Vorbemerkung
Das Verhältnis zwischen dem westlichen Europa und dem Islam ist über lange Zeit grundsätzlich durch einen fundamentalen religiös-politischen Gegensatz geprägt gewesen. Die große Zahl der sich über ein Jahrtausend – vom 8. bis zum 18. Jahrhundert – hinziehenden Konflikte darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es friedliche Phasen mit intensiven Handelsbeziehungen, aber auch mit Ideen- und Rechtstransfer gegeben hat.
Ob in kriegerischen oder in friedlichen Zeiten, das Verhältnis Europas zum Islam ist zweifellos dadurch bestimmt, dass der Islam bis zum Rückzug des Osmanischen Reichs wie keine andere Kultur eine Herausforderung für das westliche Europa darstellte. Diese Auseinandersetzung hat den Ausbau einiger Rechtsgebiete in Europa erkennbar beeinflusst. Aus der Konfrontation mit islamischen Mächten ergab sich eine "internationalrechtliche" Ebene (unten 2.), und dem Auftreten von muslimischen Minderheiten sind "minderheitenrechtliche" Bestimmungen zu verdanken (unten 3.). Im Zuge der jahrhundertelangen friedlichen und kriegerischen Kontakte ist es aber auch zu einem durchaus erwähnenswerten Transfer islamischen Rechts in den Westen gekommen (unten 4.).
Gemeinsam ist diesen drei Rechtsebenen, dass sie im Mittelalter ihre erste Ausprägung erfahren und in die Neuzeit hinein gewirkt haben sowie in jüngster Zeit und unter anderen Vorzeichen wieder an Bedeutung gewonnen haben.
Die islamische Völkerrechtskonzeption wird gegenwärtig vielfach als Kontrastprogramm zu dem im europäischen Kontext entstandenen Völkerrecht gesehen und stößt in Verbindung mit Versuchen, dessen Dominanz zu verringern, in den letzten Jahrzehnten auf vermehrtes Interesse.1
Was die minderheitenrechtliche Ebene betrifft, so gehört die Einwanderung von Muslimen in europäische Staaten zu einem gerade hinsichtlich rechtlicher Konsequenzen vielbeachteten Phänomen der letzten Jahrzehnte, und die einschlägige Forschungsliteratur ist nahezu unübersehbar geworden. Dabei zeigt sich, dass einerseits auf Seiten der aufnehmenden europäischen Staaten meist die historische Erfahrung mit muslimischen Minderheiten fehlt. Andererseits müssen die einwandernden Muslime erst ihre Erfahrungen machen mit der Minderheitensituation in einem demokratischen Rechtsstaat, in dem zwar religionsfreiheitsrechtlich garantierte Freiräume existieren, die allerdings mit den Grundrechtsschranken abzuwägen sind.
Was schließlich die aktuelle Berücksichtigung des Islam bzw. islamischen Rechts in der europäischen Gesetzgebung und der Gesetzgebung der europäischen Staaten betrifft, so sind zwei Aspekte ins Auge zu fassen. Einerseits wird seit geraumer Zeit in einigen Staaten (insbesondere in Kanada und England) die Anerkennung islamischen Rechts bzw. der sich darauf gründenden Konfliktlösungsinstrumente (islamische Gerichte, islamische Mediation) diskutiert. Ein Konzept, das im Rahmen eines staatlichen Rechtssystems eine Rechtsordnung vorsieht, die insofern gespalten wäre, als für die Angehörigen unterschiedlicher Religionen ihr jeweiliges religiöses Recht gelten sollte, wird in der juristischen Fachliteratur praktisch einhellig zurückgewiesen, da es nicht nur aus rechtsstaatlicher Sicht einen historischen Rückschritt bedeuten würde, sondern auch eine Reihe von nur schwer lösbaren praktischen Problemen mit sich brächte.2
Andererseits haben staatliche Gesetzgebung und Rechtsprechung zunehmend auf Normen und Bräuche reagiert, die – zu Recht oder zu Unrecht – mit dem Islam in Verbindung gebracht werden. Dazu gehört die Einführung von Bekleidungsvorschriften, die Regelung der Präsenz religiöser Symbole in der Öffentlichkeit und baurechtliche Vorschriften, die Formulierung von – angeblich religiös bzw. kulturell bedingten – besonderen Straftatbeständen wie Zwangsehe, Genitalverstümmelung, "Ehrenmord" und Terrorismus.
