann 1557 das Patriarchat von Peć unter osmanischer Herrschaft wieder errichtet wurde. Sowohl das Patriarchat von Peć als auch das autokephale Erzbistum von Ochrid wurden 1766/1767 durch ein Dekret Sultan Mustafas III. (1717–1774) aufgelöst. Innerkirchliche und politische Entwicklungen führten zu diesem Schritt, der dem ökumenischen Patriarchen nun die uneingeschränkte Gerichtsbarkeit über die orthodoxen Christen in den osmanischen Gebieten Südosteuropas ermöglichte. Die beiden Kirchen waren in das Patronagesystem des ökumenischen Patriarchats eingebunden gewesen und hatten unter einer zunehmenden Abgabenlast zu leiden. Außerdem erhöhte sich ihnen gegenüber das Misstrauen der osmanischen Verwaltung, nachdem Patriarch Arsenije III. Crnojević (1633–1706) 1690 ins habsburgische Ungarn geflohen war und Karlowitz zu seinem Amtssitz gemacht hatte. Auch später gaben die Patriarchen den Osmanen immer wieder Anlass, an ihrer Loyalität gegenüber dem Sultan zu zweifeln. Daher dürfte es Mustafa III. entgegengekommen sein, als nicht nur das ökumenische Patriarchat, sondern 1766 auch das Patriarchat von Peć um die Auflösung der Selbständigkeit der serbischen Kirche baten.
Die Patriarchen von Peć hatten sich als Bewahrer des nemanjidischen Erbes verstanden und setzten sich damit in eine Kontinuitätslinie zur Dynastie der Nemanjiden, die das mittelalterliche serbische Herrschaftsgebilde errichtet hatten. In ihrer Titulatur bezeichneten sie sich als "Patriarchen der Serben, Bulgaren und anderer Länder". In einigen Urkunden werden neben Serbien und Bulgarien auch das "Küstenland", das "westliche Küstenland" oder das "westliche Land" genannt. Letzteres bezeichnete nicht nur Dalmatien, sondern auch Bosnien und die Herzegowina. Der darin zum Ausdruck gebrachte Jurisdiktionsanspruch fand auch in den Abgabenforderungen an die nicht der Orthodoxie angehörenden Christen seinen Ausdruck, gegen die sich die Franziskaner vor dem kadı wehrten.
Zu den wichtigsten Trägern der Erinnerungskultur entwickelten sich die Klöster im inneren Balkan und auf dem Athos, wo die slawischen Klöster zunehmend an Bedeutung gewannen. 1169 ließen sich russische Mönche im verfallenen Panteleimonos-Kloster nieder und 1189 ließen die Nemanjiden das spätere Hilandar-Kloster renovieren. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts entwickelten sich zwischen dem russischen Zaren und der serbisch-orthodoxen Kirche enge Beziehungen. Mönche aus dem Hilandar begaben sich regelmäßig nach Moskau und baten den Zaren um materielle Hilfe. In der Hoffnung auf Unterstützung für ihr Kloster zogen sie auch durch Teile Anatoliens, die südosteuropäischen Gebiete des Osmanischen Reiches, Österreich und Polen. Während ihren Reisen konnten sie auf ein weitverzweigtes Netz von Metochien (griech. Metochia, serb. Metoh) zurückgreifen, bei denen es sich um "Zweigniederlassungen" der Athosklöster handelte, die ihnen die Osmanen als Stiftungsbesitz belassen hatten.31
Nach dem Ende der spanischen Reconquista (1492) fanden zahlreiche Juden Zuflucht im Osmanischen Reich. Viele von ihnen ließen sich in Saloniki nieder, das sich zur einzigen frühneuzeitlichen Großstadt in Europa mit mehrheitlich jüdischer Bevölkerung entwickelte. Seit dem 16. Jahrhundert gab es auch in Sarajevo zahlreiche sephardische Juden, die sich vorwiegend mit Tuchhandel beschäftigten und sich daher in diesem innerbalkanischen Handelszentrum niederließen. Zum Symbol jüdischen Lebens in Sarajevo wurde die "Haggada", eine im 14. Jahrhundert auf der iberischen Halbinsel angefertigte Bildhandschrift. Ein Charakteristikum der Sephardim im Osmanischen Reich war das Spaniolische, das sie aus Spanien mitgebracht hatten. Die jüdischen Kaufleute integrierten sich in das Wirtschaftsleben des Osmanischen Reiches, wurden jedoch ab dem späten 16. Jahrhundert von Griechen und Armeniern zunehmend aus dem Fernhandel gedrängt. Die jüdische Elite trat nun stärker als Steuerpächter und Inhaber von "Staatsmonopolen" in Erscheinung, was einem zunehmenden Integrationsprozess in die osmanische Gesellschaft und einer schwächer werdenden Verbindung mit dem christlichen Europa entsprach.32
