Lesen Sie auch den Beitrag "Le projet économique dans la construction européenne et sa mise en œuvre" in der EHNE.
Vorbemerkung
Zunächst ist zu unterscheiden, ob wir uns lediglich für papierene Entwürfe und Forderungen interessieren sollen – und damit auch in hohem Maß für die verschiedenen Autorschaften – oder für die im Verlauf der Integrationsgeschichte auch verwirklichten und durchgesetzten Konzeptionen. Die nachfolgende Darstellung verbindet beides: Einerseits stützt sie sich auf wichtige Texte, anderseits orientiert sie sich auch an den realisierten Institutionen. Sie sieht davon ab, die bundesstaatlichen und staatenbündischen Varianten idealtypisch und zeitlos zu diskutieren, sondern untersucht den Lauf der Geschichte. Der Verfasser folgt dabei über weite Strecken den wertvollen Vorarbeiten des Saarbrücker Neuzeithistorikers Walter Lipgens (1925–1984).1 Seine beiden ersten großen Werke galten den Föderationsplänen der Jahre 1940–1945 sowie der Einigungspolitik in den Jahren 1945–1950. Ganz zentral ist zudem noch immer der 1986 posthum erschienene Dokumentenband zu den Verfassungsplänen der Jahre 1939–1984.2
Europakonzeptionen in Form von allgemeinen Ideenskizzen gab es in größerer Zahl bereits im 19. Jahrhundert und hier und da auch zuvor.3 Zwischen den beiden Weltkriegen profilierte sich dann die Idee "Pan-Europa" (1923) von Richard Nikolaus Graf von Coudenhove-Kalergi (1894–1972)[], dem Gründer der Paneuropa-Union, die während der NS-Zeit verboten war und 1954 ihre Aktivitäten wieder aufnahm.4 Der französische Staatsmann Aristide Briand (1862–1932)[] entwickelte 1930 in seiner Denkschrift über die Errichtung einer Europäischen Union (L'organisation d'un régime d'union fédérale européenne) ein konkreteres Konzept, indem er ein "föderatives Band" zwischen souveränen Staaten vorschlug.5
1939–1945
Die ersten, auf die Nachkriegsjahre ausgerichteten Entwürfe für die "Vereinigten Staaten von Europa" entstanden bereits während des Kriegs. Dabei standen zwar Fragen der Friedenssicherung im Vordergrund, diese waren jedoch von Überlegungen zur "innerstaatlichen" Organisation der einzelnen Nationen nicht zu trennen. Die von verschiedenen Widerstandsbewegungen gegen das NS-Regime entworfenen Europakonzeptionen sprachen sich einerseits für innereuropäischen Föderalismus im Sinne großer lokaler Autonomie aus und anderseits gegen die Weiterführung nationalstaatlicher Strukturen. Sie forderten für die Außen- und Sicherheitspolitik, die Wirtschaftspolitik und die Sicherung der Menschenrechte die Schaffung einer supranationalen Autorität. Eine so strukturierte Europäische Union hätte eine umfassende Regionalorganisation und Teil der künftigen Weltorganisation sein sollen, hätte aber weder unter amerikanischer noch unter sowjetischer Hegemonie gestanden.