Der Islam als externer Faktor der europäischen Rechtsgeschichte
Der Islam wirkte sich als externer Faktor in der europäischen Rechtsgeschichte bei der Entstehung des Völkerrechts, der Ausgestaltung des "internationalen" Vertragsrechts und des Rechts der Handelsbeziehungen aus.
Zu den ersten ernsteren theoretischen – überwiegend theologischen – Auseinandersetzungen mit dem Islam war es im Westen erst im 10. Jahrhundert gekommen. In die bedeutendste Kirchenrechtssammlung, das Decretum Gratiani (1141),3 war zwar ein Brief von Papst Alexander II. (gest. 1073) aufgenommen worden, welcher die unterschiedliche Behandlung betont, die man den friedlichen Juden und den aggressiven und zu bekämpfenden Muslimen angedeihen lassen müsse,4 es finden sich darin jedoch "keine Aussagen zu Kreuzzug und Heidenkampf".5 Die seit dem Ende des 12. Jahrhunderts entstehenden Dekretalensammlungen6 enthalten dann aber regelmäßig einen eigenen Titel "Über Juden und Sarazenen". Für die Außenbeziehungen war von Bedeutung, dass dieses Dekretalenrecht spezielle Verbote für Christen enthielt, Waffen an Muslime zu verkaufen. In canon 24 des dritten Laterankonzils (1179) wurde die Lieferung von Waffen, Eisen und Holz für den Schiffsbau an die Sarazenen mit Exkommunikation bedroht. Das vierte Laterankonzil (1215) hat in seinem canon 71, der eine Zusammenfassung des päpstlichen Kreuzzugsrechts enthielt, dieses Verbot wiederholt. In der 1234 promulgierten und in das Corpus Iuris Canonici7 übernommenen Dekretalensammlung Papst Gregors IX. (ca. 1170–1241) wurden alle diese Dekretalen und Synodalbeschlüsse schließlich zusammengefasst.8 Damit waren die Kanonisten gezwungen, sich auch mit den äußeren Rechtsverhältnissen zu islamischen Herrschaften in ihren Kommentaren auseinanderzusetzen.
Vor allem die Dekretale Papst Innozenz' III. (1160–1216) Quod super his,9 in der die Frage behandelt wurde, ob es zulässig sei, einen Kreuzzugseid durch eine andere Leistung zu erfüllen, erwies sich als folgenschwer. Sie regte Papst Innozenz IV. (ca. 1195–1254) zu der bedeutsamsten juristischen Erörterung des Themenkomplexes im Mittelalter an, indem er sich zwei grundsätzliche Fragen stellte: "Ist es erlaubt, Länder Andersgläubiger anzugreifen? Und wenn es erlaubt ist, aus welchem Grunde?"10 Er hielt zunächst fest, dass es weder dem Papst noch anderen Gläubigen erlaubt sei, den Andersgläubigen ihre Herrschaft einfach wegzunehmen. Alle Menschen, auch Nichtchristen, seien legitime Träger von Herrschaft und Eigentum. Diese Rechte kämen ihnen zu wie der Sonnenschein, der alle Menschen wärme. Lediglich auf das Heilige Land, im Besonderen Jerusalem, bestehe ein päpstlicher Rechtsanspruch, für den er mehrere Rechtstitel geltend machte. Diesem relativ offenen Konzept stand die rigorose Position des führenden Kanonisten Henricus de Segusio, genannt Hostiensis (ca. 1200–ca. 1270) gegenüber: Ohne Legitimation der römischen Kirche gebe es keine legitime Herrschaft – eine Lehre, die in der Folge von papalistischen Autoren des Spätmittelalters übernommen wurde.11
Allgemein sah die Mehrzahl der christlichen Theologen und Juristen des Mittelalters – wie ihre islamischen Kollegen – andersgläubige Herrschaften als mögliche Vertragspartner an. Und so sind die Regelungen der Handelsbeziehungen mit islamischen Herrschaften Teil der externen europäischen Rechtsgeschichte geworden. Es entstand ein mediterranes Handelsvertragsrecht, bei dem einerseits auf den mit Byzanz bestehenden Verträgen aufgebaut werden konnte, andererseits aber auch islamisches Rechtsdenken seinen Niederschlag gefunden hat. Vorangetrieben wurde diese Entwicklung vor allem durch Venedig, das bereits an der Wende zum 11. Jahrhundert seine restriktive Handelspolitik gegenüber den islamischen Herrschaften aufgegeben hatte. In der Folge wurden nach dem Vorbild der Verträge mit Byzanz die Handelsbeziehungen besonders zu Ägypten ungeachtet der Kreuzzugskonflikte immer weiter ausgebaut.12 Diese westliche Dominanz zur See wurde zwar zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert durch die auch maritime Expansion des Osmanischen Reichs in Frage gestellt, nichtsdestoweniger wurden die Handelsbeziehungen aber auch in diesen Zeiten weitergeführt.
