Die Geburt der Modernisierungstheorie aus der Nachkriegszeit
In seiner "klassischen" Fassung, die in den 1950er Jahren entstanden ist, fragte der Modernisierungsbegriff nach Entwicklungslogiken neuzeitlicher Gesellschaften. Er postulierte den Prozess einer gerichteten Entwicklung, im Verlauf derer die Gesellschaften sich aus dem Zustand der Traditionalität befreien und zunehmend Züge der Moderne annehmen. Mit "Modernisierung" ist ein ganzes Bündel von Prozessen gemeint; die wichtigsten sind Industrialisierung, Demokratisierung, Bürokratisierung und Säkularisierung. Moderne Gesellschaften werden also als industriell, demokratisch, von Bürokratien gesteuert und religionslos gedacht. Modernisierungstheoretische Ansätze gehen davon aus, dass diese Prozesse voneinander abhängig und ineinander verflochten verlaufen. Eine industrialisierte Gesellschaft muss demnach also auf die Dauer auch eine säkularisierte Gesellschaft sein; der Demokratisierung kann man der Theorie nach im Prozess der Modernisierung letztlich nicht entgehen.
Damit ist eine Denkrichtung bezeichnet, die im Grunde evolutionstheoretischer Provenienz war und in den meisten Umsetzungen auf das Parsons'sche Schema der Entwicklung moderner Gesellschaften zurückgriff. Umgekehrt hat sich auch der amerikanische Soziologe Talcott Parsons (1902–1979) selbst an der theoretischen Entfaltung des Modernisierungskonzepts beteiligt.1 Um eine konsistente Theorie im strikten Wortsinn handelte es sich nicht. Vielmehr versammelte sich unter dem Stichwort der Modernisierung (wenn damit nicht einfach ein alltagssprachliches Verständnis von Erneuerung gemeint war) ein ganzes Konglomerat von Ansätzen, die von langfristigen historischen Analysen sozialer Klassenbildung über Wirtschaftsverlaufstheorien bis zu empirischen Paneluntersuchungen zeitgenössischer politischer Kulturen reichen konnten.2 Gemeinsam haben diese Ansätze, dass sie in Entwicklungsstufen dachten, dass sie eine gerichtete Entwicklung mit höchstens temporären Rückfallmöglichkeiten annahmen, dass sie die Interdependenz der oben angesprochenen Basisprozesse postulierten und dass sie damit auf die Dauer eine Konvergenz von jetzt noch unterschiedlichen Gesellschaften annahmen. Das normative Zielbild der europäischen und nordamerikanischen Gegenwartsgesellschaft der Nachkriegszeit bildete die Hintergrundfolie, und nicht selten wurde Modernisierung mit Amerikanisierung in einen Topf geworfen.
Diese Theorie war zunächst vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs und der Entkolonisierung zu verstehen.3 Sie behauptete die historische Überlegenheit des westeuropäisch-amerikanischen Modells der kapitalistischen Demokratie über das osteuropäische, aber auch über das faschistische Modell der gelenkten, autokratisch verfassten Gesellschaft. Darüber hinaus war diese Theorie auch zu verstehen als eine Reaktion auf den zeitgenössischen Dekolonisierungsprozess. Sie erwartete einen Aufholprozess der Länder in der Dritten Welt, die zu "Entwicklungsländern", also zu sich auf die europäisch-nordamerikanische Moderne hin entwickelnden Ländern wurden. Aus diesem Grund waren modernisierungstheoretische Denkstile besonders bei den Agenturen der Entwicklungspolitik verbreitet. Sowohl was den Bezug auf die kommunistischen Länder als auch auf die Entwicklungsländer anbetraf, wohnte diesen Theorien also ein hoher prognostischer Anspruch inne. Sie verstanden sich nicht nur als historische Erklärungsversuche für vergangene Prozesse, sondern sie wollten auch mögliche und wünschbare Zukunftsszenarien beschreiben. Insofern waren sie niemals nur analytische Instrumente, sondern immer auch Anweisungen der Politikberatung. Die Modernisierungstheorie verstand sich als Blaupause für eine Politik, die alle Gesellschaften der Welt früher oder später auf den gleichen Stand bringen wollte.