Lipgens stellt in seiner Anthologie von 1986 allein für die Kriegsjahre – als Auswahl! – 45 mehr oder weniger substantielle Konzeptionsentwürfe aus verschiedenen Milieus und Ländern vor. Großbritannien ist, was in Anbetracht der späteren Widerstände erstaunt, mit prominenten Stimmen in der Frühphase dabei. Im November 1939 lautete die Parole der Labour-Partei: "Europe must federate or perish."6 Und Winston Churchill (1874–1965)[], Premierminister der Tories, schlug 1940 die Zusammenlegung der französischen und der englischen Nation als Keimzelle einer umfassenden europäischen Föderation mit einer "European Authority" vor.7
Der am stärksten herausragende Text wurde im Oktober 1941 von dem italienischen Politiker Altiero Spinelli (1907–1986)[] verfasst, der 1984 maßgeblich an der Ausarbeitung des Vertragsentwurfs für die Europäische Union im Europäischen Parlament beteiligt war. Der damals 34jährige Spinelli propagierte die Schaffung einer Organisation der Vereinigten Staaten von Europa und meinte damit
eine föderative Regelung, die zwar jedem einzelnen Staat die Möglichkeit läßt, sein nationales Leben so zu gestalten, wie es am besten zu dem Stande und den Besonderheiten seiner Zivilisation passt, die aber der Souveränität aller angeschlossenen Staaten die Mittel entzieht, mit denen diese ihre partikularistischen Egoismen zur Geltung bringen könnten, und die ein internationales Gesetzeswerk schafft, und wahrt, dem alle in gleicher Weise unterworfen sein müssen. Die föderative Autorität muss über diejenigen Machtmittel verfügen, mit denen sie unter die exklusiv eingestellte nationale Politik den endgültigen Schlussstrich zu ziehen vermag.8
Diese Autorität sollte über einen eigenen Verwaltungsapparat verfügen sowie nach der klassischen Dreiteilung eine aus allgemeinen Wahlen hervorgegangene Legislative wie eine Judikative beinhalten. Vorgesehen war ein freier Binnenmarkt mit gemeinsamer Währung und Personenfreizügigkeit. Dabei wurde in Anbetracht der noch immer angenommenen "hervorragenden Stellung, die Europa heute in der Welt als Ausstrahlungszentrum der Zivilisation" einnehme, erwartet, dass die "endgültige Befriedung" in Europa mittels föderativer Institutionen auch die Befriedung der Welt einleiten würde. Die Freigabe der europäischen Kolonien war allerdings nicht vorgesehen.
1945–1950
Mit Kriegsende verließen die Europakonzepte das Reich des Konspirativen und traten in eine neue Umgebung der öffentlichen Debatte ein. Lipgens, der eine etwas andere Zeiteinteilung vornimmt, als sie hier bevorzugt wird, belegt die fünf Jahre mit rund 20 Dokumenten, also mit einer reduzierten Zahl an Entwürfen im Vergleich zur gleich langen vorangegangenen Periode.9 Die beiden großen Weltmächte USA und UdSSR waren anfänglich gegen einen regionalen Zusammenschluss der europäischen Staaten, die USA änderten ihre Haltung erst mit der "Westlagerbildung" gegen den Ostblock. Großbritannien und Frankreich waren zu Beginn dieser Phase bestrebt, ihre Einzelposition zu wahren, um so dritte und vierte Weltmacht sein zu können und nicht als Führungsmächte in einem Regionalverband aufzugehen.
Bald, das heißt 1947, zeichnete sich innerhalb der Europabewegung jedoch eine Aufteilung ab. Die Strömung, die einen Bundesstaat anstrebte und sich "Föderalisten" nannte, war zunächst die einflussreichere. Die nur einen Staatenbund befürwortende Strömung unter der Bezeichnung "Unionisten" lag anfangs zurück, konnte sich aber mit dem Kongress von Den Haag vom Mai 1948 durchsetzen. Bereits mit dem von Churchill und Duncan Sandys (1908–1987) im Mai 1947 in der Royal Albert Hall lancierten und von ihren Gründern als Dachorganisation aller Europabewegungen verstandenen United European Movement bekundeten die Unionisten ihren von Privatunternehmen wie z.B. Philips & Co. in den Niederlanden großzügig unterstützten Leitungsanspruch.10