Mit der Niederlage bei der Seeschlacht von Lepanto 1571 wurden dem Osmanischen Reich die Grenzen als Seemacht aufgezeigt, was das neuerliche Aufblühen eines inhaltlich paritätischen "internationalen" Vertragsrechts zur Folge hatte. Nach dem Friedensschluss von 1573 kam es dann unter anderem auch zur Gründung des Fondaco dei Turchi, einer Niederlassung türkischer Händler in Venedig.13
Auch am anderen Ende des Mittelmeeres, auf der Iberischen Halbinsel, entstand eine spezifische "christlich-islamische Vertragspraxis", die über das islamische Gelehrtenrecht hinauswies und im Bereich des Völkervertragsrechts die Entwicklungsmöglichkeiten des islamischen Rechts zu Beginn der Neuzeit verdeutlichte: "Granada ist europäisch, weil Europa Teil eines noch nicht europäisch dominierten Weltsystems und Granada Teil Europas und Teil der arabisch-muslimischen Welt ist, ...".14
Die von Papst Innozenz IV. entwickelten Kategorien für das Verhältnis zu islamischen (=nichtchristlichen) Mächten bekamen schließlich noch einmal in einem anderen Zusammenhang geradezu welthistorische Bedeutung. Als sich die Frage der Legitimität der spanischen Eroberungen in Amerika stellte, wurden die berühmten Diskurse der spanischen Juristen und Theologen fast ausschließlich mit den Argumenten geführt, welche die mittelalterlichen Kanonisten für den Verkehr mit der islamischen Welt entwickelt hatten. Der für die Ausbildung des neuzeitlichen Völkerrechts so wichtige Francisco de Vitoria (1483–1546) knüpfte dabei an die Lehre Innozenz' IV. an. Er weitete sie aber insofern aus, als er aus der Legitimität nichtchristlicher Herrschaft die Idee einer alle Menschen verbindenden Gemeinschaft ableitete. Zugleich wurde diese aus einem religiös geprägten Sinnzusammenhang herausgehoben und auf eine irdisch bestimmte rechtliche Weltgemeinschaft gegründet.
Die kirchlichen Juristen des Mittelalters hatten also mit ihren Argumenten für die rechtliche Begrenzung des Krieges gegen den Islam und die Möglichkeit des friedlichen Umgangs mit den Muslimen das Material geliefert, das 300 Jahre später zur Entstehung des neuzeitlichen europäischen Völkerrechts führte.
Die Muslime als Minderheit in der europäischen Rechtsgeschichte
Im Westen wurden die Muslime nicht nur als äußere militärische Gefahr betrachtet, sondern man musste sich auch mit Muslimen auseinandersetzen, die unter westlich-christliche Herrschaft kamen. Ihre Existenz stellte beide Seiten vor rechtliche Herausforderungen.