Die Modernisierungstheorie entwickelte eine erhebliche Faszination, nicht zuletzt deshalb, weil sie eine Schablone für Entwicklung bereit stellte und eine optimistische, wenn auch letztlich vage Zukunftsvision verkündete. Schnell geriet sie aber auch in heftige Kritik, die vor allem die theoretischen Konstruktionen als in sich inkohärent und empirisch nicht plausibel angriff. Was sprach – außer der verführerischen Vorstellung von Gesellschaften in einem gleichgewichtigen Zustand der "Eurythmie"4 – dafür, dass all diese großen Prozesse ineinander verflochten sein sollten? Zeigte sich nicht in den USA eine geradezu dramatische Dissonanz zwischen ökonomischer Modernisierung und – etwa religiöser – Traditionsbindung, ja sogar der Neuerfindung von Traditionen? Waren nicht der Kommunismus und der Nationalsozialismus Beispiele für die Möglichkeit einer Entkoppelung der einzelnen Modernisierungsprozesse, etwa industrielle Produktivität und Demokratie? Wurde nicht dadurch die Tradition zu einer statischen Residualkategorie, die lediglich den Zweck hatte, die Moderne umso leuchtender abzuheben, aber historisch und aktuell traditionalen Gesellschaften alles andere als gerecht wurde?5 Kritiker wiesen darauf hin, dass sich Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf den Weg machten und deshalb voneinander lernen – führt nicht allein dieser exogene Faktor dazu, dass Modernisierungsprozesse unterschiedlich verlaufen?6 Ist am Ende die Modernisierungstheorie in ihrem heuristischen Horizont nicht auf die Zukunft gewandt, wie sie behauptet, sondern ausgehend von einem – amerikanisch gedachten – Ende der Geschichte eigentlich auf die Vergangenheit bezogen?7
Historische Verläufe
Unter dem Eindruck dieser Kritik modellierten auch modernisierungstheoretisch inspirierte Studien ihren Apparat. Der israelische Soziologe Shmuel Eisenstadt (1923–2010), der schon in seinen frühen Arbeiten wichtige Modifikationen an der Modernisierungstheorie angebracht hat und als "modernisierungstheoretischer Grenzgänger" (Wolfgang Knöbl) gelten kann, verfolgte in seinen Arbeiten Fragen des sozialen und politischen Wandels bis in die Großreiche des Altertums zurück. Er wies damit darauf hin, dass entscheidende Weichenstellungen schon weit vor der Wende zur Neuzeit geschehen seien.8 Darüber hinaus konnte er dadurch, dass er nach sozialen Gruppen wie städtischen Eliten und dem Militär und deren spezifischen Interessen fragte, Modernisierung viel mehr nach einem Konfliktmodell statt nach einem harmonistischen Modell, wie funktionalistische Zugänge es nahelegten, darstellen. Schließlich stellte er weit mehr als andere Arbeiten politische Strukturen und politische Systeme in den Mittelpunkt, was ihn in Distanz zu den meisten anderen Ansätzen brachte, die eher dazu neigten, dem ökonomischen Strukturwandel die Schlüsselfunktion zuzusprechen. Da historisch viele Reiche nicht nur auf-, sondern auch abgestiegen sind, konnte Eisenstadt auch über Entdifferenzierungsprozesse sprechen, die gegenüber den ansonsten recht linearen Vorstellungen kontingente Entwicklungen stärker in den Mittelpunkt rückten. In einer 1966 erschienenen Studie zu aktuellen Modernisierungsprozessen im Zusammenhang mit der Dekolonisierung wies er darauf hin, dass Modernisierung immer von Desorganisation und Protest begleitet sei, dass deshalb ein reibungsloses Aufholen der "Dritten Welt" nicht zu erwarten sei. In diesem Zusammenhang betonte er auch die entwicklungshemmende Rolle des Imperialismus und stellte somit die wohltätige Wirkung westlicher Intervention in Frage.9 Modernisierung war bei Eisenstadt alles andere als ein eurhythmischer Prozess, sondern ein Panorama von konflikthaften Auseinandersetzungen, bei denen es Sieger und Verlierer gab.