Der bereits angesprochene grundsätzliche Unterschied im Problemverständnis wurde auch hier sichtbar: Die Föderalisten gingen in erster Linie von einem in sich geschlossenen Gesellschaftssystem aus, aber auch sie waren an der Integration in die internationale Ordnung interessiert. Sie befürworteten eine supranationale Polizeimacht und wollten die "nationalstaatliche Anarchie" überwinden. Ein Papier von 1945 erklärte in diesem Sinne: "Wenn die europäischen Völker ihre gemeinsame demokratische Zivilisation retten wollen, müssen sie sich in einer Föderation zusammenschließen."11 Das föderalistische Hertensteiner Programm vom September 1946 sprach von föderalistischen Grundsätzen, "die den demokratischen Aufbau von unten nach oben verlangen".12 Die Union Européenne des Fédéralistes (UEF) bezeichnete in der Erklärung ihres Kongresses von Montreux vom August 1947 die föderalistische Idee als dynamisches Prinzip, das in alle Bereiche menschlicher Tätigkeit ändernd eingreife: "Sie bringt nicht nur einen neuen politischen Rahmen, sondern auch neue soziale, wirtschaftliche und kulturelle Strukturen." Sie distanzierte sich explizit von zentralistischen oder gar totalitären Organisationsformen und sprach sich für "größtmögliche Dezentralisation der wirtschaftlichen Mächte auf allen Stufen" aus.13 Die von Coudenhove-Kalergi gegründete Europäische Parlamentarier-Union (EPU) postulierte auf ihrem Kongress in Gstaad vom September 1947 die baldige Einberufung einer konstituierenden Versammlung mit der Aufgabe, eine Föderationsverfassung zu erarbeiten. Mitglieder dieses Verfassungsrats sollten entweder von den nationalen Parlamenten oder direkt von den Volkswahlen bestimmt werden.14 In der Regel waren, wie im Verfassungsvorentwurf der UEF von Rom vom November 1948 vorgesehen, eine Volkskammer und eine Staatenkammer sowie ein Wirtschafts- und Sozialrat geplant. Die Bürger von Mitgliedstaaten sollten zugleich Bundesbürger sein.15
Was die innere Ausgestaltung betraf, strebten die bundesstaatlich eingestellten Europäer eine sozialreformerische Gesellschaftsordnung an, während die staatenbündischen Europäer bei einer traditionalistischen Gesellschaftsordnung bleiben wollten. Die Unionisten gingen von einem nationalstaatlichen Staatensystem aus und wollten die Souveränität des Nationalstaats aufrechterhalten. Wichtige Leitfiguren der Unionisten waren Winston Churchill und sein Schwiegersohn Duncan Sandys. In Churchills bekannter Zürcher Rede vom 19. September 1946 finden sich allerdings keine konkreten Angaben zur Innenausgestaltung der von ihm propagierten "Vereinigten Staaten von Europa". Explizit sagte er, kein "detailliertes Programm" entwerfen zu wollen. Das Maximum an Konkretheit war die wohl mit Blick auf Deutschland geäußerte Meinung, dass in einer "guten und richtigen" Europaorganisation die "materielle Stärke eines einzelnen Staates" von weniger großer Bedeutung sein solle. Und selbstverständlich solle Europa Teil der UNO sein.16 In den Erläuterungen zu seiner Rede, die er im Dezember 1946 gab, konkretisierte er ein wenig die Aufgaben eines möglichen Europarats: Beseitigung der Zoll- und Handelsbarrieren, Wirtschaftskooperation zur Herbeiführung einer Wirtschaftseinheit, eventuell sogar eine "uniform currency" und sicher "some common form of defence".17
Aus der Feder der Unionisten gibt es zum "kooperativen Unionismus" gemäß Lipgens' Definition18 kaum Konzeptpapiere, weil sie, anders als die Föderalisten, grundsätzlich keine Verfassung wollten. Zudem blieben sie, um die stärkeren Föderalisten (insbesondere die britische Federal Union) nicht vor den Kopf zu stoßen, in ihren Darlegungen bewusst vage. Churchill erklärte in der Royal Albert Hall im Mai 1947 explizit: "Wir selbst sind damit zufrieden, die Idee des United Europe [...] vorzustellen als eine moralische, kulturelle und geistige Konzeption, der sich alle ohne Streit über die Strukturen [Hervorhebung durch den Verf.] anschließen können." Es sei verfrüht, "konstitutionelle Beziehungen" festzulegen, die Völker Europas müssten in einer lockeren "Assoziation" zusammenarbeiten, dabei aber "ihre Traditionen und ihr Eigenwesen" bewahren.19
Der Haager Kongress vom Mai 1948 bekräftigte in eindrücklicher Weise den Willen, ein "Vereinigtes Europa" zu schaffen, aber um den Preis der Unentschiedenheit, wie dieses Europa konkret auszusehen habe. Dies drückte sich in der wiederholten Formel "Union oder Föderation" aus und in der ausgewogenen Zielsetzung, sowohl die Sicherheit der zusammengeschlossenen Völker zu schützen, was das primäre Ziel der Unionisten war, als auch die "fortschreitende Verwirklichung eines demokratischen sozialen Systems" zu ermöglichen, was das erste Anliegen der Föderalisten war. "Föderalistisch" war zudem die Errichtung eines gemeinsamen Gerichtshofs "mit angemessenen Strafbefugnissen" bei Verletzungen der künftigen Charta.20