Nach klassischer islamischer Theorie ist bei der Beurteilung dieser Minderheiten von der Aufteilung der Welt in zwei Gebiete auszugehen: dem "Gebiet des Islam" (dār al‑Islām) und dem Gebiet der Nicht-Muslime, das unter Berücksichtigung der Umstände der damaligen Zeit als "Gebiet des Krieges" (dār al‑harb) bezeichnet wird. Zum Gebiet des Islam gehörte prinzipiell jedes Land, in dem sich die Menschen zum islamischen Glauben bekannten und in dem das islamische Gesetz die Grundlage des Staates und der Gesellschaftsordnung bildete. Alle anderen Gebiete galten als "Gebiete des Krieges", bei denen potentiell die Gefahr einer Auseinandersetzung bestand.
Diese Aufteilung der Welt war aber bereits im Mittelalter nicht mehr konsequent durchzuhalten. Es wurde daher von einigen islamischen Juristen eine dritte Kategorie eingeführt, das Gebiet des Vertrags (dār al-ahd) bzw. verwandte Begriffe. Wenn die Muslime in einem Land in Sicherheit leben und unbehelligt ihre religiösen Pflichten erfüllen können (daher als dār al-aman bezeichnet), entfalle die Pflicht zur Auswanderung und man dürfe dieses Gebiet, auch wenn dort das Gesetz der Nicht-Muslime vorherrsche, nicht mehr als islamfeindliches Land betrachten. Nach der Lehre einiger Juristen erlangt es in diesem Fall sogar den Stellenwert eines islamischen Territoriums.15 Dieses offene Konzept wurde allerdings nicht von allen Rechtsschulen akzeptiert.
Für das christliche Europa stellten die Muslime mit ihrem Anspruch, die biblische Offenbarung weiterzuführen, eine grundsätzlich neue Herausforderung dar.16 Sie unterschieden sich damit von den Juden, denen seit der Spätantike als dem Volk des Alten Bundes eine Sonderstellung eingeräumt worden war. Ungeachtet dieses theologischen Problems und der unterschiedlichen Bewertung aus militärischen Gründen kam es zunächst zur analogen Anwendung des Sonderrechts für jüdische Gemeinschaften.17 Die einschlägigen Dekretalen enthalten Regelungen für den Verkauf von christlichen Sklaven an Juden und Muslime und das Verbot der Übertragung öffentlicher Ämter an Angehörige der beiden Religionen. Das vierte Laterankonzil (1215) nimmt diese Bestimmungen nochmals auf und ergänzt sie durch besondere Bekleidungsvorschriften für Juden und Sarazenen (canon 68).
Das im antiken und mittelalterlichen Personalitätsprinzip18 wurzelnde Judenrecht hatte solcherart einen prägenden Einfluss auf das europäische Recht für muslimische Minderheiten. Es darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, dass das islamische Recht in der gleichen Tradition stehend ein religiös bestimmtes Personalitätsprinzip mit besonderen Bestimmungen für die Angehörigen der Buchreligionen (ahl al-kitāb) entwickelt hat, die zu diskriminiert-tolerierten Schutzbefohlenen (ḏimmī/Dhimmi) wurden. Neben den Regeln des eigenen Judenrechts hat das islamische Minderheitenrecht die Behandlung der Muslime unter christlicher Herrschaft beeinflusst: Als 1091 nach der abgeschlossenen normannischen Eroberung Siziliens eine größere muslimische Bevölkerung unter westlich-christliche Herrschaft kam, wurde für Juden und Muslime im Wesentlichen das islamische Dhimmi-Konzept übernommen. Für die Leistung spezieller Abgaben wurden ihnen die Ausübung ihrer Religion und innere Autonomie durch eigene Rechtsprechung garantiert.
Auch in Spanien brachten vor allem die militärischen Erfolge Jakobs I. von Aragon (1208–1276) ab der Mitte des 13. Jahrhunderts eine wachsende Zahl spanischer Muslime unter christliche Herrschaft. Um die Entvölkerung der eroberten Gebiete zu verhindern, begegnete man den verbleibenden Muslimen nicht nur mit Toleranz, sondern Jakob I. förderte gezielt muslimische Ansiedlung. Dabei erfolgte gleichsam eine Spiegelung des islamischen Rechts. Die Toleranz umfasste die Religionsausübung, lediglich der öffentliche Gebetsruf wurde untersagt. Ausdrücklich verboten war es auch, Muslime zur Konversion zum Christentum zu zwingen.