Allerdings verblieb auch Eisenstadt zunächst noch innerhalb der Denkfolie eines geteilten Endziels. Gerade bei historisch argumentierenden Arbeiten wie denjenigen des amerikanischen Soziologen Barrington Moore (1913–2005) wurde aber deutlich, dass dieses Ziel allein noch nicht viel bedeutete.10 Moores Studie über die sozialen Ursprünge von Diktatur und Demokratie interessierte sich für die Rolle des Agrarsektors im Verlauf der Modernisierung. Er argumentierte, dass Gesellschaften unterschiedliche Entwicklungspfade in die Moderne beschreiten könnten, die aus ihren je historischen Prägungen, aus Traditionen und deren Verarbeitung erwuchsen. Kommunismus, Faschismus und Demokratie waren für ihn solche unterschiedlichen Entwicklungspfade – geboren aus unterschiedlichen Strukturen der jeweiligen agrarischen Sektoren –, die mit je eigenen Strategien gesellschaftliche Rationalisierung erreichten, dann aber freilich in Konkurrenz untereinander gerieten. "Entwicklungspfade" und die daraus gewonnene "Pfadabhängigkeit" der Modernisierung von Gesellschaften wurden zu wichtigen Begriffen der Modernisierungstheorie und führten zu einer weitreichenden Differenzierung im evolutionstheoretischen Design. Für aktuelle normative Überlegungen konnte der Begriff bedeuten, dass eine Gesellschaft eben nicht alles genauso machen musste wie es die USA oder Westeuropa vormachten.
Besonders für deutsche Historiker ist die Vorstellung der unterschiedlichen Entwicklungspfade im Begriff des "Deutschen Sonderwegs" aufgehoben, und ihre Affinität zur Modernisierungstheorie ist bei aller Differenzierung, die sie anbrachten, überdeutlich.11 Der "Deutsche Sonderweg" meinte einen Rückstand an liberalen Werten, Toleranz, Bürgerlichkeit, ein Vertrauen auf den autoritären Staat und ein gebrochenes Verhältnis zu gesellschaftlichen Konflikten. Der Soziologe Ralf Dahrendorf (1929–2009) hat Mitte der sechziger Jahre die Distanz der Deutschen gegenüber der Demokratie und ihre Anfälligkeit für autoritäre Ordnungsmodelle in einem weithin rezipierten Buch dargelegt. Er betonte, dass trotz einer fortgeschrittenen ökonomischen Struktur die politische Moderne mit ihrer Offenheit für gesellschaftliche Differenz und dem Ertragen von Konflikten bis 1945 nicht wirklich akzeptiert worden sei. Gleichzeitig gestand er dem Nationalsozialismus zu, die politischen Mentalitäten der Deutschen durchgreifend verändert zu haben: "Der Volksgenosse verbietet die Wiederkehr des Untertanen; darin liegt sein spezifisch modernes Gesicht."12 Insofern hat Dahrendorf zufolge der Nationalsozialismus die deutsche Gesellschaft grundlegend modernisiert.