Die ersten drei europäischen Institutionen, in chronologischer Reihenfolge der Brüsseler Pakt (17. März 1948), die OEEC (16. April 1948) und der Europarat (gegründet am 5. Mai 1949, der heute im Gegensatz zum 9. Mai den internationalen Europatag bildet) folgten alle dem unionistischen Modell der "Europakonstruktionen". Im Falle des Brüsseler Paktes und des Europarats wurden den starken intergouvernementalen Ministerräten schwache parlamentarische Versammlungen beigegeben. Die OEEC kam ohne ein derartiges Anhängsel aus. Sie war ganz auf Einstimmigkeit angelegt, erlaubte aber in Artikel 14 (der "clause Suisse") ein Distanzierungsvotum ohne blockierende Wirkung für die anderen Nationen.21 Im Falle der beiden anderen Gremien wollte Großbritannien anfänglich ein Vetorecht durchsetzen, sah dann aber wegen des Widerstands der anderen Staaten, insbesondere Frankreichs, davon ab. Von den Briten wurden die "beratenden Versammlungen" nur unter der Bedingung hingenommen, dass diese keinerlei gesetz- oder verfassungsgebende Befugnis besaßen, mithin sich keine Konstituante bildete. Vor die Alternative gestellt, entweder im unionistischen Sinn schwache Kompetenzausstattung mit britischer Beteiligung oder im föderalistischen Sinn starke Kompetenzausstattung ohne britische Beteiligung vorzusehen, entschied man sich zunächst für die erste Variante.22
1950–1969
Mit dem am 9. Mai 1950 (auf den sich der heutige supranationale Europatag bezieht) verkündeten "Schumanplan" etablierte sich jedoch schließlich in der Doktrin wie in der Realität eine neue, dritte Europakonzeption: die sektorielle Teilintegration mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) nach dem Modell der Föderalisten unter der Führung Frankreichs und der Nichtbeteiligung Großbritanniens. Ursachen und Kontext dieser Kehrtwende können hier nicht im Detail erläutert werden.23 Entscheidend ist, dass jetzt im Bereich von Kohle und Stahl eine "Oberste Behörde" (Haute Autorité) als supranationales (oder bundesstaatliches) und wegen eigener Steuereinnahmen von den beteiligten Nationen finanziell unabhängiges Direktorium geschaffen wurde.24 Das war der Vorläufer der heutigen EU-Kommission. Der französische Außenminister Robert Schuman (1886–1963)[] stellte ein Etappenmodel vor: "Europa lässt sich nicht mit einem Schlag herstellen..." Machbar erschien ihm die Supranationalität mit einer Beschränkung auf einen "begrenzten, doch entscheidenden Punkt". Immerhin bekannte er sich mit der Formulierung "erster Grundstein einer europäischen Föderation" implizit zu weiteren Meilensteinen.25
Gemäß dieser Konzeption ("durch konkrete Leistung eine tatsächliche Verbundenheit schaffen") sollte die Bildung weiterer Integrationssektoren folgen. Die Vergemeinschaftung der für die EGKS wichtigen öffentlichen Transportmittel (Eisenbahnen) kam nicht zustande, ebenso wenig der Grüne Pool (für Landwirtschaft) und der Weiße Pool (für Arzneien).26 Das mit dem Plevenplan (nach dem französischen Ministerpräsidenten René Pleven, 1901–1993) ebenfalls 1950 lancierte Projekt der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) wurde zum Fiasko. Anders als die EGKS hätte die Vergemeinschaftung der Verteidigung nicht ohne Vergemeinschaftung der Sicherheitspolitik, ja der Politik im Allgemeinen auskommen können. Darum war im EVG-Vertrag mit Artikel 38 die Ausarbeitung einer umfassenden suprastaatlichen Ordnung vorgesehen,27 so dass die vorläufige durch eine endgültige Organisation hätte ersetzt werden können. Erwartet wurde ein Zweikammersystem, es blieb aber noch immer offen, ob dieser Vorschlag zu einer bundesstaatlichen oder staatenbündischen Gemeinschaft führen sollte. Die Parlamentarische Versammlung der EGKS verabschiedete im März 1953 im Hinblick auf die EVG einstimmig (50:0 bei 5 Enthaltungen) einen "Entwurf eines Vertrags ü28 Lipgens urteilte 1984: "Es war eine mit großer Umsicht durchdachte Verfassung, die einen entscheidenden Schritt zur fortschreitenden Verwirklichung bundesstaatlicher Zusammenschlüsse ermöglicht hätte."29 Die Regierungen waren jedoch skeptisch, und mit der Ablehnung der EVG durch die französische Nationalversammlung im August 1954 wurde auch dieses Projekt hinfällig.