Noch zu Beginn des 14. Jahrhunderts wird in den Aufzeichnungen der Leyes de Moros, welche die Rechtsstellung der muslimischen Untertanen in den christlichen Reichen regelten, ein gewisses Maß an Toleranz deutlich, zur gleichen Zeit nahmen aber auch die restriktiven Maßnahmen zu. Obwohl nach der Eroberung von Granada 1492 die Toleranz gegenüber den Muslimen immer mehr eingeschränkt wurde, hielt sich in Spanien bis in das 17. Jahrhundert eine muslimische Minderheit.
Als letztes – mittelbares – Beispiel des Einflusses des islamischen Minderheitenrechts auf die frühneuzeitliche europäische Rechtsgeschichte ist auf die Privilegien Kaiser Leopolds I. (1640–1705) von 1690 für orthodoxe Emigranten aus dem Osmanischen Reich zu verweisen.19 Im Sinne des islamischen Dhimmi-Konzepts standen der serbische Patriarch und seine Bischöfe an der Spitze des emigrierenden Volkes. In Verhandlungen mit dem Kaiser setzten sie auch die Zuerkennung von Rechten durch, die ihnen als Häupter ihres Volkes im Osmanischen Reich zugestanden worden waren. Es entstanden in der Folge auf dem Boden der Habsburgermonarchie – dem islamischen Dhimmi-Konzept vergleichbar – orthodoxe "Konfessions-Nationen",20 die bis 1881 in der autonomen Verwaltung der Militärgrenze (Krajna) organisatorische und rechtliche Konturen hatten.21
Die Frage nach der Rechtsstellung muslimischer Minderheiten stellt sich für die "dritte islamische Welle"22 in Europa unter anderen rechtlichen Rahmenbedingungen im 20. und 21. Jahrhundert erneut. Das Besondere daran ist, dass Muslime nicht durch Vertreibung bzw. kriegerische Expansion und daher nur vorübergehend unter "nicht-muslimische" Herrschaft kommen, sondern aufgrund von freiwilliger Emigration aus ihren islamischen Stammländern. Bei der Bewertung einer solcherart entstandenen Minderheitensituation gehen viele islamische Gelehrte in jüngster Zeit über das traditionelle Konzept des Gebiets des Vertrages hinaus und entwickeln ein eigenes "Recht der Minderheiten" (fiqh al-aqalliyāt) für das Leben unter den Bedingungen des demokratischen Rechtsstaates.23
Das islamische Recht in der europäischen Rechtsgeschichte
Als dritter Bereich der historischen Interaktion zwischen dem westlichen und dem islamischen Recht sei der Transfer islamischen Rechts in den Westen angeführt. Dieses Thema wurde lange Zeit überwiegend vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Handelskontakte (1.) und im Kontext der sizilianischen und spanischen Rechtsgeschichte (2.) behandelt. In den letzten Jahren ist außerdem die Frage aufgekommen, ob der Islam auch im Bereich des Rechts eine Vermittlerrolle zwischen Antike und europäischem Mittelalter innehatte (3) und inwieweit ein spezifisch islamischer Einfluss auf das englische common law bestanden hat (4).