Diese von Dahrendorf angestoßene Diskussion wurde in den 1980er Jahren unter dem normativen Vorzeichen geführt, ob der Nationalsozialismus modern gewesen sei, und viele Diskutanten verstanden darunter die Frage, ob er ein Bestandteil einer von ihnen als gut verstandenen Moderne gewesen sei. Es fällt aus heutiger Perspektive auf, wie sehr diese Diskussion auf die positiven Seiten der Moderne verengt war, auf Demokratie und Partizipation, und wie sehr die dunklen Seiten der Moderne schlicht ausgeblendet wurden. Antisemitismus und die Ablehnung des Kapitalismus wurden so als "antimoderne" Einstellungen gerechnet, ganz zu schweigen von der Gewalthaftigkeit des Nationalsozialismus.13 Der deutsche Historiker Hans Mommsen (1930–2015) gab der Diskussion einen intentionalen Schub, als er den Nationalsozialismus als "vorgetäuschte Modernisierung" bezeichnete.14 Noch kein Wort war vom Zentralbefund der neueren Forschung zu lesen, dass gerade die entgrenzte Gewalthaftigkeit und der Ordnungswahn um jeden Preis den Nationalsozialismus als ein genuin modernes Phänomen auszeichneten.15 Die nationalsozialistischen Täter waren ja doch alles andere als antimoderne "Wüteriche"; sie hatten – jedenfalls galt das für die Köpfe der Vernichtung – eine gründlich moderne Vorstellung von der Gestaltbarkeit der Gesellschaft.16 Der blinde Fleck fällt umso mehr auf, als die Ambivalenz der Moderne bereits von einer der ersten theoretischen Verarbeitungen des Nationalsozialismus im deutschen Sprachraum betont worden war: Theodor W. Adornos (1903–1969) und Max Horkheimers (1895–1973) 1947 erschienene Dialektik der Aufklärung.
Revitalisierung und neue Kritik nach 1990
Mit dem Ende des Kommunismus hat die modernisierungstheoretische Debatte eine unerwartete Revitalisierung erlebt: Plötzlich schien es, als ob aller Kritik zum Trotz das Argument von der Überlegenheit des westlichen Modells doch recht behalten hätte. Für die DDR hat der Soziologe Mario Rainer Lepsius (1928–2014) das paradigmatische Argument vertreten, dass die Entdifferenzierung in der sozialistischen Gleichheitsgesellschaft Modernisierungspotentiale verschüttet hätte.17 In Osteuropa vollzogen die Reorganisation von Politik, Wirtschaft ebenso wie die Konzeption einer Zivilgesellschaft über weite Strecken Vorstellungen aus dem Westen nach. Jedoch zeigte sich bald, dass die Kongruenz nur oberflächlich war. Eigene politische Traditionen traten zutage, alte Eliten und Vorstellungen überlebten stärker als gedacht. Die Unterfütterung der Demokratisierung mit Wohlstand funktionierte vielfach nicht. In manchen osteuropäischen Gesellschaften, allen voran den Ländern der ehemaligen UdSSR, schälte sich ein autoritäres Modell heraus, das unter Berufung auf den Nationalismus eine ökonomische Modernisierung ohne grundlegenden politischen Strukturwandel anpeilte.18
Auch anderswo ist die Erkenntnis gewachsen, dass womöglich nicht nur unterschiedliche Entwicklungspfade, sondern auch unterschiedliche Ziele denkbar sind. Besonders in China hat sich vorbildhaft das Modell gezeigt, das auch in Russland sichtbar ist: Ein ökonomischer Strukturwandel mit einem teilweise rücksichtslosen Kapitalismus, dabei aber starken planwirtschaftlichen Elementen geht eben nicht mit Demokratisierung einher, sondern mit einer autoritären Steuerung und oftmals einer expliziten Bewahrung, ja Rekonfiguration von Traditionen, vor allem in religiöser Hinsicht. Die Interdependenz der Modernisierung unterschiedlicher Sektoren steht mithin in Frage. Die Verfechter solchen partiellen Wandels argumentieren, dass eine mehr oder minder gleichzeitige Modernisierung von Wirtschaft, Politik, Bildungswesen, Religion usw. die jeweiligen Gesellschaften überfordern würde. Sie verweisen auf ein Phänomen, das auch von Modernisierungstheoretikern selbst schon entdeckt worden war: dass nämlich gerade schneller Wandel verstärkten Traditionsbezug erheischt, weil erst der Wandel die Tradition möglich macht. Statische Gesellschaften haben eigentlich keine Traditionen, weil das Heute nicht wesentlich anders ist als das Gestern.