Erst mit den Römischen Verträgen (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft [EWG] und Europäische Atomgemeinschaft [EAG]) vom März 1957 kam eine Erweiterung der Integrationssektoren um den Handelsaustausch und die Atomenergie zustande. Angesichts dieses Erfolgs und der geglückten weiteren Entwicklung wird allerdings leicht übersehen, dass die Analogie zur EGKS doch nicht in jeder Hinsicht gültig ist, weil die schließlich (1965) für alle drei Sektoren (EGKS, EWG und EAG) zuständige Kommission finanziell nicht mehr unabhängig war.30 Gemäß dem EWG-Vertrag waren auf der letzten Stufe die Preisgabe des intergouvernementalen Prinzips mit Vetomöglichkeit eines einzelnen Mitglieds und der Übergang zu dem den supranationalen Föderalismus ausmachenden Mehrheitsprinzip vorgesehen. Als 1965/1966 dieser Moment gekommen war, konnte jedoch nur mit einem Kompromiss zur nächsten Stufe übergegangen werden: Das Mehrheitsprinzip wurde zwar gemäß Artikel 148 eingeführt, auf Wunsch des französischen Präsidenten Charles de Gaulle (1890–1970)[] schuf der Luxemburger Kompromiss jedoch die Möglichkeit für einzelne Mitglieder, Beschlüsse mit Geltendmachung "vitaler Interessen" zu verhindern.
1969–1984
Das Jahr 1969 ist mit den Beschlüssen der Haager Gipfelkonferenz in zweifacher Hinsicht eine Zäsur: zum einen wegen der unter dem Gesichtspunkt der Europakonstruktionen weniger relevanten Zustimmung zu einer Erweiterung der Mitgliedschaft. Ganz unbedeutend ist dieser Punkt insofern jedoch nicht, als die Aufnahme des bisher "unionistisch" eingestellten, aber in den 1960er Jahren auf den kontinentalen Föderalismus eingeschwenkten Großbritannien beschlossen wurde. Unter dem Aspekt der Europakonstruktionen waren aber die vereinbarten Vertiefungen wichtiger: Man einigte sich auf eine erste Aufwertung der "Parlamentarischen Versammlungen" durch die Einführung von Direktwahlen und auf die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion; Grundlage war der nach dem luxemburgischen Premierminister Pierre Werner (1913–2002)[] benannte "Werner-Stufenplan" von 1970 zur Vergemeinschaftung der Konjunktur-, Investitions-, Haushalts-, Sozial- und Steuerpolitik. Bis zur Verwirklichung der Währungsgemeinschaft sollte es rund 30 Jahre dauern (1999 nahm die EZB ihre Arbeit auf, 2002 folgte die Einführung des Euro). Die Umsetzung der Direktwahlen brauchte im Vergleich mit der Wirtschaftspolitik jedoch erstaunlich wenig Zeit, nämlich nur gerade ein Jahrzehnt.
Die vorliegende Würdigung ist wesentlich positiver als diejenige des ausgesprochen föderalistisch eingestellten Lipgens. So betonte dieser, dass es 1969 in Den Haag zu einem "halben Fehlstart" gekommen sei, mithin die sprichwörtliche "Flasche" nur halb gefüllt wurde und darum auch halb leer geblieben sei.31 Der Luxemburger Kompromiss von 1966 zum Beispiel wurde nicht explizit rückgängig gemacht, er wurde aber auch nicht bekräftigt, sondern blieb einfach unerwähnt. Es gab zwar ein klares Bekenntnis zur politischen Finalität, aber keine Zuteilung eigener Haushaltsmittel etc. Bemerkenswert ist immerhin das energische Bekenntnis zur "Vollendung" der Gemeinschaft, das eigentlich nur föderalistisch und nicht unionistisch sein konnte. Man wollte von der Übergangsphase in die Endphase eintreten und bekundete die Entschlossenheit, das Werk "zu Ende zu führen".