Generell muss bei all diesen Kontakten hinsichtlich des Rechtstransfers – und zwar in beiden Richtungen – vor diffusionistischen Übertreibungen gewarnt werden, die bei allen Ähnlichkeiten zwischen rechtlichen Institutionen sofort Rezeptionsvorgänge vermuten. Allerdings darf man angesichts der komplexen Zusammenhänge in der mediterranen und nahöstlichen Rechtsgeschichte auch nicht dem gegenteiligen isoliert-evolutionistischen Konzept verfallen.24
Die mittelalterlichen Handelsbeziehungen
Die mittelalterlichen Handelskontakte hatten Übernahmen auf rechtlicher Ebene zur Folge – im Bereich des Vermögens- und Handelsrechts sowie insbesondere des Seehandelsrechts. Das antike mediterrane Seereich, als Synthese griechisch-römischer Traditionen und ihrer byzantinischen Fortbildung entstanden, erfuhr mit der Dominanz muslimischer Händler im Mittelmeer zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert eine Ergänzung und Überformung.25 Ab dem 13. Jahrhundert gerieten jedoch mit der Vorherrschaft der europäischen Seemächte im Mittelmeer auch der Handel und seine rechtliche Ausgestaltung überwiegend in christliche Hände. Das solcherart gewachsene Mosaik von theoretischen Konzepten, Handelsusancen und immer wieder neu entstehendem Vertragsrecht wurde schließlich ab dem Spätmittelalter in ganz Europa verbreitet und bestimmte die weitere Geschichte des Seerechts bis in die Gegenwart.
Wenn man sich dem islamischen Einfluss in dieser Traditionskette zuwendet, so fallen bereits auf den ersten Blick eine Reihe von Begriffen der Handelsterminologie auf, besonders prominente Beispiele sind Arsenal, Magazin, Tarif, Sensal (ein bei Auktionen tätig werdender Makler), aber auch traffico/traffic und dogana/douane.26 Dass das arabische funduk, das dem fondaco – der Niederlassung von auswärtigen Händlern – zu Grunde lag, seinerseits im griechischen pandocheion wurzelt,27 verweist auf die Kontinuitäten des mediterranen Handels- und Seerechts. Ein weiterer grundsätzlicher Beitrag des Islam dürfte in kommerziellen Arbeitstechniken liegen, die auf Schriftlichkeit und Archivierung beruhen.28
Von den in diesem Zusammenhang in Frage kommenden Rechtsfiguren sollen zwei herausgehoben werden. Das erste Beispiel ist der Bankaval, dessen arabischer Ursprung unumstritten ist. Es handelte sich dabei ursprünglich um ein auf Vertrauen basierendes formloses Überweisungssystem (hawala), das im Mittelalter als Institut des islamischen Rechts angesehen wurde, um Geld schnell und kostengünstig zu transferieren. Die hawala hat in jüngster Zeit für Überweisungen von Migranten in ihre Heimatländer eine bemerkenswerte Renaissance erlebt und wird immer wieder auch im Zusammenhang mit illegalem Geldtransfer ins Spiel gebracht.29
Im europäischen Recht wurde unter avallo zunächst eine Wechselbürgschaft verstanden, heute bezeichnet man damit Bürgschaften und Garantien, welche Kreditinstitute im Auftrag eines Kunden gegenüber Dritten übernehmen.
Das zweite Beispiel ist die Kommende (commenda) des westlichen Rechts, die in der Forschung häufig als Kandidat eines islamischen Rechtstransfers diskutiert wird.30 Angesichts der Quellenlage und der engen Vernetzung des mediterranen Handels ist jedoch eine definitive Klärung dieser Frage kaum möglich. Es zeigt sich nämlich, dass alle seit der Antike im mediterranen Raum einflussreichen Rechtsordnungen Vertragstypen entwickelt haben, die einen Ausgleich in der Aufteilung von Gewinn und Risiko zwischen dem Investor und dem Ausführenden eines Handelsgeschäftes, insbesondere im Bereich des Seehandels, herstellen sollen. Bereits das klassische römische Recht kannte zu diesem Zweck einen Gesellschaftsvertrag (societas) zwischen Kapitalgeber und Dienstleistenden bzw. für den Seehandel eine spezielle Darlehensform, das foenus nauticum, bei dem zum Ausgleich der spezifischen Risiken eine höhere Verzinsung des investierten Kapitals zulässig war. Diese Vertragsformen gerieten im Hochmittelalter in das Blickfeld der Kanonistik, die sich damit praxisorientiert unter dem Aspekt des kanonischen Zinsverbotes befasste und damit die weitere Ausgestaltung der Vertragsformen wesentlich beeinflusste.31
Offensichtlich eine Weiterentwicklung des klassischen römischen Rechts stellte auch die im byzantinischen Nomos nautikos32 beschriebene chreokoinonia, eine Partnerschaft zwischen Kapitalgeber und Schiffsführer, dar, welche die Risikenaufteilung an die vorgesehene Gewinnaufteilung bindet. Im Babylonischen Talmud findet sich die halb als Darlehen, halb als Treuhandvertrag charakterisierte jüdische isqa. Das islamische Recht brachte schließlich die auf den vor-islamischen Karawanenvertrag zwischen dem Kapitalgeber und dem Karawanenführer zurückgehende qirad in den mediterranen Handelsverkehr ein.