Das chinesische Modell spricht mithin nicht für eine einfache zeitliche Streckung des Wandels, also eine Verschiebung der Modernisierung einzelner Sektoren auf übermorgen. Vielmehr zeichnet sich hier ab, dass einzelne Sektoren extrem weit entwickelt sind, während andere ausgesprochen traditional sind. Strenggenommen war dies auch schon in Japan der Fall gewesen.19 Die Fragen nach dem Interdependenztheorem, die schon in den sechziger Jahren mit Blick auf die postkolonialen Länder gestellt wurden, wurden nun mit Blick auf die postsozialistischen Länder in Europa und die Schwellenländer in Asien, Afrika und Lateinamerika neu gestellt. Insofern haben gerade die Diskussionen im Gefolge der Auflösung des Ostblocks eine ganze Reihe empirischer Einwände gegen die Selbstläufigkeit modernisierungstheoretischer Konzepte ans Licht gebracht. Jóhann Páll Árnason (*1940), der aus einer marxistischen Perspektive modernisierungstheoretische Ansätze reflektierte, argumentierte gar, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion stärker kontingenten Faktoren denn einer systematischen Notwendigkeit zu verdanken gewesen sei.20 Nicht die westliche Moderne stünde dort vor der Tür, sondern ein kulturell spezifischer Weg.
Auch aus einer theoretischen Perspektive sind der Begriff der Moderne und der der Modernisierung in die Kritik geraten. Die Moderne kann nicht mehr ohne weiteres als eine "gute" Moderne gelten, seit die Verarbeitung der diktatorischen und der kolonialen Vergangenheit deren Gewalthaftigkeit herausgearbeitet hat. Der Soziologe Zygmunt Bauman (1925–2017) hat den Begriff der Ambivalenz der Moderne ins Spiel gebracht. Einerseits sucht die Moderne nach Klarheit, Stabilität und Durchschaubarkeit. Andererseits produziert sie eben dadurch Ausschluss, Verlierer, Instabilität und Undurchschaubarkeit. Sie leidet, wenn man so will, an ihrer eigenen Komplexität.21 Fast alle Konzeptionen der Moderne haben die Ambivalenz betont. Die neuere Max-Weber-Rezeption hat das "stahlharte Gehäuse der Hörigkeit"22, über das Weber (1864–1920) sprach, stärker betont als die Rationalisierungspotentiale, die von der älteren, an der klassischen Modernisierungstheorie orientierten Weber-Forschung noch in den Mittelpunkt gestellt worden waren.23 Michel Foucault (1926–1984) hat der Beobachtung der dunklen Seiten der Moderne – der Disziplinargesellschaft, der Verinnerlichung der Machtbeziehungen und der Zurichtung des Subjekts – zu unerhörtem Einfluss verholfen.24 Der französische Techniksoziologe Bruno Latour (*1947) hat der Moderne den unaufhebbaren Gegensatz von Natur und Gesellschaft attestiert. Sie produziere aus sich heraus Entfremdung, die unterstellte Rationalität der gesellschaftlichen Prozeduren führt, wie er in eindrucksvollen Feldstudien zur Entwicklung neuer Technologien gezeigt hat, zu Irrationalitäten.25 Das Exportprodukt Moderne war, wie er in Anlehnung an den deutschen Philosophen Peter Sloterdijk (*1947) ausführte, vor allem für "die Anderen" bestimmt: "Wir Europäer liebten die Globalisierung, solange wir diejenigen waren, die sie durchführten, doch nun, wo wir von den anderen globalisiert werden, finden wir das Ganze nicht mehr so lustig und schreien plötzlich nach Wurzeln, Mauern, Standorten, Nischen und, wie die Franzosen sagen, 'kulturellen Ausnahmen'."26 Damit nahm die Modernisierungskritik auch eine Kritik aus dem Kreis der postcolonial studies auf, die Modernisierung geradezu spiegelverkehrt als neokolonialistische Strategie deuteten, um den "Anderen" eine Entwicklung aufzuzwingen, deren wohlwollende Motive durchaus in Frage standen. In seinem weithin beachteten Buch Provincializing Europe hat der bengalische Südasienhistoriker Dipesh Chakrabarty (*1948) wie viele andere der Idee von einer universalen Entwicklungsidee nach dem Vorbild Europas eine Absage erteilt und diese in Kontrast zu autochthonen intellektuellen Traditionen nichtwestlicher Gesellschaften gestellt.27