Von den rund 25 Dokumenten, die Lipgens für die Jahre 1955–1969 zusammenstellt, sind alle eindeutig föderalistisch ausgerichtet. Unter diesen findet sich sogar ein schweizerischer Entwurf des bekannten Staatsrechtlers Max Imboden (1915–1969) von 1963. Damals richtete man sich in Folge des ersten britischen Beitrittsgesuches auch in der Schweiz auf einen EG-Beitritt ein. Imboden entwarf eine Verfassung, der (u.a. mit garantierten Neutralitätsrechten) auch die Schweiz hätte zustimmen können.32
Die 1970er Jahre begannen hoffnungsvoll. Auf dem Pariser Gipfel vom Oktober 1972 fasste man den Beschluss, "vor dem Ende dieses Jahrzehnts (...) die Gesamtheit der Beziehungen der Mitgliedstaaten in eine Europäische Union umzuwandeln".33 Lipgens sprach zwar diesbezüglich von "Worten des Trosts" und machte damit darauf aufmerksam, dass dieses Lippenbekenntnis vor allem kompensatorischen Charakter für Nichthandeln im Realbereich hatte. Bemerkenswert ist jedoch, dass immer weniger über die Varianten der Finalität und eigentlich nur noch über Fristen für die Verwirklichung der weitergehend föderalistischen Finalität diskutiert wurde.
Der 1969 erstmals einberufene und im Dezember 1974 schließlich formell beschlossene, aber doch nur mit "nebenvertraglichem" Status versehene Europäische Rat der Regierungschefs konnte, wie unter Valéry Giscard d'Estaing (*1926)[] und Helmut Schmidt (1918–2015)[] anfänglich gehandhabt, ein Motor für die weitere Integration sein, institutionell verstärkte er jedoch das unionistische Prinzips des Intergouvernementalismus. Hier war Fortschritt nicht von einer kollektiven Dynamik, sondern vom guten oder schlechten Willen der einzelnen Staaten bzw. Staatschefs abhängig. Die wiederholte schmerzliche Beschlussunfähigkeit der EG in ihrer bisherigen Struktur gab gegen Ende der 1970er Jahre denjenigen Kräften Auftrieb, welche darauf beharrten, dass die Kommission zu einer Regierung aufgewertet, das Parlament mit wirklichen Legislativrechten ausgestattet werden und das Ziel die Schaffung eines Europäischen Bundesstaates sein sollte. Das Europäische Parlament sprach sich 1981/1982 mit großer Mehrheit für eine Weiterführung der föderalistischen Integrationsverdichtung aus.
Am 14. Februar 1984 verabschiedete das Europäische Parlament kurz vor Ende seiner Legislaturperiode mit absoluter Mehrheit (mit 237 gegen 31 Stimmen bei 43 Enthaltungen) einen ausgearbeiteten und mit dem Namen des seines Initianten, des mittlerweile 77jährigen Altiero Spinelli, verknüpften Verfassungsentwurf zu Händen der nationalen Parlamente. Dieser sah noch keine Gemeinschaftsbereiche wie die 1992 in Maastricht festgeschriebene Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) vor, aber versah den vorliegenden Bestand (Acquis) mit einer operativen Binnenstruktur und insbesondere mit einer leichteren Modalität für künftige Kompetenzübertragungen an die Unionsorgane. Der Entwurf wurde bewusst nicht an die Regierungen, sondern an die nationalen Parlamente weitergeleitet. Diese sahen von der vorgesehenen Ratifizierung jedoch ab, sodass das Geschäft weiterhin Regierungssache blieb. Spinelli blieb allerdings hartnäckig. 1984 für eine weitere Legislaturperiode gewählt, schlug er vor, das Europäische Parlament solle darauf hinarbeiten, dass die nächsten Parlamentswahlen von 1989 im Voraus formell als Wahl einer verfassunggebenden Versammlung deklariert werden sollten. Spinelli starb jedoch 1986 beinahe 80jährig, bevor er genügend Unterstützung für diesen Vorschlag gefunden hatte. Man kann gleichwohl sagen, dass von diesem Entwurf starke Impulse sowohl auf die Einheitliche Europäische Akte von 1985 als auch auf den Vertrag von Maastricht 1992 ausgegangen sind.