Alle diese Vertragstypen weisen aufgrund ihrer wirtschaftlichen Funktion starke Ähnlichkeiten auf, unterscheiden sich aber auch in Details bei der Aufteilung des Gewinns bzw. der Risiken. Nachweisen lässt sich ein direkter Rechtstransfer, wie Pryor mit durchaus überzeugenden Argumenten dargelegt hat, nur von der in der römischen societas wurzelnden chreokoinonia zur Commenda. Nichtsdestoweniger ist ein durch die Vertragspraxis bestimmter Einfluss der islamischen qirad auf die Commenda durchaus wahrscheinlich,33 auch wenn dieser quellenmäßig nicht belegt ist.
Sizilien und Spanien im Besonderen
Als Kontaktzonen für die Einflüsse des islamischen Rechts auf das westlich-europäische Recht im Mittelalter kommen neben den Handelsbeziehungen in erster Linie die von den Arabern eroberten mediterranen Gebiete in Frage, also insbesondere Spanien und Sizilien. Nach der christlichen Rückeroberung wurden arabisch-islamische Verwaltungsstrukturen vor allem im Bereich der Finanzverwaltung übernommen. Bezeichnenderweise finden sich im Spanischen Worte arabischen Ursprungs mit rechtlicher Bedeutung überwiegend in der Verwaltung und im Abgabenwesen, wie etwa Zollamt (aduanas), Zolltarif (arancel) und Bürgermeister (alcalde).
Auf Sizilien kam es nach der normannischen Eroberung nicht nur zu einer Übernahme der Verwaltungsstrukturen, sondern es entstand ein arabisch-normannisches Recht als bemerkenswertes spezifisches Mischrecht, dessen Einfluss auf das normannische England in der Forschung diskutiert wird.34 Für diesen Transfer wird vor allem der häufige Austausch von "Verwaltungspersonal" zwischen dem normannischen England und dem normannischen Sizilien verantwortlich gemacht.35 Obwohl in den letzten Jahrzehnten eine große Zahl von Arbeiten zum islamischen Recht in Al-Andalus erschienen ist, lässt sich die Frage nach der Stärke des Einflusses des islamischen Rechts in Spanien nicht eindeutig beantworten.
Die wichtigsten Rechtsquellen im mittelalterlichen Spanien waren der im 13. Jahrhundert unter Alfons X. (1221–1284) rekompilierte und ins Spanische übersetzte westgotische Liber iudiciorum (Fuero juzgo), der Familienrecht, Erbrecht, Obligationenrecht, Verfahrensrecht und Strafrecht enthielt, bzw. die darauf aufbauenden Siete partidas, das bedeutendste und umfangreichste mittelalterliche Gesetzgebungswerk Europas.36 Die Bewertung des Einflusses islamischen Rechts auf diese Kompilationen ist in der Forschung umstritten. Während europäische Rechtshistoriker ihn meist als gering einschätzen, betont etwa Boisard die Bedeutung islamischen Rechts bzw. arabischer Terminologie vor allem für das in der 2. Partida enthaltene Recht der bewaffneten Konflikte.37
Grundsätzlich darf dabei in dieser Frage nicht außer Acht gelassen werden, dass berberisches Gewohnheitsrecht in der Rechtswirklichkeit bedeutsamer gewesen sein dürfte als das klassische islamische Recht, da es vielfach den besonderen Bedingungen Spaniens besser entsprach. Im Recht des islamischen Spaniens fanden sich daher spezifische Institutionen, die keine Entsprechungen in der übrigen islamischen Welt hatten. Bereits der Altmeister der spanischen Rechtsgeschichte, Rafael Altamira (1866–1951), hat auf Beispiele aus dem Bereich der Bodenleihe, des Bewässerungsrechts, agrarischer Genossenschaften, auf Formen des Konkubinats und des Ehegüterrechts verwiesen, die ihren Ursprung nicht im klassischen islamischen Recht, sondern im berberischen Gewohnheitsrecht haben.38