Multiple Modernities
Freilich war dies eine Kritik, die man mit ganz ähnlichen Argumenten in dasselbe Schubfach wie die modernisierungstheoretische Kritik selbst einordnen könnte: als normativ und interessiert, hochgradig standortabhängig und mit politischem Bias. Die Modernisierungstheorie hat auf die vielfältigen Einwände mit einer Weiterentwicklung von Ansätzen reagiert, die durchaus im ursprünglichen Konzept aufgehoben waren, aber weniger zum Tragen kamen. Auch damit hängt es zusammen, dass die Publikationen zum Thema "Modernisierung" unvermindert sprießen. Ausweislich einer kurzen Katalogrecherche in großen deutschen Bibliotheken ist etwa die Hälfte der Bücher mit "Modernisierung" im Titel erst nach 2000 erschienen. Darunter befinden sich natürlich viele, die die Modernisierung von Immobilien oder von Verwaltungen meinen. Aber es sind auch viele theoretische Reflexionen, wissenschaftshistorische Kontextualisierungen sowie Lehrbücher erschienen, die die Diskussion der letzten fünfzig Jahre aufnehmen und den Begriff in eine unverkennbar neue Form gießen. Eine vielfach nachgeahmte Richtung haben schon Anfang der 1990er Jahre die niederländischen Soziologen Hans van der Loo (*1954) und Willem van Reijen (*1938) beschritten. Unter dem Eindruck der Kritik an der Gerichtetheit der modernisierungstheoretischen Konzepte, ihrer Standortgebundenheit und letztlich ihrem Ethnozentrismus haben sie eine Reformulierung der Modernisierungstheorie versucht, die die Ambivalenzen der Moderne stärker beobachten will. Sie verstehen Modernisierung als "einen Komplex miteinander zusammenhängender struktureller, kultureller, psychischer und physischer Veränderungen, der sich in den vergangenen Jahrhunderten herauskristallisierte und damit die Welt, in der wir augenblicklich leben, geformt hat und noch immer in eine bestimmte Richtung lenkt".28 In vier Makroprozessen, die ihrerseits paradoxe Folgen zeitigen, fassen sie die Modernisierung: Differenzierung, Rationalisierung, Domestizierung und Individualisierung. Diese Begrifflichkeit deutet indes sehr auf klassische makrosoziologische Strukturtheorien à la Parsons oder Niklas Luhmann (1927–1998) hin, und in der Tat hat ihre Vorstellung von Modernisierung etwas von einer allgemeinen Theorie moderner Gesellschaften.29 Sie betonen indes den ambivalenten – sie sagen: paradoxen – Charakter dieser vier Prozesse und lösen damit die vorgängige normative Färbung auf: Rationalisierung meint ja nicht nur, dass soziale Einheiten vernunftgesteuerter agieren, sondern auch, dass die Betriebsblindheit zunimmt und die je systemspezifischen Rationalitäten miteinander im Widerstreit geraten können. Domestizierung – ein Begriff, der unverkennbar der in den Niederlanden starken Elias-Rezeption verpflichtet ist – meint ja nicht nur, dass der Mensch sich die Natur untertan macht, sondern auch, dass eine neue Disziplinargesellschaft entstanden ist, in der die Menschen ihrerseits von Wissenschaft und Technik gelenkt werden und von Seiten staatlicher oder anderer Agenturen Verhaltenszwängen unterliegen.