Städtisches Leben
Im Zentrum osmanischer Städte befand sich meist das Geschäftsviertel (çarşı) mit einem bedesten, einem überdachten und abschließbaren Gebäude, in dem Waren und persönlicher Besitz aufbewahrt wurden. Die Handwerker hatten – geordnet nach Berufsgruppen – ihre Läden und Werkstätten in den Gassen des Geschäftsviertels. Der Alltag in diesem Teil der Stadt wurde stark von Zünften bestimmt, deren hierarchischer Aufbau ebenso variierte wie ihre Zusammensetzung. In einigen Gilden bestanden die Mitglieder nur aus Anhängern einer einzigen Religion, während andere eine multikonfessionelle Struktur besaßen. Im 17. und insbesondere im 18. Jahrhundert ließen sich immer mehr Handwerker in das Janitscharenkorps aufnehmen, um deren Prestige und Steuerprivilegien zu genießen. Ebenso ging eine steigende Zahl von Soldaten einem Handwerk nach. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es Städte in Südosteuropa, deren männliche Bevölkerung mehrheitlich dem Janitscharenkorps angehörte. Aber nur noch ein geringer Teil der offiziell als Janitscharen geführten Soldaten stand für den aktiven Militärdienst zur Verfügung. Als diese einstige Eliteeinheit der osmanischen Armee 1826 aufgelöst wurde, gab es daher gerade in den Städten erheblichen Widerstand.
Im Stadtzentrum befanden sich auch die wichtigsten öffentlichen Einrichtungen, unter denen häufig die Sultans-Moscheen herausragten, die nach dem jeweiligen Eroberersultan benannt wurden. Zum Moscheenkomplex gehörten die Armenküche (imaret) und meist auch die Knabenschulen (mekteb). Daneben prägten Thermal (ılıca)- und Dampfbäder (hamam) das Erscheinungsbild osmanischer Städte. Für den Unterhalt dieser Einrichtungen sorgten vor allem Stiftungen, die sich aus frommen oder gemeinnützigen Stiftungen (vakıf) sowie Familienstiftungen zusammensetzten. Läden, Bäder, Basare, Schulen und andere Bestandteile der öffentlichen Infrastruktur wurden mit Hilfe religiöser Stiftungen gebaut und unterhalten. Solche vakıfs konnten von Männern und Frauen muslimischen oder christlichen Glaubens gegründet werden, sofern sie frei waren und ihnen das Stiftungsgut als volles Eigentum gehörte. In vielen Fällen spielte auch das Mäzenatentum eine wichtige Rolle. Im 15. und 16. Jahrhundert ahmten Wesire oder Gouverneure die Architektur in der Hauptstadt nach, wenn sie in den Provinzen Moscheen, Mausoleen, Bäder und andere Gebäude errichten ließen. Einige hochrangige Würdenträger, die im Rahmen der "Knabenlese" nach Istanbul kamen und in die höchsten politischen Ämter aufstiegen, förderten die Errichtung öffentlicher Gebäude in ihren Herkunftsregionen. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts fungierten immer häufiger "Verwaltungsdynastien" wie die Köprülüs, die zwischen 1656 und 1695 mehrere Großwesire stellten, als Mäzene. Sie ließen beispielsweise in Candia (Heraklion) Zitadellen, Brunnen, Straßen und Plätze errichten.
Während das Geschäftsviertel den öffentlichen Raum einer Stadt darstellte, spielte sich das private Leben vorwiegend in den einzelnen Stadtvierteln (mahalle) ab, wo meist Menschen gleicher Ethnie, Religion, Konfession oder Herkunftsregion lebten. Die Viertel, in denen der Alltag nach den von den Bewohnern gepflegten Regeln und Traditionen organisiert wurde, entwickelten eigene, bis heute wirkungsmächtige Identitäten. Den Menschen bot dieses Umfeld Schutz und Fürsorge, andererseits schuf es auch eine Atmosphäre ausgeprägter Sozialkontrolle. Die Anordnung der Viertel machte häufig auch die Verteilung des Wohlstands in einer Stadt sichtbar. Die ärmeren Einwohner lebten meist in den städtischen Außenbezirken, die sich erkennbar von den mahalles unterschieden, in denen die wohlhabende Oberschicht ihre Häuser hatte. Der wirtschaftliche Aufschwung zahlreicher Städte im 17. und 18. Jahrhundert ermöglichte immer mehr Stadtbewohnern einen gesellschaftlichen Aufstieg und die Angehörigen dieser wachsenden urbanen Elite pflegten stärker lokale Bautraditionen. Im albanischen Berat errichteten wohlhabende Einwohner im Stadtteil Mangalem mehrstöckige Häuser, die sich durch Erker und Lauben vom ländlichen Stil deutlich abgrenzten.33