Das islamische Rechtskorpus und sein Beitrag zu den revolutionären Veränderungen im mittelalterlichen europäischen Recht
Benjamin Jokisch hat jüngst nicht nur die These von der Rezeption des justinianischen Sammlungs- und Kodifikationskonzepts durch die großen muslimischen Juristen des 9. Jahrhunderts aufgestellt. Auf ihn geht auch die These eines Einflusses dieses islamischen Rechts mitsamt seinen römisch-rechtlichen Wurzeln und seiner aristotelischen Methodik auf die in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhundert einsetzenden revolutionären Änderungen im westlichen Recht zurück. Sowohl der römisch-byzantinische Rechtstransfer nach Bagdad als auch dessen "Re-Import" ins Abendland wird jedoch noch vieler sorgfältiger Untersuchungen bedürfen.39
Der islamische Einfluss auf das englische common law
Ähnlichkeiten zwischen dem common law und dem islamischen Recht werden von einigen Autoren durch Übernahmen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts erklärt, was zu einer intensiven wissenschaftlichen Diskussion geführt hat. Am weitesten geht hier John Makdisi, der die charakteristischen Züge des englischen common laws grundsätzlich zu einem Produkt des Transfers des höher entwickelten islamischen Rechts erklärt. Die Problemstellung ist äußerst komplex. Einflüsse des islamischen Rechts lassen sich zwar quellenmäßig nicht direkt belegen, können aber vor allem aufgrund der engen Beziehungen zwischen dem normannischen Sizilien und England nicht ausgeschlossen werden. Die von Makdisi angeführten Ähnlichkeiten zwischen dem common law und dem islamischen Recht sind durchaus bemerkenswert. Meist lassen sie sich aber auch aus Weiterentwicklungen des einheimischen Gewohnheitsrechts unter dem Einfluss der beiden gelehrten Rechte (römisches und kanonisches Recht) erklären. So kann man den vom kanonischen Recht bereits seit dem 9. Jahrhundert entwickelten Besitzschutz, der schrittweise zur Besitzstörungsklage weiterentwickelt wurde, von seiner Konzeption her durchaus als Vorbild für die 1166 von Heinrich II. (1133–1189) eingeführte Assize of Novel Disseisin heranziehen. Auch ein weiteres Beispiel, die Vertragsbegründung durch ein formloses "Versprechen", wurde im kanonischen Recht mit Bibelstellen und Kirchenväterzitaten begründet und führte schließlich zum Grundsatz pacta sunt servanda, der sich gegen das römische Vertragsrecht richtete.
Als Einzelbeispiel für islamischen Rechtstransfer wird in der Forschung besonders häufig der Einfluss des islamischen Stiftungsrechts (Waqf) auf die Treuhand (trust) des common laws genannt.40 Die Argumentation läuft darauf hinaus, dass gerade zur Zeit des Auftauchens des trusts durch verstärkte Kontakte die Möglichkeit für eine Anleihe bei der parallelen islamischen Einrichtung gegeben war. Aber auch bei der Herausbildung der common-law-Treuhand stand zunächst ein akutes praktisches Problem Pate, für das adäquate rechtliche Lösungen gefunden werden mussten, nämlich die zeitlich begrenzte Übernahme der feudalen Rechte und Pflichten eines abwesenden Kreuzfahrers. Bei der vor allem im 13. Jahrhundert erfolgten Ausbildung der verschiedenen Formen und Funktionen des trusts kann das islamische Stiftungsrecht durchaus eine Vorbildwirkung besessen haben. Wie in allen Bereichen des Rechtstransfers zwischen den Traditionssträngen der europäischen Rechtsgeschichte und dem islamischen Recht bedarf auch dieses Thema noch einer eingehenden interdisziplinären Forschung.