Doch auch diese Reformulierung, so sehr sie auf die Ambivalenzen gerichtet und deshalb ausgewogener als die klassische Modernisierungstheorie war, stellte ebenso einen normativen Zugriff der Sozialwissenschaft dar, nur dass das Urteil über die Moderne jetzt nicht mehr "gut" oder "schlecht" lautete, sondern "sowohl als auch". Einer anderen Form der theoretischen Weiterentwicklung kann man jedoch einen deutlich höheren Abstraktionsgrad attestieren. Sie verbindet sich vor allem mit den Namen Anthony Giddens (*1938) und Ulrich Beck (*1944). Ihr wichtigster Begriff ist der der Reflexivität. Die Moderne, so der Soziologe Ulrich Beck, hat inzwischen einen Stand erreicht, in dem sie ihren eigenen historischen Standort ständig kritisch reflektiert.30 Reflexive Modernisierung denkt die Einwände und Folgewirkungen der durch sie angestoßenen Entwicklungen mit. Beck meinte diesen Begriff vor allem im Hinblick auf seine Epochenbeschreibung einer "zweiten Moderne". Der "ersten Moderne" sei es um die Produktion von Gütern und Wohlstand gegangen. Immer mehr aber schäle sich heraus, dass die Moderne inzwischen vor allem Risiken produziere. Diese Selbstbeobachtung in Form der Risikogesellschaft zeichne eine zweite, reflexive Moderne aus. Kritiken wie diejenige Chakrabartys wären also ihrerseits ein Produkt der Moderne. Sie seien ebenfalls ein Beitrag zur Modernisierung der – nun als Weltgesellschaft gedachten – Gesellschaft.
In ähnlicher Weise nimmt Shmuel Eisenstadts Begriff der "Multiple Modernities" die Kritik auf.31 Die Vielfalt vormoderner Gesellschaften wirke sich auch auf die Eigenart der modernen Gesellschaften aus. Eisenstadt wandte sich gegen das Theorem einer Konvergenz von Industriegesellschaften; die europäische Moderne sei nur ein mögliches Modell. Was aber war dann der gemeinsame Kern dieser verschiedenen Modernen, den es immerhin geben musste, wollte man den Begriff der Modernen überhaupt aufrechterhalten? Eisenstadt argumentierte, dass dieser in der radikalen Delegitimierung des Herkommens lag. Auch der islamische Fundamentalismus ist, trotz seiner konstanten Berufung auf eine angebliche Tradition, in hohem Maß eine neue und antitraditionale Bewegung. Dennoch, so Eisenstadt, beziehen sich viele der nichtwestlichen Entwicklungen prononciert auf westliche Erfahrungen und formen sie um. So hat er in den fundamentalistischen Bewegungen eine Wiederaufnahme der jakobinischen revolutionären Tradition gesehen, die nach ihrer Entstehung in der Französischen Revolution auch in den kommunistischen Bewegungen wichtig gewesen war. Selbst in der radikalen Abwendung von westlichen Modellen, so sein Fazit, steckt noch ein Bezug auf die westliche Moderne als Vorbild. Traditionen, so hat der Soziologe Andreas Langenohl (*1970) argumentiert, wissen um diesen Prozess der Delegitimierung. Sie werden sich deshalb gegen die Kritik wappnen, die sie früher oder später treffen wird.32 Das Argumentieren mit unhintergehbaren Wahrheiten wird auch für Religionen und andere als traditional gedachte Diskurszusammenhänge nicht mehr hinreichend sein, um sich zu behaupten: Auch die Traditionen werden in diesem Prozess reflexiv.