1984–2009
Hier muss deutlich gemacht werden, dass im Unterschied zum Konföderalismus, der neben den weitgehend unabhängig bleibenden (souveränen) Mitgliedstaaten eine nur schwache und auf wenige Bereiche beschränkte Zentralbehörde vorsieht, der Föderalismus zwar eine starke Zentralbehörde haben, aber den Mitgliedstaaten eine gewisse Eigenständigkeit durchaus lassen möchte. Selbst der starke und dem Föderalismus zugetane Kommissionspräsident Walter Hallstein (1901–1982)[] der Jahre 1958–1967 betonte dies 1970 in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der föderalistisch eingestellten Internationalen Europäischen Bewegung (EMI):
Die föderale Formel galt von Anfang an nicht aus einem institutionellen Dogmatismus, sondern weil sie die einzige Denkform ist, die es erlaubt, zwei europäische Notwendigkeiten miteinander zu vereinigen, einerseits den Fortbestand der Staaten, die sich zusammenschließen, andererseits die Bildung einer übergeordneten politischen Gewalt durch Zusammenlegung von Souveränitätselementen.34
Der weitere Integrationsprozess – mit der erstmaligen Einberufung einer Regierungskonferenz zur Erarbeitung der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA, 1985), mit den späteren Verträgen von Maastricht (1992), von Amsterdam (1997) und von Nizza (2001), aber auch mit der erstmaligen Schaffung eines großen Konvents (2001, nach dem kleinen Konvent zur Ausarbeitung der Grundrechtcharta), dann mit dem Verfassungsvertrag von Rom (2004) und schließlich dem Reformvertrag von Lissabon (2007) – stärkte sowohl indirekt als auch direkt das föderale Wesen des gesamteuropäischen Gebildes. Dabei machte die Alternative "unionistisch" oder "föderalistisch" alternativen Varianten innerhalb des Föderalismus Platz. In den Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht äußerten die Briten ihre alten grundsätzlichen Vorbehalte gegen den Föderalismus, so dass dieser Begriff ironisch zum F-word erklärt wurde, das man nicht aussprechen und schon gar nicht in einen Vertrag schreiben durfte. Tatsächlich kam das Wort "föderal" im Vertragstext nicht vor. Ein anderer Begriff schob sich dafür nach vorne und bekam sogar die Weihe eines Verfassungsbekenntnisses: die Subsidiarität, die besagt, dass Regelungen möglichst nahe bei den direkt Betroffenen angesiedelt und nur dann auf der oberen Ebene geregelt werden sollen, wenn deren Handeln als wirksamer eingestuft wird.35 In diesem Sinne wurde in Maastricht, was mit dem Föderalismus durchaus kompatibel ist, auch das Europa der Regionen mit einem eigenen Organ ausgestattet.36
Der reale Integrationsprozess der Jahre 1990–2007 wurde von zahlreichen Wortmeldungen begleitet, in denen das Wort "Föderalismus" und die damit bezeichnete Sache sehr wohl im Zentrum stand. Im Vorfeld von Maastricht wurde eine große Zahl an Vorschlägen diskutiert. Dazu nur drei Beispiele: 1991 lancierte der Heidelberger Soziologe M. Rainer Lepsius (*1928) den Terminus des "Nationalitätenstaats" für ein Gebilde mit schwacher Zentralgewalt und weiterhin starken Mitgliedstaaten.37 Der Rechts- und Politikwissenschaftler Fritz W. Scharpf (*1935), bis 2003 Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, ging 1991 der Frage nach: "Kann es in Europa eine stabile föderale Balance geben?"38 1992 erklärte der in Genf wirkende Politologe Dusan Sidjanski (*1926) auf 440 Seiten, warum der Föderalismus eine Zukunft habe.39 Eine weitere Intensivierung der Schriften ging mit den Arbeiten am Verfassungsentwurf einher. Daher ein zusätzliches Beispiel aus dem Jahr 2003: Der Tübinger Politologe Rudolf Hrbek (*1938) stellte in seiner Analyse des damals vorliegenden Verfassungsentwurfs des Konvents fest, dass die EU als Föderation gestärkt werde, doch dass der Entwurf keinem gängigen Föderalismusmodell entspreche, sondern, wie er im Titel seines Beitrags sagt, ein Typus sui generis sei.40
Zum Schluss soll auf zwei gewichtigere Stellungnahmen aus der Welt der deutschen Politik hingewiesen werden. Im Kontext der sich intensivierenden Verfassungsdebatte forderte Bundesaußenminister Joschka Fischer (*1948)[] am 12. Mai 200041 in einer viel beachteten Rede an der Humboldt-Universität zum Thema "Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration" den Abschluss eines Verfassungsvertrags zur Gründung einer europäischen Föderation auf Grundlage des Subsidiaritätsprinzips.42 Fischer sprach von einer " ganz einfache[n] Antwort" und meinte damit:
den Übergang vom Staatenverbund der Union hin zur vollen Parlamentarisierung in einer Europäischen Föderation, die Robert Schuman bereits vor 50 Jahren gefordert hat. Und d.h. nichts Geringeres als ein europäisches Parlament und eine ebensolche Regierung, die tatsächlich die gesetzgebende und die exekutive Gewalt innerhalb der Föderation ausüben. Diese Föderation wird sich auf einen Verfassungsvertrag zu gründen haben.43
Allerdings war in diesem Moment doch auch etwas Beschwichtigung nötig: Selbst für das finale Föderationssubjekt werde der Nationalstaat mit seinen kulturellen und demokratischen Traditionen unersetzlich sein, um eine von den Menschen in vollem Umfang akzeptierte Bürger- und Staatenunion zu legitimieren.