Die multiplen Modernen der "zweiten Moderne" werden insofern niemals als reine, voneinander abgrenzbare Typen auffindbar sein. Es ist mit Chakrabarty richtig, dass die europäische Moderne eine gewalthafte, kolonialistische Moderne war, die die autochthonen Traditionen unterdrückte und sie instrumentalisierte. Dennoch ist die europäische Moderne da, und auch in Indien oder Nigeria wird es nicht mehr möglich sein, diese Traditionen einfach abzustreifen. Die zweite Moderne besteht nicht nur aus multiplen Modernen, sondern auch aus hochgradig ineinander verflochtenen, hybriden und heterogenen Kulturen. Die Reflexivität der zweiten Moderne mag genau darin bestehen, diese Uneindeutigkeiten und Heterogenitäten anzuerkennen. Nimmt man diesen Gedanken ernst, dann können auch die postcolonial studies, so kritisch sie gegenüber den "westlichen" Modernisierungstheoremen sind, selber als ein Bestandteil reflexiver Modernisierung gedeutet werden: Sie sind ein Beispiel dafür, wie die Selbstbeobachtung von Gesellschaften immer damit rechnen muss, dass sie selbst beobachtet wird und sich so in einem kritischen Prozess wandeln muss.33
Die neueren Konzepte von Modernisierung zielen also auf die Beschreibung einer Moderne, die sich selbst als Moderne wahrnimmt und historisiert. Anthony Giddens beschreibt als zentrale Kennzeichen die Entflechtung der Raum-Zeit-Abhängigkeit (wie sie etwa die Echtzeitkommunikation über weite Strecken darstellt), die Entbettung von sozialen Systemen, die von räumlicher Interaktion unabhängig werden, die Globalisierung und die Zunahme der Selbstreflexivität: Damit sind geradezu paradigmatisch die inhaltlich-normativen Beschreibungen, die sich mit der klassischen Modernisierungstheorie verbanden, dispensiert. Es geht nicht mehr um einen wie auch immer gearteten Zusammenhang von Marktwirtschaft und Demokratie, sondern darum, dass Menschen über große Entfernungen miteinander kommunizieren können, und dass diese Möglichkeit sowohl für die Beschleunigung ökonomischer Beziehungen, für terroristische Aktivitäten wie auch für die Organisation neuartiger zivilgesellschaftlicher Institutionen nutzbar ist. Modernisierung bedeutet nicht mehr die Herstellung bestimmter ökonomischer Bedingungen mit Pioniergesellschaften und Nachzüglern, sondern das Bewusstsein vom kommunikativen Handeln unter jederzeit je anderen Kontexten. Vor allem setzt sich das Bewusstsein durch, dass eine Gesellschaft aus Beobachtungen besteht, und dass jede Reflexion eine weitere Reflexion generieren kann. So beschreibt die Systemtheorie Luhmanns die Moderne.34
Damit stellt sich allerdings die Frage, inwieweit der Begriff der Modernisierung überhaupt noch Trennschärfe besitzt. Denn zwischen einer im Fortschrittsparadigma gedachten, gerichteten und von ihren Inhalten her eindeutig zu beschreibenden Modernisierung, wie sie in den fünfziger Jahren aus den USA kam, und einer als plural, heterogen und hybrid gedachten Modernisierung, die sich durch die Delegitimierung von – dann ihrerseits reflexiv werdenden – Traditionen in einer Kommunikationsgesellschaft auszeichnet, ansonsten aber ungerichtet und vor allem normativ unspezifisch zu denken ist, bestehen nicht mehr viele Verbindungen. Eine Modernisierungstheorie, die hauptsächlich nach Rationalisierung, Differenzierung und Funktionen fragt, wird sich irgendwann zu einer Systemtheorie subsumieren lassen müssen, die höchstens in ihren frühen Formen als Spielart der Modernisierungstheorie gelten kann. Vielleicht wäre es angezeigter, mit dem Begriff "Modernisierung" ein Paradigma festzuhalten, das im Wesentlichen im Denkschema der fünfziger Jahre verbleibt, das vielleicht unterschiedliche Entwicklungspfade kennt, aber an einer Zielvision festhält. In diesem Sinn wäre die Modernisierungstheorie tot – jedenfalls theoretisch, denn praktisch wird der Begriff weiterhin unverstellt verwandt. Als Denkmodell für gesellschaftliche Entwicklungsprozesse wird man, gerade wenn man von der Weltgesellschaft her denkt, wenn man nach Differenzierung und Selbstreflexivität fragt, nicht mehr ohne weiteres mit dem Begriff argumentieren können. Denn dann wäre er nur ein anderes Wort für gesellschaftlichen Wandel.