Dies sage ich gerade mit Blick auf unsere Freunde in Großbritannien, denn ich weiß, dass der Begriff 'Föderation' für viele Briten ein Reizwort ist. Aber mir fällt bis heute kein anderer Begriff ein. Es soll hier niemand gereizt werden. [...] Die Nationalstaaten werden fortexistieren und auf europäischer Ebene eine wesentlich stärkere Rolle behalten als dies die Bundesländer in Deutschland tun. Und das Prinzip der Subsidiarität wird in einer solchen Föderation künftig Verfassungsrang haben.44
Ein Jahr später nutzte der deutsche Bundespräsident Johannes Rau (1931–2006)[] seinen Auftritt vor dem Europäischen Parlament vom 4. April 2001 in Straßburg, um Korrekturen an unzutreffenden Vorstellungen vorzunehmen:
Die europäische Verfassung ist nicht der Schlussstein des europäischen Bauwerkes, sie muss zu seinem Fundament werden. Die europäische Verfassung sollte festlegen, dass Europa kein zentralistischer Superstaat wird, sondern dass wir eine 'Föderation der Nationalstaaten' aufbauen. Ich bin mir dessen bewusst, dass die Begriffe 'Verfassung' und 'Föderation' manchem in Europa suspekt erscheinen. Ist das aber nicht oft nur ein Streit um Begriffe?
Rau trat den Befürchtungen entgegen, dass man mit der Verfassung einen "Superstaat" und die Abschaffung der Nationalstaaten herbeiführen wolle. Wer für eine Föderation der Nationalstaaten eintrete, der wolle das direkte Gegenteil:
Wenn wir die Europäische Union als eine Föderation von Nationalstaaten wollen, dann verbessern wir die demokratische Legitimation für gemeinschaftliches Handeln und sichern zugleich den Nationalstaaten die Kompetenzen, die sie behalten wollen und sollen. [...] Niemand will die Nationalstaaten und ihre Souveränität beseitigen – im Gegenteil: Wir werden sie in all ihren Unterschieden noch lange brauchen als Garanten der Vielfalt in Europa. [...] Und gerade weil die europäische Entwicklung nicht hin zu einem Einheitsstaat läuft und nicht laufen soll, müssen wir ein Ordnungsprinzip finden, das diesem Willen entspricht, das unsere unterschiedlichen Traditionen wahrt und zugleich auf der Höhe der Zeit ist. Dieses Ordnungsprinzip ist die Föderation.45
Fazit
Angesichts der Streitfrage Staatenbund oder Bundesstaat schienen die Befürworter einer lockeren Staatenbund-Variante anfangs den Sieg davonzutragen. Mit den Jahren führten die hinzukommenden Integrationsschritte (vom Kompetenzausbau des Parlaments über die Schaffung der Unionsbürgerschaft bis zur Verabschiedung des Reformvertrags von Lissabon) jedoch dazu, dass die Europakonstruktion sich immer mehr in Richtung der Bundesstaats-Variante entwickelte. Der deutsche Außenminister Joschka Fischer dachte in diesem Zusammenhang gerne über die Finalitätsfrage nach. Nach seiner Freiburger Rede vom 30. Januar 2001 über "Die Zukunft Europas und die deutsch-französische Partnerschaft"46 wurde er gefragt, wann die Vollendung vollendet sein werde. Mit Blick auf die dialektale Färbung des Fragestellers antwortete er scherzhaft: "Wenn die Schweiz dabei sein wird." Die eigentlich nicht auf die äußere Entwicklung (die Erweiterung), sondern auf die innere Entwicklung (die Vertiefung) der Europäischen Union bezogene Frage muss wohl offen bleiben. Ob die Entwicklung nach dem Muster des bisherigen Integrationsfortschritts weitergehen oder ob es sogar zu Rückbildungen kommen wird, das wird die Zukunft weisen.